Läuterungsliste, was ist das konkret?

HenningM

Neues Mitglied
Hallo!
Ich stieß bei Wiki im Artikel zum Marquis de Sade auf folgenden Satz:

Zeitweilig übernahm er (d.i. de Sade) ein Richteramt, wurde Präsident der Section des Piques in Paris und rettete seine Schwiegereltern vor der Guillotine, indem er sie auf eine sogenannte „Läuterungsliste“ setzen ließ.

Nun finden sich im ganzen Netz - laut google - nur zwei Erwähnungen dieser ominösen Art von Liste(n), und beide verweisen auf den Artikel bei wikipedia.
Frage nun: War eine "Läuterungsliste" in der Revolutionszeit sozusagen eine offizielle Bestätigung, dass man sich gebessert und bewährt hat und infolgedessen als wieder eingegliedert in die grande nation werden konnte? Weclhe faktische Wirksamkeit hatte sie? (Bei d.S.s Schwiegereltern offenbar eine segensreiche, aber generell? Ist dazu Näheres bekannt?)
Für Hinweise wäre ich dankbar.
 
Danke

Hallo Isleifson!
Ich habe mir die Site angeschaut - insb. die Bilder sind cool.
Die Karikatur bzgl. des "marmite épuratoire" setzt Robespierre eine phrygische Mütze (auch noch neckisch) auf, was der ja gar nicht gerne gesehen hätte. :hmpf:

Also, habe ich das recht verstanden? Solche Listen waren keine Todeslisten a la Säuberungslisten im Stalinismus, aber auch keine Listen, auf denen sozusagen unter Vorbehalt "Wiedergeborene der Nation" aufgeführt waren, sondern eine Zusammenstellung derer, die gerade noch dem scharfen Messer entkommen waren und sich dieser Gnade würdig zu erweisen hatten? Standen solche Menschen unter Kontrolle verlässlicher Patrioten? :grübel:

Ferner hat es mich sehr gewundert, dass ein Mensch mit dem Vorleben wie de Sade - und dazu noch ein (zwar verstoßener, aber reinblütiger) Aristokrat zum Richter erhoben wurde. Machten die Revolutionäre also je nach Zeitpunkt Ausnahmen bei der Einschätzung, wer (potenzieller) Verschwörer, Staatsfeind u.ä. und wer eben nur das Pech gehabt hatte, im falschen Stand reingeboren zu sein?

Ich hoffe, das waren nicht zu viele Fragen. :winke:
 
Hallo Isleifson!
Ich habe mir die Site angeschaut - insb. die Bilder sind cool.
Die Karikatur bzgl. des "marmite épuratoire" setzt Robespierre eine phrygische Mütze (auch noch neckisch) auf, was der ja gar nicht gerne gesehen hätte. :hmpf:

Also, habe ich das recht verstanden? Solche Listen waren keine Todeslisten a la Säuberungslisten im Stalinismus, aber auch keine Listen, auf denen sozusagen unter Vorbehalt "Wiedergeborene der Nation" aufgeführt waren, sondern eine Zusammenstellung derer, die gerade noch dem scharfen Messer entkommen waren und sich dieser Gnade würdig zu erweisen hatten? Standen solche Menschen unter Kontrolle verlässlicher Patrioten? :grübel:

Ferner hat es mich sehr gewundert, dass ein Mensch mit dem Vorleben wie de Sade - und dazu noch ein (zwar verstoßener, aber reinblütiger) Aristokrat zum Richter erhoben wurde. Machten die Revolutionäre also je nach Zeitpunkt Ausnahmen bei der Einschätzung, wer (potenzieller) Verschwörer, Staatsfeind u.ä. und wer eben nur das Pech gehabt hatte, im falschen Stand reingeboren zu sein?

Ich hoffe, das waren nicht zu viele Fragen. :winke:

Ja, die Leute wurden von den Patrioten überwacht. Das der Eine oder Andere trotzdem ein Kopf kürzer gemacht wurde, liegt in der Natur der Sache.

Ja, an der Revolution waren auch Kleriker und Aristokraten beteiligt.

Die Wiki Seite über de Sade scheint mir etwas überholt. Sade hat zum Beispiel einige bedürftige Familien sein Leben lang unterstützt. Er hat nach einigen Versuchen seinen Wahn eher im Kopf ausgelebt.
 
Ja, die Leute wurden von den Patrioten überwacht. Das der Eine oder Andere trotzdem ein Kopf kürzer gemacht wurde, liegt in der Natur der Sache.

Ja, an der Revolution waren auch Kleriker und Aristokraten beteiligt.

Die Wiki Seite über de Sade scheint mir etwas überholt. Sade hat zum Beispiel einige bedürftige Familien sein Leben lang unterstützt. Er hat nach einigen Versuchen seinen Wahn eher im Kopf ausgelebt.

Über Kleriker und Aristokraten in der Revolution kann dir exci sicher mehr erzählen.
 
Ferner hat es mich sehr gewundert, dass ein Mensch mit dem Vorleben wie de Sade - und dazu noch ein (zwar verstoßener, aber reinblütiger) Aristokrat zum Richter erhoben wurde. Machten die Revolutionäre also je nach Zeitpunkt Ausnahmen bei der Einschätzung, wer (potenzieller) Verschwörer, Staatsfeind u.ä. und wer eben nur das Pech gehabt hatte, im falschen Stand reingeboren zu sein?
So verwunderlich ist das nicht. Ausgehend von der Tatsache, dass der Konflikt der Revolution zwischen Krone/1.und 2. Stand und auf der anderen Seite dem 3. Stand, bestand der Konflikt eben auch zwischen arm und reich, was sich in den Beschwerdeschriften zu den Generalständen zeigte, in denen die selben Klagen der Bauern gegen bürgerliche Grundherren wie gegen adlige Grundherren bzw. deren Verwalter zum Ausdruck kamen.
Und arm waren auch viele Aristokraten, einige schlossen sich der Revolution an.
Aus dem Gegensatz arm und reich resultierte dann oft, dass auch bürgerliche Reiche als "Aristokraten" angesehen wurden und es genügte schon, aristokratisch zu wirken oder abfällig zu reden, um denunziert zu werden.

In der franz. Revolution ist etwas festzustellen ist, was auch bei späteren Umwälzungen galt: ohne die alten Kader ging es nicht. Durch die Emigration waren viele militärische - in der Marine m.W. besonders dramatisch - Fachleute nicht mehr vorhanden. Daraus resultierte schon, dass die Verbliebenen nicht sinnlos zusätzlich verprellt werden konnten. Ähnlich in der Verwaltung.
Daneben spielte nach Abschaffung des Adels der alte Gegensatz nicht mehr die Rolle (Gleichheit).

Betrachten wir einige Namen: Mirabeau, La Fayette, den Herzog von Orléans, Barras oder die Robespierre-Brüder, dann war der Adel durchaus präsent - in meinen Augen auch kein Wunder, da gerade in den aristokratischen Salons die Ideen der Aufklärung eifrig diskutiert wurden und Anhänger fanden.

Schönstes Beispiel wohl das Föderationsfest am 1. Jahrestag der "Erstürmung" der Bastille: Der hochadlige Bischof von Autun (Talleyrand) liest die Messe, erfleht am Ende den Segen Gottes. Und tatsächlich, der wolkenverhangene Himmel klärt sich etwas, die Sonne wird sichtbar ... Dann schreitet mit gezücktem Schwert der "Held zweier Welten", der Marquis de La Fayette die Treppen zum Altar und nimmt der Nation den Schwur auf Nation, König, Verfassung ... ab und die riesige Menge ruft: "Je le jure!"

Und nicht zuletzt spielte - wie zu allen Seiten - das Vitamin B eine Rolle, Verbindungen haben schon immer nur dem geschadet, der keine hat.

Grüße
excideuil
 
Aristokraten

@ excideuil
(hat der nickname eine Bedeutung?)

Vielen Dank für die profunde Antwort. :yes:

Ja, es wundert(e) mich sowieso, wie schnell und mit welcher Macht (und Frechheit) nach dem 9. Thermidor, allerspätestens aber 1799ff. die monarchistische Reaktion sich zeigte. Vom skurrilen Schauspiel der jeunesse doree und Frerons Regie mal ganz abgesehen, zeugt dieses "Überwintern-Können" der Royalisten m.M.n. von einem, na ja, durch Macht- und Koalitionserwägungen hervorgerufenen Lavieren bzgl. der "Aristokraten" - aber immer mal unterbrochen durch Phasen von Radikalität, zB die akute Ausländerfeindlichkeit, der ja Cloots faktisch zum Opfer gefallen ist.
Ja, ja, ich merke, einen stringenten Verlauf der FR zu (re)konstruieren, das wäre ganz unhistorisch. Anscheinend wechselten die Fronten zwischen sehr lockeren Gruppen fast täglich. Und nur einige begnadete Okkasionalisten schafften es, dem Geschehen einen Schubs in die eine oder andere Richtung zu geben.

Ach ja, noch was. Du schreibst: "Und arm waren auch viele Aristokraten, einige schlossen sich der Revolution an." :grübel:
Das würde ich bezweifeln. Psychologisch plausibler wäre es, wenn GERADE die verarmte Edelschaft sich konservativ-reaktionär, um nämlich, wenn schon nicht materiell, so doch durch Privilegien (die auch der ärmste Graf oder "de" qua Geburt hatte) sich vom Volke zu unterscheiden. Außerdem denke ich nicht, dass die breite Masse der Edelleute auf dem Lande von aufklärerischen Ideen "infiziert" waren. Kann mich aber natürlich auch täuschen.

Beste Grüße
 
terreur

Danke für die Antwort!
Noch eines:
Ja, die Leute wurden von den Patrioten überwacht. Das der Eine oder Andere trotzdem ein Kopf kürzer gemacht wurde, liegt in der Natur der Sache.
Eine der vielen kleinen Schritte hin zum "Ausbruch" des Schreckens (1793-94 fiel ja nicht aus heiterem Himmel ins idyllische Frankreich.)
 
@ excideuil
(hat der nickname eine Bedeutung?)
Hat er. Der Person Ch. M. de Talleyrand gilt mein besonderes hist. Interesse. Aber der Nickname Talleyrand erschien mir dann doch auf meine Person bezogen unangemessen. In der langen Liste der Titel der Fam. Talleyrand-Périgord findet sich auch Marquis d'Excideuil. Das passte dann besser.
Ja, es wundert(e) mich sowieso, wie schnell und mit welcher Macht (und Frechheit) nach dem 9. Thermidor, allerspätestens aber 1799ff. die monarchistische Reaktion sich zeigte. Vom skurrilen Schauspiel der jeunesse doree und Frerons Regie mal ganz abgesehen, zeugt dieses "Überwintern-Können" der Royalisten m.M.n. von einem, na ja, durch Macht- und Koalitionserwägungen hervorgerufenen Lavieren bzgl. der "Aristokraten" - aber immer mal unterbrochen durch Phasen von Radikalität, zB die akute Ausländerfeindlichkeit, der ja Cloots faktisch zum Opfer gefallen ist.
Na, ja, so verwunderlich ist das nicht. Dem Adel mögen seine Titel und seine Vorrechte genommen worden sein, das Eigentum verblieb ihm (mit Einschränkungen für Emigranten): Artikel 17 der Erklärung der Menschenrechte: "Da das Eigentum ein unverletzliches und geheiligtes Recht ist, kann es niemandem genommen werden, es sei denn, dass die gesetzlich festgestellte öffentliche Notwendigkeit dies eindeutig erfordert und verher eine gerechte Entschädigung festgelegt wird."
Sofern der Adel also Besitz hatte und sich ruhig verhielt, konnte er auf "bessere Zeiten" hoffen und unstrittig düfte auch sein, dass der Royalismus noch länger tief verwurzelt war und so z.B. Bonaparte 1815 eine ganz bestimmte Route auf dem Weg nach Paris aufzwang.
Ach ja, noch was. Du schreibst: "Und arm waren auch viele Aristokraten, einige schlossen sich der Revolution an." :grübel:
Das würde ich bezweifeln. Psychologisch plausibler wäre es, wenn GERADE die verarmte Edelschaft sich konservativ-reaktionär, um nämlich, wenn schon nicht materiell, so doch durch Privilegien (die auch der ärmste Graf oder "de" qua Geburt hatte) sich vom Volke zu unterscheiden. Außerdem denke ich nicht, dass die breite Masse der Edelleute auf dem Lande von aufklärerischen Ideen "infiziert" waren. Kann mich aber natürlich auch täuschen.
Bezogen auf den verarmten Provinzadel (den "hobereaux" - deutsch fälschl. übersetzt mit Krautjunker) gebe ich dir natürlich recht. Diese Adligen lebten "so nahe am Existenzminimum, dass ihnen nur noch der verblichene Glanz ihres aristokratischen Namens Selbstbewußtsein verlieh. Dieses war entsprechend übersteigert. Es war ihnen unmöglich, den Adelsstand als solchen in Frage zu stellen, und was blieb, war anmaßendes Auftreten gegenüber den von ihnen abhängigen Bauern." [1] Die Abwälzung der Belastungen nach unten durch den Provinzadel war Mitauslöser der "Grande Peur" im Sommer 1789.

Aber diese armen Adligen sind nicht gemeint.
Der Gegensatz von arm und reich durchzog nicht nur Frankreich sondern auch den Adel und selbst Frankreichs 1. Familien. Nur der erstgeborene Sohn war Erbe des Namens und des Vermögens, der Rest musste mehr oder minder zusehen. Und so nimmt es nicht Wunder, dass "Mitglieder des Adels - die allerdings zum Teil mittellos waren wie der Vicomte de Noailles - [] bei dieser sogenannten Abschaffung der Feudalrechte [Nacht zum 4. und 5. Aug. 1789] mit Anträgen voran [gingen] und leisteten den [...] längst fälligen Verzicht auf Vorrechte, die ohnehin unhaltbar geworden waren." [2]

Der Name Noailles ist nicht unbekannt, wie auch der Name Talleyrand-Périgord. Der Vater von Ch. M., Charles-Daniel Comte de Talleyrand, Mitglied des Hochadels, Gen-Ltn., vom König mit "Vetter" angesprochen war arm. Sicher ist arm relativ, aber immer dann prekär, wenn sie von der Gunst des Monarchen abhänig war. Ob angeboren oder Unfall, sein erstgeborener Sohn Charles Maurice war ein Krüppel, sein rechter Fuß war mißgebildet, der berühmteste Talleyrand war zeitlebens an den Gehstock gebunden. Mit Folgen: Die Rechte des Erstgeborenen gingen an seinen jüngeren Bruder Archambaud, ihm selbst blieb nur der Weg innerhalb der Kirche. Sicherlich bevorrechtet, denn er wurde Bischof von Autun, dennoch nicht seinen Neigungen entsprechend. Und so finden wir ihn in den Generalständen, bei der Erstellung der Erklärung der Menschenrechte. Den Artikel 6 hat er erstellt und auch durchgesetzt: "Das Gesetz ist der Ausdruck des allgemeinen Willens. Alle Bürger haben das Recht, persönlich oder durch ihre Vertreter an seiner Gestaltung mitzuwirken. Es muss für alle gleich sein, mag es beschützen oder bestrafen. Da alle Bürger vor ihm gleich sind, sind sie alle gleichermaßen, ihren Fähigkeiten entsprechend und ohne einen anderen Unterschied als den ihrer Eigenschaften und Begabungen, zu allen öffentlichen Würden, Ämtern und Stellungen zugelassen."

Was heute banal klingt, war damals politischer Sprengstoff. Sein persönliches Interesse, das Auflehnen gegen familienpolitische Maßnahmen wurde Gesetz.

Grüße
excideuil

[1] Michael Erbe: Die gesellschaftlichen Konflikte und der Ausbruch der Französischen Revolution, in :
Malettke, Klaus (Hrsg): Soziale und politische Konflikte im Frankreich des Ancien Régime – Einzelveröffentlichungen der Historischen Kommission zu Berlin Bd. 32, Colloquium Verlag, Berlin, 1982, Seite 114
[2] M. Erbe, a.a.O. Seite 121
 
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