Ich habe mir erlaubt deine Frage und meine Antwort in diesen Thread zu verlagern und zitiere einfach ein Kapitel aus einer Hausarbeit (die Fußnotenverlinkung funktioniert übrigens nicht):
Die überlieferten Zustände dieser Zeit erscheinen so schlimm, dass im Allgemeinen von einer Krise gesprochen wird. Solon schreibt in einem Gedicht:
dies kommt nunmehr über die ganze Stadt als eine Wunde, eine unausweichliche,
und schnell gerät sie da in schlimme Knechtschaft,
die Zwist in der Gemeinschaft und Krieg, den schlafenden, aufweckt,
der dann die liebliche Jungend vieler vernichtet;
(...)
Das sind die Übel, die in der Gemeinde umherziehen; von den Armen aber kommen viele in ein fremdes Land,
verkauft und in Fesseln, schimpfliche, gebunden1
Er befürchtet Entzweiungen und Zerfall der Bürgerschaft sowie den Tod vieler. Ob er Krieg von außen oder Bürgerkrieg, Eroberung oder Tyrannis fürchtet, bleibt hier unklar, aber betrachtet man, worin er die Ursachen sieht, erscheinen innere Kämpfe wahrscheinlicher:
Selbst jedoch wollen [die Bewohner] lieber die mächtige Stadt durch ihr blindes Unvermögen vernichten.
Die Bewohner, weil sie dem Besitze gehorchen,
und der Führer des Volkes rechtlose Gesinnung, denen bestimmt ist,
infolge ihres großen Frevels der Schmerzen viele zu erdulden.
Den sie kennen kein Genug und verstehen sich nicht darauf, die vorhandenen
Festfreuden zu ordnen in der Ruhe des Festmahls
***
Sie sind reich, weil sie rechtlosen Werken gehorchen
***
weder der Götter Güter noch erst recht die des Volkes
schonend stehlen sie wegraffend, ein jeder anderswoher,
Nicht der Drang nach Reichtum missfällt ihm, sondern die rücksichtslose Art ihn zu verwirklichen. Inwieweit „Güter des Volkes“ Gemeinbesitz oder Besitz Einzelner aus dem Volk meint, ist ungeklärt.
Obwohl Solon sich in seinen Gedichten immer von der Tyrannis distanzierte, nahm er doch die Machtfülle des „Schiedsrichters“ an, woraus zu schließen ist, dass ihm die Lage sehr ernst erschien.
2 Es erscheint dann aber auch sinnvoll, alle Reformen Solons, der als Schlichter bestellt wurde, als Antwort auf diese Krise zu sehen. Seine Maßnahmen lassen sich dann entweder als nachträgliche Symptombekämpfung oder vorsorgliche Ursachenbeseitigung einteilen, die ein erneutes Ausbrechen der katastrophalen Zustände vermeiden sollten. Als Beispiel sei der Komplex Schuldknechtschaft und Seisachtheia erwähnt: Es ist ein in den Gedichten sehr konkret benanntes Problem, dass Solon zum einem direkt anging, in dem er Versklavte freisprach und ggf. aus anderen Poleis zurückkaufte, das er aber auch langfristig vermeiden wollte, weshalb er die Pfändung des eigenen Körpers verbot. Wenn im folgenden politische Reformen auf Plausibilität untersucht werden, dann immer ausgehend von der Frage „Wieso hielt es Solon nach der Erfahrung der Krise erforderlich an dieser Stelle einzugreifen?“
Bevor von Solon selbst erwähnte Maßnahmen genannt werden, sei der Blick auf Ansätze der Forschung gelenkt, die das Bild von der Krise versuchen zu konkretisieren und dabei teilweise auf Einschätzung der Aristokratie aufbauen.
Recht populär als Ursache ist ein rascher Anstieg der Bevölkerung und daraus resultierender Landmangel und Engpässe der Versorgung, worauf die Griechen u.a. mit der Kolonisation der Mittel- und Schwarzmeerküste reagierten.
3 Karl-Wilhelm Welwei weist jedoch daraufhin, dass diese Erklärung im Falle Athens nicht ausreiche, da in Attika um 600 v.Chr. durchaus noch freie Flächen gewesen seien und Lin Foxhall fragt, wie denn die größere Bevölkerung in klassischer Zeit ernährt werden konnte, wenn es schon in der Archaik nicht reichte, jedoch ohne auf etwaige Zunahme des Handels einzugehen.
4 Damit diese Flächen hätten genutzt werden können, müssten sie allerdings erst urbar gemacht werden und wer kam dafür in Frage? Sicherlich nur Tagelöhner im Auftrag Adliger, da Kleinbauern ihre eigenen Äcker nicht vernachlässigen konnten und nur ausreichend Reiche – also Adlige – die nötigen Arbeitskräfte versorgen könnten. Neubesiedlung hinge damit davon ab, dass ein Adliger es für vorteilhafter ansah Neuland zu erschließen als Land von Schuldnern zu übernehmen, was nach Solons Beschreibung wohl nicht der Fall war. Falls doch, so lässt obiges Gedicht vermuten, erhielten die beteiligten Tagelöhner nichts von dem Land, sondern es verblieb in Hand des Auftraggebers, so dass sich die Situation der Landlosen nicht änderte. Ähnliches vermutet Sara Forsdyke, die von einem Überschuß an Arbeitskräften ausgeht, was adliger Ausbeutung Tür und Tor öffnete.
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In diesen Kontext von Adel, der seine soziale Verantwortung ignoriere, fällt für sie auch der zunehmende Landverlust verschuldeter Bauern. Tatsächlich muss ein nennenswerter Teil der athenischen Bevölkerung Schuldknechte gewesen sein. Solon spricht von „viele[n]“, allerdings glaubt Stahl, dass die Wehrfähigkeit Athens nicht ernstlich bedroht war und sich „Knechtschaft“ vorerst auf Tyrannis beziehe und erst langfristig Krieg von außen drohe. Daraus folgert er, dass sich noch genug freie Bauern den Heeresdienst als Hoplit leisten konnten.
6 Wenn die Schuldknechtschaft jedoch vorrangig für Tagelöhner und Kleinbauern eine Gefahr darstellte und Hopliten größere Höfe besaßen, die eine wirtschaftlich sichere Situation boten, ließen sich konstante Wehrfähigkeit und ein großer Anteil an unfreien Athenern vereinbaren.
Da die Adligen Politik eher wie ein Hobby betrieben und laut Stein-Hölkeskamp auch aus dem Demos keine politische Initiative zu erwarten sei (die Krise bestünde somit nicht nur aus den genannten Problemen, sondern auch darin, dass die für die Lösung eigentlich verantwortlichen Machträger ihre Urheber und Verstärker waren), wäre ein radikales politisches Umdenken nötig.
7 Stahl spricht nicht nur vom Umdenken, sondern überhaupt erst vom Beginn des politischen Denkens im großen Stil und schreibt Solon die Entdeckung der politischen Sphäre und die Forderung zu, dass sich alle für die Gemeinschaft verantwortlich fühlen.
8 Das eingangs zitierte Gedicht sieht er deshalb als ersten Schritt zu Meisterung der Lage, in dem Solon die Probleme nicht nur für sich analysiert, sondern mit seinen Erkenntnissen eine größere Hörerschaft belehrt.
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Folgt man diesem Gedankengang, fügen sich die vielen kleinen Gesetze Solons, auf die hier nicht im Einzelnen eingegangen wird, gut in dieses Bild, da sie verdeutlichten wie allgegenwärtig Belange der Gemeinschaft sind und versuchten ein Gefühl für die gemeinsame Verantwortung zu erzeugen und auch einzufordern. Auch tiefergehende Eingriffe in die politische Praxis erscheinen dann plausibel, sofern auch sie Politik greifbarer machten und klare Verpflichtungen aufzeigten. Doch wem übertrug Solon welche Kompetenzen?
1Dieser und folgender Auszug Sol. Fr.4. 17-25 und 5-13; Einfügung von mir
.
2Vgl. Sol. Fr. 32. und Fr.33.
3Vgl u.a. E. Stein-Hölkeskamp, Adelskultur, 60f.
4Vgl. K.-W. Welwei, archaische Großpolis, 129f und 154, sowie L. Foxhall: A view from the top. Evaluating the Solonian property classes. In: M. Lynette – P.J. Rhodes (Hgg.): The development of the Polis in Archaic Greece. London 1997, 128.
5Vgl S. Forsdyke: Land, labor and economy in Solonian Athens: breaking the impass between archaeology and history. In: J.H. Blok – A.P.M.H. Lardinois (Hgg.): Solon of Athens. New historical and philological Approaches. Leiden – Boston 2006, 335-338. 347.
6Vgl. M. Stahl: Solon F 3D. Die Geburtsstunde des demokratischen Gedankens. In: Gymnasium 99, 1992, 392f.
7Vgl. E. Stein-Hölkeskamp, Adelskultur, 73.
8Vgl. M. Stahl, Gymnasium 99, 1992, 399-401.
9Vgl. M. Stahl, Gymnasium 99, 1992, 395 und Sol.Fr.4. 30.