Ich hoffe, dies war nicht allzu durcheinander argumentiert.
Überhaupt nicht. Das war sogar sehr gut argumentiert.
Und ich glaube, jetzt beginne ich, Dich auch zu verstehen. Die Sache ist aber auch verzwickt; und ich hoffe meine Argumentation wird nicht zu durcheinander. Gemessen daran, dass wir uns beide aus gutem Grund an die herkömmliche Chronologie der frühen Kaiserzeit halten (uns geht es ja nicht um irgendwelche Umdatierungen oder so), könnten meine gleich folgenden Ausführungen albern und haarspalterisch wirken. Aber mir geht es ähnlich wie Dir. Ich mache mir durch diese Diskussion Gedanken zu den Hintergründen von Dingen, mit denen ich sonst immer wie selbstverständlich gearbeitet habe. Und ich muss mittlerweile auch zugeben, dass ich dank dieser Diskussion meine Meinung, die Astronomie sei unablässig für die Erstellung einer absoluten Chronologie, revidieren muss. Dazu, wie diese Revision im einzelnen aussieht, komme ich unten natürlich noch. Jedenfalls: 1:0 für Dich!
Ich bin mit Deinen Definitionen zu relativer und absoluter Chronologie einverstanden:
Wenn man aus den Quellen z. B. herausfindet, das Ereignis X liegt zeitlich vor dem Ereignis Y, dann ist das relative Chronologie. Diese macht Aussagen über das Vorher und das Nachher, ohne aber den historischen Ereignissen genaue Jahre bzw. einen genauen Platz in einer/unserer Zeitrechnung zuweisen zu können.
Die absolute Chronologie hingegen kann einem histor. Ereignis einen genauen Platz in der Zeitrechnung zuweisen, das genaue Jahr feststellen.
Wenn Du nun sagst:
Da die Konsulatslisten ja überliefert sind, kann ich eigentlich jedes Konsulatsjahr absolut datieren. Ich kann sagen, daß Claudius im Konsulatsjahr des Iullus Antonius und Fabius Africanus geboren wurde, das ist nach den Listen 744 auc, also 10 v. Chr., wir wissen, daß er im Jahr 41 Kaiser wurde – indem man die Regierung des Caligula ja abzählen kann (siehe Beitrag #8) – und man weiß, daß er „am dreizehnten Oktober unter den Konsuln Asinius Marcellus und Acilius Aviola in seinem vierundsechzigsten Lebensjahr, im vierzehnten Jahr seiner Regierung“ starb; also 807 auc, nach unserer Zählung 54 nach Christus. Das sind alles absolute Daten nach der antiken Literatur.
, dann hat das unzweifelhaft für jeden Historiker Hand und Fuß, übrigens auch für einen Hobby-Historiker wie mich.
Ich hatte die Ausgangsfrage von „Mike dem Ritter“ allerdings (jetzt mal in Bezug auf unser Beispiel) so verstanden:
Woher weiß man, dass das Konsulatsjahr des Iullus Antonius und Fabius Africanus (744 a. U. c.) = 10 v. Chr. ist? Ich hoffe, ich habe Mike da richtig verstanden, dass seine Frage nicht war, nach welchen Regeln der Historiker heute Konsulatsjahre und Jahre unserer christlichen Ära in Beziehung setzt, sondern dass seine Frage war, wie diese Regeln aufgestellt werden konnten bzw. woher man weiß, dass diese Regeln korrekt sind. Ist blöd zu formulieren, aber ich hoffe, meine Aussageabsicht wird verstanden.
Wir sind heute 2022 Jahre vom Jahr 10 v. Chr. entfernt. Das ist, ganz unabhängig davon, was vor 2022 Jahren tatsächlich passiert ist, eine einfache mathematische Konsequenz unserer heutigen Zeitrechnung. Woher wissen wir aber so genau, dass wir auch 2022 Jahre vom Konsulat des Iullus Antonius und Fabius Africanus entfernt sind. Dass wir das heute wissen, bezweifle ich nicht. Aber die Frage ist doch: Auf welchem Wege ist die Geschichtswissenschaft zu diesem Wissen gelangt: 744 a. U. c. = 10 v. Chr.? In der frühen Kaiserzeit hat ja niemand nach unserer heutigen Zeitrechnung (v. Chr./ n. Chr.) gezählt. Woher weiß man dann, wie die Konsulatslisten oder andere antike Ären mit unserer Zeitrechnung ins rechte Verhältnis zu setzen sind?
Es hilft ja nicht weiter, zu sagen: 744 a. U. c. ist gleich 10 v. Chr., also ist 807 a. U. c. gleich 54 n. Chr. usw. Wie kommt man denn überhaupt darauf, dass 744 = 10 v. Chr. ist? Das – so dachte ich zumindest – ist doch die Frage, sowohl die von Mike als auch die der absoluten Chronologie.
Das Wissen um den genauen Zeitabstand zwischen einem historischen Geschehen und uns Heutigen ist durchaus ein ganz wesentlicher Bestandteil der absoluten Datierung! Überhaupt ist das Wissen um den Zeitabstand zum Jetzt ja gewissermaßen das Rückgrat aller wissenschaftlichen Chronologie. Alle naturwissenschaftlichen Datierungsmethoden finden streng genommen nichts anderes als den Zeitabstand zum Heute heraus. Die Radiokarbon-Methode z. B. findet heraus, der Zerfallsprozess des 14C-Isotops in dem Material X begann vor so und so vielen Jahren. Die Dendrochronologie musste sich ebenso vom Jahresring der Gegenwart ausgehend in die Vergangenheit „herunter arbeiten“; sie gibt letztlich auch an: dieses Holz wuchs vor so und so vielen Jahren. Die Astronomie macht es ebenso. Sie pfeift auf jedes Datierungs-System der Römer oder Christen, schaut sich nur die zyklischen Bewegungen der Himmelskörper an, um herauszufinden, dass gemessen am Heute und Jetzt vor so und so vielen Tagen, Stunden, Minuten und Sekunden bspw. eine Sonnenfinsternis stattgefunden hat. Dass die Astronomie tatsächlich ziemlich unabhängig von jeder bürgerlichen Zeitrechnung rechnet, erkennt man z. B. an den der Astronomie eigenen Zeitrechnungssystemen wie z. B. dem „Julianischen Datum“ des Joseph Justus Scaliger, welches ein Datum nur in Tagen und Tagesbruchteilen angibt, weil der Astronom damit viel einfacher rechnen kann. Deshalb halte ich zumindest die Aussage
Erst gibt es den Zeitstrahl, und dann kann ich die Sonnenfinsternis dort einhängen.
für zweifelhaft. Natürlich übersetzen alle die genannten Wissenschaften ihre Ergebnisse dann schleunigst in die uns vertraute Zeitrechnung (julian. oder gregorian. Kalenderdatum und Jahr der christl. Ära). Sie tun das unter anderem aus dem Grunde, weil das Heute ja schnell zum Gestern wird und somit die in Jahren und Tagen gemachte Angabe eines Zeitabstands fortwährend, nämlich von Tag zu Tag und von Jahr zu Jahr, aktualisiert werden müsste. Dieses „Aktualisierungs-Problem“ der Angabe hat man schließlich nur, wenn man sagt, vor so und so vielen Tagen hat eine Sonnenfinsternis stattgefunden (morgen stimmt die Aussage schon nicht mehr); man hat dieses Problem aber nicht, wenn man sagt, die Finsternis hat am 1. Aug. 45 n. Chr. stattgefunden. Das ist eine absolute Datierung (die um den Zeitabstand jenes Himmelsereignisses zum Heute weiß).
Ein Zeitgenosse des erwachsenen Claudius wusste unter welchem Konsulat er sich selbst gerade befand. Wenn dieser Zeitgenosse außerdem wusste, Claudius ist im Konsulatsjahr des Iullus Antonius und Fabius Africanus geboren worden, dann genügte ihm ein Blick in die zu Rom öffentlich zugänglichen fasti consulares, um festzustellen wie lange das her war. Dieser Zeitgenosse konnte auf Basis der Zeitrechnung nach Konsulaten die Geburt des Claudius also absolut datieren. Unsere heutige Zeitrechnung ist aber eine andere als die damalige (Gemeinsam ist dem heutigen Historiker und dem Römer der frühen Kaiserzeit wenigstens die Verwendung des julianischen Kalenderjahres, warum sich glücklicherweise die Jahre unserer Ära mit den damaligen römischen Jahren immer ganzjährig überschneiden). Auch wenn man heute die fasti genauso kennt wie der Zeitgenosse des Claudius, kann man als Heutiger anders als jener Zeitgenosse nur über „Umwege“ den Zeitabstand vom Jahr 744 a. U. c. zum Heute feststellen. Dass man 744 a. U. c. = 10 v. Chr. setzt (und damit dann den Zeitabstand von 744 a. U. c. zum Heute benennen konnte), ist ja nicht selbstverständlich. Denn unsere Zeitrechnung wurde erst Jahrhunderte nach Claudius „erschaffen“ und angewandt und die röm. Zeitrechnung, wie sie zur Zeit des Claudius bestand, wurde irgendwann nicht weiter fortgeführt und wird heute seit über einem Jahrtausend nicht mehr angewendet.
Selbstverständlich, das bezweifle ich gar nicht, ist dieses Problem, wie die Konsulate in unsere Zeitrechnung exakt zu übersetzen sind, längst gelöst worden. Aber wie?
Um diese Frage zu beantworten, wähle ich um der Vereinfachung willen die Form der Erzählung:
Da ist ein Historiker, der weiß, dass alle anderen Historiker den Tod des Iulius Caesars ins Jahr 44 v. Chr. setzen, oder die Schlacht bei Actium ins Jahr 31 v. Chr. oder die Geburt des Claudius ins Jahr 10 v. Chr. usw. Er sagt sich – ähnlich wie Mike der Ritter –: „Es kann ja sein, dass es stimmt, aber in den Quellen steht nirgends schwarz auf weiß: 'Claudius wurde im Jahr 10 v. Chr. geboren'. Ich will das den anderen Historikern nicht länger einfach nachplappern, sondern ich will mich daran machen, mir selbst zu beweisen, dass Claudius tatsächlich 10 v. Chr. geboren wurde“. So breitet sich der Historiker alle Schriftquellen der frühen Kaiserzeit, auch alle Münzen, Inschriften usw. auf seinem Schreibtisch aus (er hat einen riesigen Schreibtisch). Er durchforscht das gesamte Material. Aber in keiner Quelle findet er einen Hinweis auf irgendein bestimmtes Jahr der christlichen Ära. Ja, aus all den Quellen, die er gerade studiert hat, könnte man noch nicht einmal auf die Existenz dieser Ära schließen. Wenigstens konnte er aus Sueton erfahren, dass Claudius an einem 1. August unter den Konsuln Iullus Antonius und Fabius Africanus das Licht der Welt erblickte, und außerdem, dass die Konsulatsjahre damals vom 1. Januar des julianischen Jahres an liefen. Das notiert er sich auf einen Zettel, den er zusammen mit den fasti consulares auf dem Schreibtisch liegen lässt. Alle anderen Quellen räumt er erstmal weg.
Mhh … 10 v. Chr., denkt er sich, das ist die gleiche Zeitrechnung, nach welcher ich jetzt im Jahr 2012 n. Chr. lebe. Ich bräuchte eine Art Brücke zwischen den Konsulatslisten und unserer christlichen Jahrrechnung. Er forscht weiter, sucht nun nach solch einer „Brücke“, bis ihm endlich die schriftlichen Hinterlassenschaften des christlichen Mönches Dionysius Exiguus in die Hände fallen. Interessant, denkt er sich, Exiguus ist der Erfinder der christlichen Zeitrechnung, hat dazu in einer Zeit gelebt, in welcher die Datierungen nach Konsulaten noch Verwendung fand. Wäre doch gelacht, wenn das nicht die entscheidende „Brücke“ wäre. Der Historiker bekommt tatsächlich heraus, dass Exiguus seine Schrift selbst sowohl in das Konsulatsjahr des Probus Iunior als auch in das Jahr 525 n. Chr. datierte. Jetzt nimmt der Historiker schnell die fasti consulares zur Hand und zählt vom Konsulat des Iullus Antonius und Fabius Africanus bis zum Konsulat des Probus Iunior 534 Jahre. Zweitens vertraut der darauf, dass seit Exiguus die Jahre der christl. Ära ununterbrochen und kontinuierlich bis heute fortgezählt worden sind, und zählt von 525 n. Chr. bis 2012 n. Chr. 487 Jahre. Er summiert diese 487 Jahre (von ihm zu Exiguus) zu den 534 Jahren (von Exiguus zu Claudius), kommt insgesamt auf 1021 Jahre, die seit der Geburt des Claudius bis heute vergangen sein müssen. Und wenn der Historiker heute im Jahr 2012 n. Chr. lebt, dann muss Claudius im Jahre 10 v. Chr. geboren sein. Hura! Er hat die Geburt des Claudius tatsächlich absolut datiert, und das wirklich ausschließlich mittels der Kaiserbiographie des Sueton, der Schrift des Dionysius Exiguus und der fasti consulares!
Allerdings kommt dem Historiker das alles viel zu einfach vor. Denn Wer weiß schon, wie verlässlich die Konsulatsfasten sind, die ja in der Form, wie er sie vorliegen hat, aus vielen verschiedenen Inschriften und Notizen bei antiken Geschichtsschreibern rekonstruiert worden sind. Ungefähr wird sein Ergebnis auf jeden Fall stimmen, aber auch aufs Jahr genau? Er grübelt, holt die anderen Quellen noch einmal auf seinen Schreibtisch und findet die Nachricht von der Sonnenfinsternis am Geburtstag des Claudius unter den Konsuln X & Y. Laut der Konsulatsliste liegen 54 Jahre zwischen dem Konsulat, in welchem Claudius geboren wurde, und diesem späteren Konsulat X & Y. Der Historiker ruft sofort seinen Freund den Astronomen an und bittet ihn mal nachzuschauen, ob irgendwo zwischen 35 und 55 n. Chr. eine zu Rom sichtbare Sonnenfinsternis auf den 1. August gefallen ist. Der Astronom sagt: „Das rechne ich mal eben nach; muss mir nur Papier und Stift holen“ (In Wirklichkeit schaut der Astronom auf der sehr zu empfehlenden Homepage der NASA, die alle Sonnen- u. Mondfinsternisse nach dem julianischen Kalender, mit genauer Uhrzeit usw. angibt). „Ja“, sagt er zum Historiker: „Ich habe ausgerechnet, dass am 1. Aug. 45 n. Chr. eine Sonnenfinsternis stattgefunden hat“. Der Historiker knallt den Hörer auf und rechnet schnell noch einmal: Zwischen den beiden Konsulaten liegen 54 Jahre, genauso zwischen 10 v. Chr. und 45 n. Chr. Das kann alles kein Zufall mehr sein. Mein Ergebnis stimmt! Ich habe mir selbst bewiesen, dass Claudius am 1. Aug. 10 v. Chr. geboren wurde.
DARAUS LERNE ICH:
1.) Ja, es stimmt, wir können die Ereignisse der frühen Kaiserzeit ohne die Astronomie absolut datieren.
2.) Dass diese absoluten Datierungen aber auch wirklich korrekt und exakt sind, beweist uns erst die Astronomie.
Liebe Grüße
Robert
PS: Nur damit man nicht glaubt, ich hielte die Astronomie im Hinblick auf die absolute Chronologie als einziger für so wichtig: Der Astronom und Chronologe Johann Friedrich Wurm sagte: „Chronologie in ihren wesentlichsten Theilen ist nichts anders, als angewandte Astronomie“.