Hammerstein oder der Eigensinn. Eine deutsche Geschichte

ursi

Moderatorin
Teammitglied
Ein großes Werk über die verhängnisvollste Periode der deutschen Geschichte und über die herausragende Gestalt eines Mannes, dessen Biographie bislang nicht geschrieben wurde. Hans Magnus Enzensberger hat die Geschichte des Generals Kurt von Hammerstein aus allen erreichbaren Quellen recherchiert und entfaltet sie in einem Genre, das er beherrscht wie kein zweiter: im dokumentarischen Roman.
Kurt von Hammerstein war Chef der Reichswehr, ein Grandseigneur, ein unerschütterlicher Gegner des Nationalsozialismus, ein unbestechlicher Zeuge des Untergangs seiner Klasse, des deutschen Militäradels. Seinen Abschied nahm er, nachdem Hitler seine Weltkriegspläne 1933 in einer Geheimrede offengelegt hatte.
Aber es geht auch um die Lebensläufe seiner Frau und seiner sieben Kinder: gezeichnet von den Katastrophen des 20. Jahrhunderts, von Verrat, Widerstand, Spionage und Sippenhaft. Und nicht zuletzt geraten jene Personen ins Fadenkreuz, die zu einem gefährlichen Doppelleben gezwungen waren: vom letzten Reichskanzler der Weimarer Republik über die Agenten der KPD bis zu jener Drogistin, die in Kreuzberg Deserteure und Juden versteckte.

Hammerstein ist nach Der kurze Sommer der Anarchie und Requiem für eine romantische Frau Enzensbergers dritter dokumentarischer Roman, in dem die Selbstbehauptung des Einzelnen gegenüber kollektiven und autoritären Zumutungen im Zentrum steht. Für dieses Buch hat der Autor die Archive von Moskau bis Berlin, von München bis Toronto befragt. Doch behält für ihn das Dokument nicht das letzte Wort. In einem vielfältigen Werk verbindet sich erneut die Recherche mit der Freiheit des Autors, sich der historischen Wirklichkeit auch über Fiktionen zu nähern.

Hans M. Enzensberger • Hammerstein oder der Eigensinn. Eine deutsche Geschichte • Suhrkamp •2008 • 375 Seiten
 

Anhänge

  • 31dCQ3kSIdL__AA240_.jpg
    31dCQ3kSIdL__AA240_.jpg
    6,8 KB · Aufrufe: 1.283
Rezension der NZZ am Sonntag vom 3.2.08

Hans Magnus Enzensberger: Hammerstein
oder Der Eigensinn. Eine deutsche
Geschichte.
Von Michael Braun
Dieser General hätte den verhängnisvollsten
Moment der deutschen
Geschichte vielleicht noch abwenden
können. Aber der am 29. Januar 1933 ins
Auge gefasste Staatsstreich der Reichswehr
gegen den greisen Reichspräsidenten
Paul von Hindenburg fand nicht
statt; ebenso wenig wie die Verhaftung
des neuen Reichskanzlers Adolf Hitler.
Der Chef der deutschen Heeresleitung,
Kurt Freiherr von Hammerstein-Equord,
blieb so zögerlich wie die übrigen militärischen
Akteure und politischen Strippenzieher
der Weimarer Republik – eine
Handlungshemmung mit fatalen Folgen.
Der 30. Januar 1933 besiegelte den Selbstmord
der fragilen Weimarer Demokratie
und bereitete den Boden für den verheerendsten
Krieg der Weltgeschichte.
Kurt von Hammerstein, den Abkömmling
aus westfälischem Uradel, hat die
Geschichtswissenschaft bislang kaum
als einen Schlüsselakteur im Vorfeld
der nationalsozialistischen Machtergreifung
wahrgenommen. Er galt als
Nebenfigur auf der Bühne machtpolitischer
Ränkespiele, ein politisch kaum
profilierter Kopf aus dem Freundeskreis
um Kurt von Schleicher, den letzten
Reichskanzler der Weimarer Republik.
Hans Magnus Enzensberger hat nun in
einer ungeheuer fesselnden, zwischen
Fakten und Fiktion changierenden
Erzählung die historische Bedeutung
Hammersteins neu bestimmt. In seiner
biografischen Spurensicherung, die
aus Interviews, Memoiren, historischen
Studien, Glossen und fiktiven Totengesprächen
eine weit verzweigte Familiengeschichte
webt, inszeniert Enzensberger
die Lebensgeschichte des Generals
als exemplarische deutsche Tragödie.
Dabei geht es um weit mehr als nur den
Aufstieg und Sturz eines preussischen
Offiziers, der sein Verständnis von Loyalität
und Ehrgefühl gegen den neuen
Despoten Hitler verteidigen wollte.
Von Hitler und Stalin verfolgt
Enzensberger führt auch mitten in
Glanz und Elend des antifaschistischen
Widerstands, indem er an der Familiengeschichte
der Hammersteins die
Selbstzerstörung der kommunistischen
Utopie veranschaulicht. Zwei Töchter
Hammersteins hatten sich nämlich früh
den Kommunisten angeschlossen und
waren mit KPD-Aktivisten liiert, die als
Agenten der Sowjetunion tätig waren.
Marie Luise und Helga von Hammerstein
sorgten dafür, dass geheime Dokumente
aus dem Schreibtisch ihres Vaters in
die Hände sowjetischer Geheimdienste
gelangten. Die zwei jüngsten Söhne des
Dokumentarischer Roman Hans Magnus Enzensberger berichtet auf fesselnde Weise von
der Geschichte eines deutschen Generals als einer exemplarischen antifaschistischen Tragödie
Glanz und Elend des Widerstands
Generals waren später in die Vorbereitungen
auf Stauffenbergs Attentat vom
20. Juli 1944 einbezogen und entgingen
nur knapp den Häschern der Gestapo.
So spiegelt die Familiengeschichte dieses
deutschen Generals nicht nur das
Versagen der militärischen Eliten vor
Hitlers Herrschaftsanspruch, sondern
dokumentiert auch die Hybris der linken
Intelligenz, die den kommunistischen
Freiheitsversprechen folgte und in den
Folterkellern Stalins unterging.
Vor nunmehr 35 Jahren hat Enzensberger
seine Technik der faktografischen
Montage schon einmal erprobt. Damals
rekonstruierte er in «Der kurze Sommer
der Anarchie» die Lebensgeschichte des
spanischen Anarchisten Buenaventura
Durruti. In seinem Hammerstein-Buch,
das gattungsmässig mehr der Biografie
als dem dokumentarischen Roman
zugerechnet werden kann, schreibt er
nun jene Geschichte der Selbstdestruktion
der Linken fort, die er einst im Blick
auf den Spanischen Bürgerkrieg begonnen
hatte. Die jüdischen Weggefährten
der Hammerstein-Töchter wurden zu
tragischen Opfern im Kampf gegen den
Nationalsozialismus. Werner Scholem,
der Freund Marie Luises, wurde aus
der KPD ausgeschlossen und 1940 im
KZ Buchenwald erschossen; Leo Roth,
die grosse Liebe Helgas, wurde 1936 in
Moskau verhaftet und kurz darauf in der
Ljubjanka, der Zentrale des russischen
Geheimdienstes, ermordet.
Das nationalsozialistische Deutschland
forcierte derweil die brutale Politik
der Gleichschaltung. Obwohl er aus seiner
Abneigung gegenüber Hitler keinen
Hehl machte, entging Hammerstein 1934
– anders als sein Freund Schleicher –
der Ermordung durch die SS. In einer
Geheimrede vor hochrangigen Militärs
in der Dienstwohnung Hammersteins
hatte Hitler bereits am 3. Februar 1933
die «straffste autoritäre Staatsführung»
und die «Eroberung neuen Lebensraumes
im Osten» als vorrangige Ziele
proklamiert. Der General gab daraufhin
seine Position als Chef des Heeres auf,
ohne sich je mit den Machthabern zu
arrangieren.
Meisterliches Werk
Diesem politischen «Eigensinn» zollt
Enzensberger Respekt. Es ist die grosse
Stärke seiner Lebenserzählung, dass
sie auf posthume Besserwisserei verzichtet
und stattdessen die Dokumente
sprechen lässt. Selbst die fiktiven Totengespräche,
in denen der Autor seine historische
Phantasie mobilisiert, bleiben
den Fakten verpflichtet und zeigen sich
immun gegen alles Spekulative.
Als überaus verlässlicher Faktensammler
nennt Enzensberger die reichen
Quellen, aus denen er schöpfen
konnte. Die Materialien zur Geschichte
des kommunistischen Widerstands verdankt
er im wesentlichen den Studien
des Historikers Reinhard Müller, der
vor einigen Jahren die Verstrickungen
des SPD-Politikers Herbert Wehner in
die stalinsche Mordmaschinerie enthüllt
hat. Den eigentlichen Stoff für sein
Hammerstein-Projekt fand Enzensberger
in einem Exposé des anarchistischen
Sozialrevolutionärs Franz Jung. Mit
dem ewigen Renegaten Jung verbindet
Enzensberger eine heftige Abneigung
gegenüber Heldenlegenden. So arbeitet
auch sein meisterliches Buch über Hammerstein
nicht an einer Heldenlegende.
Sondern an der nüchternen Kunst der
historischen Desillusionierung.
 
Zurück
Oben