1. Pariser Frieden

excideuil

unvergessen
Und ja, ich halte die Staatsmänner des Wiener Kongresses für "besser", "klüger" und "weiser" als deren Nachfolger in Versailles, das ist natürlich meine persönliche Ansicht.
Die aristokratischen Staatsmänner haben es 1815 geschafft, einen vormalig revolutionären Zustand der Mächte untereinander in ein allgemein anerkanntes System der Legitimität zu überführen. Selbst der Kriegsgegner Frankreich konnte sich darin wiederfinden zumal dieses Prinzip Frankreich vor weitergehenden Gebietsabtretungen schützte.
Im Thread zum Versailler Vertrag wurde ein paar Mal der Vergleich zum Pariser Frieden bzw. zum Wiener Kongress gezogen. In der Summe steht die These, dass die aristokratischen Staatsmänner ein besseres Ergebnis vorlegten als die Macher der Versailler Vertrages.

Kann man diese These so stehen lassen? Oder muss konstatiert werden, dass Staatsmänner aller Zeiten sich immer an den konkret bestehenden Bedingungen orientieren?

Ein gutes Beispiel ist der 1. Pariser Frieden:
Nach jahrelanger Dominanz des französischen Empire war dies besiegt. Die Alliierten England, Rußland, Österreich und Preußen standen schon vor dem Einmarsch in Paris vor der Frage, wie eine zukünftige Regierung Frankreichs und die künftige Ausdehnung des Landes aussehen aussehen sollte. Alle Verhandlungen mit Napoleon führten zu keinem Ergebnis.
Die Verträge von Chatillion und Chaumont führten zu dem Ergebnis, dass die Wiedereinsetzung der Bourbonen zweckmäßig sei, auch wenn sich die Alliierten sich nicht direkt in die Wahl einer "neuen" Dynastie mischen wollten. Wichtiger war die zukünftige Ausdehnung Frankreichs. Und diese wurde auf die Grenzen von 1792 festgelegt, was den Verlust der "natürlichen" Grenzen bedeutete.

Frankreich war besetzt. Die Bourbonen wurde wieder eingesetzt. Ein Waffenstillstand wurde geschlossen:
„Je größer die Anzahl der nach Paris zurückkehrenden Offiziere und Soldaten wurde, desto feindseliger wurde die Stimmung des Volkes gegen die fremden Truppen, ja sogar gegen die Souveräne. Man schob ihnen alle möglichen feindlichen Absichten unter. Dieser Hass wurde bedeutend verstärkt durch das Bekanntwerden der am 23. (April, Waffenstillstand) zwischen den verbündeten Mächten und Monsieur abgeschlossenen Übereinkunft, die man dem Publikum nicht gut vorenthalten konnte. Die Bedingungen waren allerdings recht hart. Frankreich hatte einwilligen müssen, in bestimmten Fristen alle außerhalb der französischen Grenzen vom 1. Januar 1792 gelegenen Festungen zu räumen – alles in allem 53, unter ihnen vier Festungen ersten Ranges: Mainz, Antwerpen, Mantua, Alessandria. Den Verbündeten mussten alle Artillerie-Depots und Munitionsvorräte übergeben werden – ein ungeheures Kriegsmaterial: 12000 Geschütze, darunter 11000 bronzene. Die französischen Truppen durften nur ihre Feldartillerie mitnehmen, und zwar auf je 1000 Mann 3 Geschütze.
In Bezug auf die Räumung des französischen Gebietes wurde bestimmt, dass sie von den verbündeten Mächten nach Maßgabe des Abzugs der französischen Truppen aus den ausländischen Festungen bewerkstelligt werden solle.
Nach diesen Vereinbarungen ließen sich die Bedingungen des endgültigen Friedensvertrages unschwer voraussehen. Man begreift, welche Unzufriedenheit durch das Bekanntwerden eines solchen Vertrages in den schon ohnehin missgestimmten Gemütern erregt werden musste. Da sieht man – hieß es – was wir durch die Rückberufung des Hauses Bourbon gewonnen haben!“ [6/Seiten 130-131]

Schon der Waffenstillstand zeigte, wie der Frieden aussehen würde. Ganz deutlich, die Bedingungen wurden durch die Alliierten festgelegt, Frankreich konnte nur gewisse Erleichterungen erreichen (Rückkehr der Kriegsgefangenen, baldiges Ende der Besetzung)

Dann war es Gewißheit, die "natürlichen" und damit die Rheingrenze waren verloren! Zwar musste Frankreich (noch) keine Kontributionen zahlen, auch die geraubten Kunstschätze blieben erhalten, aber die Rückstufung auf eine Macht zweiten Ranges drohte:

"In den Wintermonaten (1813/14) hatten Rußland und Preußen verlangt, die Verhandlungen mit Frankreich auf die Festlegungen der Grenzen dieses Landes zu beschränken und ihm im übrigen die Teilnahme an der Ordnung der kontinentalen Fragen zu verwehren." [4/ Seite 89]

Damit wird schon deutlich, dass man mit dem Verlierer nicht zimperlich umgehen wollte. Erhaltung als mögliches Gegengewicht sicherlich aber den von Napoleon hinterlassenen und aufzuteilenden Kuchen, ja, den wollte man unter sich teilen.

Und so finden sich in geheimen Artikeln der Pariser Vertrages bereits Regelungen auf die sich die Alliierten schon vor dem Wiener Kongress einigen konnten:
"Nun aber verlangten die Minister Österreichs und Preußens, dass schon im Vertrage Frankreich zur Anerkennung von weiteren "Grundlagen" gezwungen würde, um seinen späteren Einreden zu entgehen, und suchten Bestimmungen über die Festlandsordnung, soweit sie schon feststanden, in den Friedensvertrag zu bringen. In geheimen Separatartikeln musste Frankreich die Ausdehnung Österreichs bis zum Po und Tessin, das um Genua zu vergrößernde Sardinien, die Vereinigung Belgiens mit Holland und die Bestimmung des übrigen linken Rheinufers für Holland, Preußen und andere deutsche Staaten sowie die freie Schifffahrt auf Rhein und Schelde grundsätzlich anerkennen." [4/Seite 91]

Hätten sich die Alliierten bei allen Problemen einigen können, dann hätten wir sie wohl in den §§ des Pariser Friedens als Gesetz gefunden.

So aber sagte der Vertrag:
„Artikel XXXII. Innerhalb einer Frist von zwei Monaten werden alle Mächte, welche von beiden Seiten in den gegenwärtigen Krieg verwickelt waren, Bevollmächtigte nach Wien schicken, um auf einem Generalkongresse die Anordnungen zu treffen, welche die Verfügungen des gegenwärtigen Traktats vervollständigen müssen.“ [1][2/Seite 146]

Die Kröte für Frankreich:

Der erste geheime Artikel des Vertrages hat diesen Wortlaut:
„Artikel I. Die Verfügung über die Gebiete, denen Se. allerchristliche Majestät durch den 3. Artikel des öffentlichen Vertrages entsagt, und die Beziehungen, aus denen ein wirkliches und dauerhaftes System des Gleichgewichts in Europa hervorgehen soll, werden von den verbündeten Mächten auf den unter sich festgestellten Grundlagen und nach den in den folgenden Artikeln enthaltenen allgemeinen Bestimmungen geregelt werden.“ [3]

Talleyrand sagte es deutlich:
„…, und die geheimen Artikel des Vertrages sprechen es unverhohlen aus, dass die Teilung der uns wieder abgenommenen Länder unter den Mächten selbst, und zwar mit Ausschluss von Frankreich, stattfinden sollte.“ [2/Seite 156]

Und so stand er mit nichts als einem Prinzip den Mächten auf dem Wiener Kongress gegenüber:

„Ich verlange nichts, sondern bringe Ihnen etwas, und zwar etwas sehr Wichtiges: das geheiligte Prinzip der Legitimität.“ [7]

Vllt. noch mit dem Prinzip der Hoffnung:
"Dank dem Vertrag von Paris trat Frankreich als möglicher Faktor in dem Gleichgewicht auf. Zugegeben, es wurde zu dem Kongress nur hinzugezogen, um dessen Entscheidungen zu ratifizieren. Durch die Restauration war aber Frankreich ein "annehmbarer" Bundesgenosse geworden. Es gab keine "ideologische" Kluft mehr, die es vom Rest Europas trennte. Würde irgendeine Nation ein für sie ungünstiges Urteil hinnehmen, ohne vorher den Versuch gemacht zu haben, sich durch Annäherung an Frankreich eine stärkere Position zu verschaffen?" [5]

Machtpolitik ist kein "wünsch dir was". Zu keiner Zeit. Ein Friedensschluss ist die eine Sache, was daraus wird, kann nur die Zukunft zeigen. Im Fall des Pariser Friedens war von Vorteil, dass sich die Machtverhältnisse in Europa kaum änderten und Frankreich Zug um Zug in den Kreis der Großmächte wiederaufgenommen wurde. (Aachen 1818)

Dass die "natürlichen Grenzen" nicht vergessen sind, zeigt dieses Zitat:
Unglücklicherweise begann man nach dem Sturz Napoleons die Friedensverhandlungen mit den europäischen Mächten. Im vertrag von Paris vom 30. Mai wurde Frankreich in seine Grenzen von 1792 zurückgewiesen, von seinen revolutionären Eroberungen blieben ihm nur noch Savoyen, Avignon und Montbéliard. Belgien kam zu Holland, Venetien und die Lombardei wieder an Österreich; über die anderen Gebiete sollte auf einem Kongress in Wien entschieden werden. Zahlreiche Befestigungen in Deutschland, Italien und Belgien, vor allem Antwerpen und Hamburg wurden wieder aufgebaut mit einer beachtlichen Ausrüstung. Der Stolz der Franzosen war verletzt. Man sah in diesen Abtretungen, die in Wirklichkeit mit voller Zustimmung Talleyrands erfolgten, „das Trinkgeld, das die Bourbonen an die Alliierten zu entrichten hatten“; der Verlust der Eroberungen schien die Bedingung für die Wiederkehr der Monarchie zu sein.“ [8]
Eine Alternative zeigt Tulard allerdings auch nicht auf.

Grüße
excideuil

[1] Soden, J. Graf von: Archiv des Wiener Kongress, Bd.1, Nürnberg, 1815, Seite 87
[2] Talleyrand: „Memoiren des Fürsten Talleyrand“, herausgegeben mit einer Vorrede und Anmerkungen von Herzog de Broglie, Original Ausgabe von Adolf Ebeling, Köln und Leipzig, 1891-1893, Bd. 2
[3] Pappermann, Heinrich K.: Diplomatische Geschichte der Jahre 1813, 1814, 1815, F.A. Brockhaus, Leipzig 1863, Bd. 1, Seite 502
[4] Griewank, Karl: Der Wiener Kongress und die europäische Restauration 1814-15, Koehler & Amelang, Leipzig, 1954 (1942)
[5] Kissinger, Henry A.: Das Gleichgewicht der Großmächte Metternich, Castlereagh und die Neuordnung Europas 1812 – 1822, Manesse Verlag, Zürich, 1986, Seite 273
[6] Pasquier, Étienne Denis: Napoleons Glück und Ende – Erinnerungen eines Staatsmannes 1806 – 1815, Verlag von Robert Lutz, Stuttgart, 1907, Bd. 2, Seiten 130-131
[7] Günzel, Klaus: „Der Wiener Kongress – Geschichte und Geschichten eines Welttheaters“, Koehler & Amelang, München, Berlin, 1995, Seite 87
[8] Tulard, Jean: Napoleon oder der Mythos des Retters, Wunderlich, Tübingen, 1978, Seite 475
 
@excideuil: Im Thread zum Versailler Vertrag wurde ein paar Mal der Vergleich zum Pariser Frieden bzw. zum Wiener Kongress gezogen. In der Summe steht die These, dass die aristokratischen Staatsmänner ein besseres Ergebnis vorlegten als die Macher der Versailler Vertrages.

Ob das Ergebnis eines Kongresses besser oder schlechter ist ergibt sich meines Erachtens erst im weiteren Zeitablauf. Das direkte Ergebnis kann demzufolge erst später einer Bewertung unterzogen werden bezüglich der alles-entscheidenden Frage: „war es tragfähig?“. Zur Herstellung einer Tragfähigkeit bedarf es mehr Staatskunst als diplomatischer Finesse. Es wäre der Tragfähigkeit nämlich abträglich gewesen, wollte man Ergebnisse auf dem Weg der Manipulation erreichen. Taktische Erfolge während des Kongresses könnten später negativ auf das Gesamtwerk einwirken, Teilnehmer sich im nach hinein als übervorteilt fühlen und Friedensgespräche in Kriegsvorbereitungen enden.

Frankreich hatte zwar als Verlierer die Grenzen von 1792 akzeptieren müssen, aber dies entsprach im Groben dem status ante quo, den Grenzen des Königreichs. Frankreich gab nur das zurück, was es im Laufe der Revolution angesammelt hatte. Die Rheingrenze war – als Forderung der Revolution nach den „natürlichen Grenzen“ – passée. Von seinen revolutionären Eroberungen blieben ihm nur noch Savoyen, Avignon und Montbéliard – was schon einem Zugeständnis gleichkam, Frankreich nicht über diesen Verlust hinaus zu „strafen“. Für die Gebiete, die Frankreich zwischen 1792 und 1803 eroberte erhielten die deutschen Verlierer schon damals großzügige Kompensation durch den Reichsdeputationshauptschluß, also auf Kosten der Kirche. Über die Verteilung dieser befreiten Gebiete konferierte man jetzt, ein durchaus innerdeutsches Problem für dessen Lösung man Frankreich nicht benötigte. Da man staatlicherseits der Kirche 1803 finanzielle Zugeständnisse machte, kam ein umfassendes Revirement, also Herstellung der ursprünglichen Grenzen des HRRDN von 1792 gar nicht in Betracht, das Reich war tot. Erst als sich herausstellte, dass der Zar zum Lohn Polen behalten wollte, kam es zu Schwierigkeiten die man ohne französische Hilfe nicht lösen zu können meinte: Ein russisches Polen bedeutet Verlust der preußischen Provinzen im Osten, für die Preußen das Königreich Sachsen zur Gänze zu annektieren wünschte. Ersteres bedeutete eine Schwächung des europäischen Gleichgewichts durch Russland, Zweites ein Übergewicht Preußens in Deutschland. Beides wollte Metternich nicht hinnehmen. England, als natürlicher Bündnispartner in puncto europäisches Gleichgewicht, stand ihm zur Seite. Durch Hinzuziehung Frankreichs erhielt die Ablehnung Gewicht. Russland und Preußen konnten ihre Maximalziele jetzt nur noch militärisch gegen diese Koalition erreichen. Das wollte weder der König noch der Zar. Herausgekommen ist ein Kompromiss bezüglich der Aufteilung Polen und Sachsens mit dem alle Nationen leben konnten, sowohl im Hinblick auf den Erwerb als auch auf das Gleichgewicht der Kräfte in Europa und Deutschland.

Das Ergebnis des Wiener Kongresses – gemessen an der Tragfähigkeit der gefassten Beschlüsse – führte zu einem Zeitalter des Friedens der europäischen Nationen. Erst die Ablösung des dort zur Anwendung gekommenen Prinzips der Legitimität durch nationalistisches Gedankengut der Selbstbestimmung der Völker führte erst zu Kriegen Einzelner untereinander und mündete im Krieg Aller von 1914-1918. Die Tragfähigkeit des hiernach geschlossenen Friedens in den Pariser Vorortverträgen war im Gegensatz zu 1815 von sehr begrenzter Dauer.

@excideuil: Kann man diese These so stehen lassen? Oder muss konstatiert werden, dass Staatsmänner aller Zeiten sich immer an den konkret bestehenden Bedingungen orientieren?

Bedingungen bestehen immer und überall. Auch die Staatsmänner von 1815 bündelten ihre Bedingungen bevor sie in Klausur gingen. Die eigentliche Frage ist doch inwieweit Bedingungen sich aufweichen ließen zugunsten des Allgemeinen Friedens oder, ob man – sozusagen „bedingungslos“ – seinen Zielen nachging, auch unter dem Risiko eines Krieges? 1815 stellte der Zar die Bedingung auf „ganz Polen“ als Belohnung zu erhalten, was ihm, aufgrund der Tatsache dass Polen inzwischen russisch besetzt war, leicht fiel. Diese Bedingung zu relativieren, ohne Gesichtsverlust für den Zaren, erreichte Metternich.

Auch ergeben sich Bedingungen manchmal erst, an die man vorher nicht dachte: England war das Schicksal Polens ziemlich egal, auch im Hinblick auf die Annexion durch Russland. Erst als Castlereagh, dem Vertreter Englands beim Wiener Kongress, bewusst wurde, dass das europäische Gleichgewicht durch die Übermacht des Zaren in Gefahr geriet stellte er sich hinter Metternich. Die Sicherheit Englands lag in den Augen seines Londoner Kabinetts in der Freiheit der Scheldemündung und diese müsse, in seinen Augen, gegebenenfalls an der Weichsel verteidigt werden.

Die europäischen Staatsmänner von 1919 hielten eher starrsinnig an den Bedingungen fest, die sie von ihren Parlamenten, der Presse, dem Volk meinten auferlegt bekommen zu haben – ohne eigene oder neue Aspekte zu berücksichtigen. Wilson wurde regelrecht überspielt, die Meinung Deutschlands nicht gehört. Die USA haben den Vertrag bekanntlich nicht ratifiziert und Deutschland bekanntlich nicht innerlich akzeptiert. Das Vertragswerk von Versailles erwies sich als nicht tragfähig und beruhte auf der aktuellen Machtverteilung die sich änderte.
 
Das Ergebnis des Wiener Kongresses – gemessen an der Tragfähigkeit der gefassten Beschlüsse – führte zu einem Zeitalter des Friedens der europäischen Nationen. Erst die Ablösung des dort zur Anwendung gekommenen Prinzips der Legitimität durch nationalistisches Gedankengut der Selbstbestimmung der Völker führte erst zu Kriegen Einzelner untereinander und mündete im Krieg Aller von 1914-1918.

Das ist eine sehr romantische Vorstellung von Politikgeschichte, mE völlig abwegig. Solche Overall-Betrachtungen, die politiklastig Geschichte "erklären" und wirtschafts- und gesellschaftspolitische Dynamik (dadurch entstehende Stabilitäten wie Instabilitäten) völlig außer Acht lassen, scheinen derzeit en vogue zu sein.

Die Abwesenheit von Krieg nach 1848 in Europa - ganz abgesehen von der Länge des Zeitraumes - hat nichts mit Verträgen von 1815, sondern mit Machtkonstellationen, wechselnden Gleichgewichten und jeweiligen imperialen Zielsetzungen zu tun. Zudem europäische Kriege geführt wurden, wenn es gerade passend erschien, so1853, 1866 und 1870. Und den zuschauenden europäischen Mächten erschien es auch gerade passend, zuzuschauen.:devil:

Dass es 1914 zum allgemeinen Schlagabtausch kam, lag an den dynamischen Bündnisentwicklungen nach 1880. Dass es 1939 erneut dazu kam, lag an einer radikalen und ethnisch-aggressiven politischen Bewegung. An denen hatten ökonomische und gesellschaftliche Entwicklungen nach 1871 mehr Anteil als zu dem Zeitpunkt verstaubte Verträge von 1815.

Man sollte nicht alles über Bord werfen, was die Geschichtswissenschaft in den letzten Jahrzehnten mühsam analysiert hat.:fs:
 
@silesia: Das ist eine sehr romantische Vorstellung von Politikgeschichte, mE völlig abwegig. Solche Overall-Betrachtungen, die politiklastig Geschichte "erklären" und wirtschafts- und gesellschaftspolitische Dynamik (dadurch entstehende Stabilitäten wie Instabilitäten) völlig außer Acht lassen, scheinen derzeit en vogue zu sein.

Politik - im Sinne der Innenpolitik des Staates gegenüber seinen Staatsbürgern und Außenpolitik der Staaten untereinander ist nur dann langfristig erfolgreich, wenn sie wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklungen Rechnung trägt. Insofern berücksichtigt oder bekämpft Politik wirtschafts- oder gesellschaftliche Dynamik: Der Sehnsucht der Deutschen nach einem geeinten Deutschland wurde 1815 zugunsten des Gleichgewichts und des Legitimitätsprinzips eine Abfuhr erteilt. Die Deutschen flüchteten ins Biedermeier um 30 Jahre später ihre Forderungen, jetzt noch intensiver, zu wiederholen. Die Politik der Staatsmänner von 1815 bekämpfte diese Dynamik, weil man glaubte, dieser Dynamik Herr werden zu können, zur Not mit polizeilichen Mitteln. Dass man letztlich 1848 scheiterte sehe ich darin begründet, dass die solcherart angestauten Forderungen der Staatsbürger letztlich nicht für immer einzudämmen waren.

@silesia: Die Abwesenheit von Krieg nach 1848 in Europa - ganz abgesehen von der Länge des Zeitraumes - hat nichts mit Verträgen von 1815, sondern mit Machtkonstellationen, wechselnden Gleichgewichten und jeweiligen imperialen Zielsetzungen zu tun. Zudem europäische Kriege geführt wurden, wenn es gerade passend erschien, so1853, 1866 und 1870. Und den zuschauenden europäischen Mächten erschien es auch gerade passend, zuzuschauen.

Sind nicht die von dir angesprochenen Machtkonstellationen durch die Verträge von 1815 erst erreicht worden? Ist nicht der Krimkrieg im Hinblick auf das Gleichgewicht der Kräfte geführt worden? Könnte man nicht genau so den deutschen Krieg von 1866 dahingehend interpretieren, dass er bei seinem Ausbruch keiner europäischen Nation als Gleichgewichtsbedrohung erschienen ist?

@silesia: Dass es 1914 zum allgemeinen Schlagabtausch kam, lag an den dynamischen Bündnisentwicklungen nach 1880.

Ist oben Genanntes vielleicht auch zutreffend für den deutsch-französischen Krieg von 1870 – mit der entscheidenden Ausnahme, dass seine Ergebnisse in - puncto Reichsbildung - das Gleichgewicht nachhaltig störten? Wirtschaftlich betrachtet war auch die unterschiedliche Industriealisierung der europäischen Nationen ab 1850 gleichgewichtsstörend, was man in Wien nun wirklich nicht regeln konnte da unbekannt. Preußen erhielt doch die Rheinprovinz als Wachtposten gegen französische Ambitionen. Keiner konnte ahnen, dass sich hier das industrielle Herz Deutschlands herausbildete! Ausgehend von dieser übermächtigen Stellung Deutschlands in Europa, territorial, bevölkerungsmäßig und industrieller Potenz, setzten dann Bündnisentwicklungen ein, die im Weltkrieg mündeten.

@silesia:Dass es 1939 erneut dazu kam, lag an einer radikalen und ethnisch-aggressiven politischen Bewegung. An denen hatten ökonomische und gesellschaftliche Entwicklungen nach 1871 mehr Anteil als zu dem Zeitpunkt verstaubte Verträge von 1815.

Wie ist denn diese radikale, ethnisch-aggressive politische Bewegung des Faschismus entstanden? Natürlich nicht aufgrund verstaubter Verträge von 1815, aber aufgrund der frischen Verträge von 1919 und deren Einfluss auf die wirtschafts- und gesellschaftspolitische Dynamik der jungen deutschen Republik! Wieder durch die „politische Brille“ betrachtet: Der Einfluss des Versailler Vertrages auf die ökonomische und gesellschaftliche Entwicklung in Deutschland ist nicht zu übersehen. Politik legte den Grundstein für diese Entwicklung.
 
Kann man diese These so stehen lassen? Oder muss konstatiert werden, dass Staatsmänner aller Zeiten sich immer an den konkret bestehenden Bedingungen orientieren?
Frankreich hatte zwar als Verlierer die Grenzen von 1792 akzeptieren müssen, aber dies entsprach im Groben dem status ante quo, den Grenzen des Königreichs. Frankreich gab nur das zurück, was es im Laufe der Revolution angesammelt hatte. Die Rheingrenze war – als Forderung der Revolution nach den „natürlichen Grenzen“ – passée. Von seinen revolutionären Eroberungen blieben ihm nur noch Savoyen, Avignon und Montbéliard – was schon einem Zugeständnis gleichkam, Frankreich nicht über diesen Verlust hinaus zu „strafen“.
Richtig, Frankreich hatte zustimmen müssen. Aber entsprachen die Grenzen von 1792 tatsächlich der Notwendigkeit eines europäischen Gleichgewichts?
"In einem Geheimartikel zu diesen Verträgen (von Teplitz also weit vor Chaumont und Chatillion!) hatten sich die drei kontinantalen Mächte auf folgende Ziele verständigt: Die Wiederherstellung Österreichs und Preußens nach dem Maßstab von 1805; die Auflösung des Rheinbundes und die Unabhängigkeit der übrigen Staaten; die Wiederherstellung Hannovers; schließlich die einvernehmliche Regelung der Zukunft des Großherzogtums Warschau. Das zweite dieser Ziele wurde in einem zusätzlichen Geheimartikel präzisiert. Danach verpflichteten sich die vertragsschließenden Parteien, "ebenfalls als Gegenstand ihrer gemeinsamen Anstrengung zu betrachten": die Rückgabe der rechtsrheinisch von Frankreich annektierten Gebiete Deutschlands, also die sogenannte 32. Militärdivision entlang der Nordseeküste, und den Thronverzicht der französischen Prinzen in den napoleonischen Modellstaaten auf deutschem Boden, also im Großherzogtum Berg und im Königreich Westfalen. In der Präambel des Vertrages wurde darüber hinaus als allgemeiner Zweck des Krieges der "Wunsch" bezeichnet, "das Unglück Europas zu beenden und seine künftige Ruhe durch die Wiederherstellung eines gerechten Gleichgewichts der Mächte zu sichern"." [1]

Dies belegt, dass ein europäisches Gleichgewicht auch unter Belassung der Rheingrenze an Frankreich denkbar war und gleichzeitig, dass die Kriegsziele der Alliierten sich im Verlauf des Feldzuges dynamisch änderten.

Betrachten wir den Frieden selbst, dann muss angemerkt werden, dass die Zugeständnisse durchaus der "neuen" Dynastie der Bourbonen geschuldet waren, um ihr einen guten Start zu gewährleisten. Jede andere Kombination (Regentschaft, Bernadotte, Eugène, Duc d'Orleans) hätte sicher härtere Maßnahmen der Friedenssicherung zur Folge gehabt.

In der Summe bedeutet der 1. Pariser Frieden, dass Frankreich als Verlierer die von den Alliierten unter sich willkürlich festgelegten Bedingungen akzeptieren musste, nicht nur die räumliche Ausdehnung, sondern auch die Absicht der Alliierten, den von Napoleon hinterlassenen kontinentalen "Kuchen" unter sich zu teilen.

Grüße
excideuil

Sellin, Volker: Die geraubte Revolution – Der Sturz Napoleons und die Restauration in Europa, Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen, 2001, Seiten 75-76
 
@ Franz-Ferdinand

Ich hatte in den letzten Tagen wenig Zeit, daher erst jetzt näheres.

Die Grenzen von 1792 gehen auf die englische Politik zurück:

„Ende Dezember 1813 begab der britische Minister Castlereagh sich in das Hauptquartier, um selbst der Koalition den englischen Stempel aufzudrücken …
Er fand eine sehr zögerliche Koalition: „Wie die die österreichische nur zögernd die weiteren Operationen über den Rhein hinaus in Angriff nahm – wennschon nicht mit so ängstlicher Kritik wie der preußische König -, so bleiben auch Metternichs politische Ziele an der Westgrenze noch beschränkt. Castlereagh kam mit dem Willen, im Sinne Pitts nicht nur Holland, sondern auch Antwerpen, Belgien und – als Hinterland hierzu gedacht – einen Teil des linken Rheinufers von Frankreich wieder abzutrennen. …
Die Ziele der beiden deutschen Großmächte klafften auseinander, indem die eine den Blick nun zurück nach dem Osten, die andere voran nach dem Westen gerichtet… So fand sich Castlereagh schnell in einer Schiedsrichterrolle zwischen den beiden mitteleuropäischen Großmächten …
Schon in den ersten vierzehn Tagen seines Zusammenseins mit den Verbündeten Ministern gelang es Castlereagh, die unter sich uneinigen Kontinentalen einheitlich auf seine Linie zu bringen … und erreichte, dass in der ersten förmlichen gemeinsamen Beratung der Koalitionsminister in Langres am 28. Januar 1814 die Rückführung Frankreichs in seine alten Grenzen als Grundlage für alle weiteren Verhandlungen festgelegt wurde, wobei er dem widerstrebenden Metternich gern eventuelle Zugeständnisse für Frankreich in Savoyen und an der englandfernen elsässischen und lothringischen Grenze zubilligte. … Ohne Schwierigkeit vermochte Castlereagh die von Napoleon immer wieder angeregte Diskussion über das Seerecht aus allen Verhandlungen auszuschalten … [1/Seiten 68-71]

Deutlich wird eine sehr pragmatische Machtpolitik Englands. Und auch der Vertrag von Chaumont enthielt die Formel: „das Unglück Europas zu beenden, indem die zukünftige Ruhe durch die Errichtung die Errichtung eines gerechten Gleichgewichts der Mächte gesichert würde“. [2/ Seite 52]

Was kann ein Verlierer tun? Er kann sein Schicksal beklagen, sich in Schuldzuweisungen ergehen … Er kann aber auch sein „Schicksal“ annehmen.
Das Ziel Frankreichs konnte es daher nur sein, möglichst schnell einen Waffenstillstand und einen Frieden zu erreichen, um als Staat (Macht) wieder handlungsfähig zu werden. Ein Beharren auf den „natürlichen“ Grenzen wäre daher kontraproduktiv gewesen, hätte weder Vertrauen geschaffen, noch aus der politischen Isolation sondern nur zu noch schlechteren Bedingungen geführt. Und so konnte bereits am 30. Mai 1814 der Frieden unterschrieben werden. Neben der oben genannten „Kröte“ war auch etwas außenpolitisch Bedeutsames gelungen:
„Mehr als auf alles andere kam es Talleyrand darauf an, mit England alle Reibungspunkte zu beseitigen und einen Frieden von langer Dauer zu schließen … Nicht minder lag der englischen Politik an einer schnellen Bereinigung aller Differenzen zwischen Großbritannien und Frankreich; beide würden dann über vieles mit weit mehr Autorität sprechen können, schrieb der Londoner Ministerpräsident, der in dem Bourbonenreich den späteren kontinentalen Helfer sah.“ [1/Seite 87]

Auch wenn man diesen Ansatz „Helfer“, was im englischen Sinn maximal Juniorpartner bedeuten konnte, nicht überbewerten sollte, so war von französischer Seite die Voraussetzung geschaffen, unter günstigen Bedingungen eine Rolle auf dem kommenden Kongress spielen zu können, denn beide konnten als Schiedsrichter auftreten: England, weil seine territorialen Fragen bereits mit dem Pariser Frieden befriedigt waren und Frankreich, weil es nichts zu fordern hatte.

Dennoch blieb es für Frankreich bei dem Prinzip Hoffnung, denn die anschließende Londoner Konferenz fand ohne Beteiligung Frankreichs statt, auch die Vertagung des Kongresses und die Besuche von Castlereagh und Metternich in Paris machten deutlich, dass eine Rückkehr Frankreich in den Kreis der Großmächte auf Dauer nicht ausgeschlossen wurde, dennoch galt der Vertrag, dass die Regelungen über die eroberten Gebiete den Alliierten vorbehalten blieb.
Metternich machte deutlich: “Da wir uns in der Zwischenzeit, insofern es nicht schon bereits geschah, mit den deutschen Fürsten einverstanden werden und unsere Ausgleichung unter den Großmächten definitiv in London stattfinden wird, so wird dieser Kongress weniger zum Negoziieren als zum Unterfertigen bestimmt sein … [1/ Seite 96]

Dieser „Optimismus“ Metternichs war, wie sich zeigen sollte verfrüht, wie auch die windelweichen Regelungen des Vertrages von Teplitz Polen betreffend ihm noch auf die Füße fallen sollten.

Aber es bleibt der Widerspruch: Wenn Frankreich im Grunde als auf Dauer notwendige Großmacht erkannt wurde, dann ist es kein Ausdruck von „Weisheit“ oder „Klugheit“, wenn man gewillt ist, Frankreichs außenpolitische Interessen auf einem europaweiten Kongress zu negieren, sondern Ausdruck, dass sich die Mächte gegenüber Frankreich Vorteile verschaffen wollten und belegt, dass Politiker aller Zeiten immer auf Grund der Machtverhältnisse agieren und dabei immer die eigenen Interessen die erste Geige spielen.

Was deine Aussagen zum Wiener Kongress selbst angehen, kannst du sie gern in einem eigenen Thread darstellen. Ich werde dann gern antworten.

Grüße
excideuil

[1] Griewank, Karl: Der Wiener Kongress und die europäische Restauration 1814-15, Koehler & Amelang, Leipzig, 1954 (1942)
[2] Ilsemann, Alexandra von: Die Politik Frankreichs auf dem Wiener Kongress – Talleyrands außenpolitische Strategien zwischen Erster und Zweiter Restauration, Verlag R. Krämer, Hamburg, 1996
 
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