Das alles erinnert mich fatal an die Situation in Deutschland. Eine "deutsche Identität" entwickelt sich ziemlich spät - erst ab dem 12./13. Jh. - und die Menschen fühlen sich zuallererst dem Landesfürstentum verbunden, in dem sich ihr Leben abspielte, während das "Reich" weit entfernt war. Die politische Zersplitterung brachte es mit sich, dass sich die Menschen zunächst als Baiern, Brandenburger, Hessen oder Württemberger fühlten und dann erst als "Teutsche".
In Italien ist die Lage ganz ähnlich. Die Ethnogenese der Italiener beginnt erst im frühen oder hohen Mittelalter und wann sich Menschen als Italiener fühlten, darüber habe ich bislang nichts eindeutiges gefunden. Was ein Nationalbewusstsein angeht, so findet man das wie in Deutschland erst seit den napoleonischen Kriegen - zumindest, soweit es breitere Bevölkerungsschichten betrifft.
Dennoch könnte ich mir denken, dass die spätantike Bevölkerung der Apennin-Halbinsel gewisse Unterschiede im Hinblick auf die übrige Bevölkerung des Imperiums empfand. Die Apenninhalbinsel bildete den Kern des Römischen Reichs, von dem alles ausgegangen war. Und es gab mit den italischen Sprachen eine einheitliche Sprachfamilie, die sich von den außerhalb Italiens gesprochenen Sprachen deutlich unterschied. Zwar wurde Latein später in alle Teile des Imperiums transferiert, doch entwickelte sich in Italien mit dem Italienischen eine eigenständige romanische Sprache. Das deutet darauf hin, dass die Menschen der Halbinsel eine besondere Identität ausbildeten, die sich von den Völkern außerhalb absetzte.
Die politische Zersplitterung in mehrere Klein- und Mittelstaaten behinderte das Wachsen einer italienischen Identität, wie das auch in Deutschland der Fall war. Allerdings haben wir seit dem Hohen Mittelalter den Begriff "Reichsitalien" oder besser das regnum Italicum - der Teil Italiens, der bis zur frühen Neuzeit als Teil des Heiligen Römischen Reichs galt.