"Frostige" Volkszählung

Lukullus

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Bin gerade über einen Artikel in "Bild der Wissenschaft" vom 23.06.2015 gestolpert, wo, wie ich es verstehe, ein interessanter Ansatz einer finnischen Studie bezüglich potentieller Bevölkerungsdichten für Europa während der Eiszeit (30.000-13.000) vorgestellt wird, der wohl klar über das hinaus reichen soll, was bislang entlang archäologischer Funde vermutet wird. Die finnischen Forscher haben mit Hilfe einer klima-basierten Modellierung gearbeitet.

Hier der bdw-Link:
Volkszählung unter Eiszeit-Menschen - bild der wissenschaft
Eine kostenpflichtige (?) Veröffentlichung der finnischen Studie:
Human population dynamics in Europe over the Last Glacial Maximum

Bin selbst (noch) gar nicht mit diesem Aspekt vertraut, doch vielleicht ist es ja für die eine oder andere Diskussion hier von Interesse.
 
Soweit ich den Artikel verstanden habe, geht das Berechnungsmodell von der Annahme aus, dass so viele Menschen in Europa lebten, wie theoretisch maximal leben konnten, also so viele, wie z. B. theoretisch ernährt werden konnten. Das wäre wohl erstmal zu hinterfragen.
 
Soweit ich den Artikel verstanden habe, geht das Berechnungsmodell von der Annahme aus, dass so viele Menschen in Europa lebten, wie theoretisch maximal leben konnten, also so viele, wie z. B. theoretisch ernährt werden konnten. Das wäre wohl erstmal zu hinterfragen.

Ich sehe es auch so..
Eine Volkszählung gab es unter den Eiszeitmenschen garantiert nicht. Um die Anzahl der zu dieser Zeit lebenden Menschen herauszufinden, ist im exakten Sinne nicht - oder kaum nachzuvollziehen. Villt. findet die Wissenschaft die Anzahl der Menschen evtl. annähernd nach dem Berechnungsmodell eines Tages mal heraus?
Aber eine exakte Anzahl der Menschen wird wohl nicht zu ergründen sein, denk ich.
 
Zuletzt bearbeitet:
Ich finde den Ansatz gut, aber die Schlagzeile naturgemäß falsch. "Bild der Wissenschaft" ist natürlich daran interessiert, dass die Artikel gelesen und deshalb das Heft gekauft wird. "Volkszählung unter Eiszeit-Menschen" zieht natürlich mehr Leser als "Wievielen Menschen maximal bot Europa in der Eiszeit einen Lebensraum?".

So gut der Ansatz ist, hat er natürlich auch ein systematisches Problem: Es kommt sehr auf den Grad der Anpassung an das Klima an, wie groß eine Bevölkerung werden konnte.

Den Ansatz, Bevölkerungszahlen auf Grund archäologischer Funde zu schätzen, halte ich für wesentlich schwächer. Das Beginnt mit dem Problem, dass sich Funde von Kadavern (z.B. Menschenleichen, Hütten, Kleidung, Utensilien aus nachwachsenen Materialien, ...) im Freien an Orten mit starker biologischer Aktivität wohl selten so lange halten werden. In Natur-Höhlen mag man noch was finden. Höhlen sind aber selten und waren sicherlich immer nur ein verschwindend kleiner Anteil der Behausungen.
 
Soweit ich den Artikel verstanden habe, geht das Berechnungsmodell von der Annahme aus, dass so viele Menschen in Europa lebten, wie theoretisch maximal leben konnten, also so viele, wie z. B. theoretisch ernährt werden konnten. Das wäre wohl erstmal zu hinterfragen.
Nach den Supplementary Informatiosn war die Methodik schon komplexer:

  1. Aus ethnographischen Informationen heraus wurde der Zusammenhang zwischen Trinkwasserverfügbarkeit, Höchst-/Niedrigtemperaturen, Ernährungsweise (terrestrisch vs. maritim) und Bevölkerungsdichte ermittelt. Da geht implizit das Nahrungsangebot mit ein - zwar ohne Mammuts, aber ansonsten wohl relativ gut von heute (bzw. vor ein-, zweihundert Jahren) auf "damals" übertragbar. Die genutzte Datenbank ist ziemlich umfangreich, und beinhaltet viel Sibirien, Inuit, und indigene Nord-/ Südamerikaner.
  2. Zur Modellierung wurden sechs verschiedene Verfahren, von Regressionsanalysen bis zu KI-basierten stochastischen Methoden, verwendet. Die Verfahren wurden mit zufällig ausgewählten Teilen der ethnographischen Datenbank trainiert und kalibriert, und anschließend mit anderen ethnographischen Daten validiert. Dies geschah für jedes Verfahren fünfhundert Mal. Alle Verfahren erklärten 50-62% der vorhandenen Varianz auf 95-99% Signifikanzniveau* (was nebenbei zeigt, dass der theoretische Ansatz generell ethnologisch tragfähig ist). Welches Verfahren im Endeffekt gewählt wurde, steht leider nicht in der SI.
  3. Als Test wurde das Modell zunächst, mit afrikanischen und asiatischen Daten, auf Australien vor Ankunft der Europäer angewandt, für das wohl relativ gute Abschätzungen vorliegen. Dort führte das Modell tendenziell zu Unterschätzung. V.a. wurde der Einfluß der Trinkwasserverfügbarkeit überschätzt - trockene Regionen Westaustraliens ließ das Modell siedlungsleer, obwohl dort Aborigines lebten und z.T. wohl immer noch leben. Insgesamt zeigte der australische Test das Modell als recht zuverlässig, wenn auch etwas konservativ, d.h.zur Unterschätzung neigend.
  4. Die Prognosen für die Eiszeit wurden auf Basis dreier unterschiedlicher Klimamodelle durchgeführt, die zwar regionale Unterschiede (v.a. Besiedlung Bikayaküste und Südukraine) zeigten, aber grundsätzlich ähnliche Ergebnisse ergaben. Zusätzlich wurde noch ein Szenario mit teilsesshafter Bevölkerung (belegt u.a. für Südgriechenland) gerechnet, daß zu deutlich höheren Bevölkerungswerten führte (200.000 beim LGM, 700.000 vor 13.000 Jahren).
  5. Die vom Modell ermittelten Daten wurden mit den aus dem archäologischen Befund ermittelten verglichen. Leztere wurden taphonomisch, d.h. in Bezug auf klimatisch zu erwartende Erhaltungswahrscheinlichkeiten, korrigiert. Zu dieser Korrektur fehlen Erläuterungen in den SI (vielleicht stehen sie im Haupttext?). https://de.wikipedia.org/wiki/Fossilisation
    Die so korrigierte, archäologisch basierte Schätzung zeigt ähnliche Trends wie die klimabasierte Projektion. Größere Abweichungen gibt es v.a. kurz nach dem LGM, d.h. um 21.000 BC, und zwischen 18-14.000 BC. In diesen Phasen lag der Meeresspiegel sehr viel tiefer. Da das Modell v.a. küstennahe Bevölkerungskonzetration anzeigt, dürften mägliche archäologische Spuren heute meist unter Wasser liegen. Das Modell zeigt u.a. recht hohe Bevölkerungskonzentration in der damals noch trockenen Nordadria (nördl. Ancona-Zadar), sowie auf dem Kontinentalschelf zwischen/vor Bretagne und SW-Irland. Hier würde ich eher den Zahlen des Modells als archäologisch basierten Schätzungen trauen.
Mein Eindruck ist, daß die Autoren der Studie sich viel Mühe gemacht, eine umfangreiche, gut fundierte Datenbasis herangezogen und mit modernsten Mitteln ausgewertet haben. Da mag sicher regional hier und da noch Ungenauigkeit drin sein, und 10-20% Abweichung bei den Zahlen sollte man wohl einkalkulieren, aber grundsätzlich finde ich dies einen wesentlichen Schritt hin zum besseren Verständnis Europas während der Eiszeit.
Aus der Supporting Information habe ich angehängt:

  • Kartierte Wahrscheinlichkeit für (Halb-)Sesshaftigkeit (H)
  • Geschätzte Bevölkerungsdichten bei Annahme teilweiser (Halb-)Sesshaftigkeit (I-N) - schwarze Punkte zeigen archäologische Fundstellen des jeweiligen Jahrtausends.
Insbesondere der iberischen und italienischen Archäologie wünsche ich viel Glück beim (tiefen) Graben. Die SI enthalten noch weitere, interessante Karten und Diagramme.
http://www.pnas.org/content/suppl/2015/06/17/1503784112.DCSupplemental/pnas.201503784SI.pdf


*Jeder, der sich ein bißchen mit Statistik auskennt, weiß, daß dies absolute Spitzenwerte sind, von denen z.B. die meisten Meinungsforscher nur träumen.
 

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