Eigentlich müsste man sagen, dass Rom bis zur Kaiserzeit eine aristokratische Republik mit gewissen demokratischen Elementen war.
Allerdings war das ein faktischer Zustand, kein rechtlicher. Eine Aristokratie war Rom nur in den ersten anderthalb Jahrhunderten der Republik, als der Zugang zu den meisten Ämtern auf die Patrizier beschränkt war. Ab Mitte des 4. Jhdts. aber konnte theoretisch jeder männliche Bürger (fast; Ausnahmen z. B. das Volkstribunat und die plebejische Aedilität) jedes Amt erreichen. Das ist etwas anderes als in richtigen Aristokratien, wo die Zahl der mit politischen Rechten Versehenen stark beschränkt ist, sei es, dass rein rechtlich der Zugang zu den Ämtern auf wenige Personen beschränkt ist, sei es, dass nur ein kleiner Kreis das Wahlrecht oder Zugang zu einer Ratsversammlung hat. Als Beispiele möchte ich z. B. Korinth nennen, das nach der Abschaffung des Königtums etwa neunzig Jahre lang von einem jährlich gewählten Prytanen regiert wurde, wobei aber nur Angehörige der ehemaligen Königsfamilie der Bakchiaden kandidieren durften, oder Syrakus, das im 4. Jhdt. zeitweise von einem jährlich gewählten Amphipolos regiert wurde, wobei aber nur Angehörige dreier Familien kandidieren durften, oder Athen unter den Dreißig Tyrannen, wo es dreitausend privilegierte Bürger gab.
Auch bei den Römern unterschieden sich Verfassungstheorie und Verfassungsrealität. Nach römischem Selbstverständnis war die res publica eine Form der Volksherrschaft und das römische Volk ein Volk freier Bürger mit allen Rechten. Dass sich die Macht faktisch meist auf ein paar Dutzend Familien konzentrierte, war kein Widerspruch, sondern durchaus beabsichtigt: Nach dem Republiksverständnis zumindest der meist der Oberschicht angehörenden Staatstheoretiker bedeutete Volksherrschaft, dass das Volk die Besten (also diejenigen, die durch Erziehung, Ausbildung, Erfahrung und Tugenden am besten zur Leitung des Staates geeignet waren) auswählte und sich von ihnen vertrauensvoll leiten ließ. Diese Besten sollten im Senat versammelt sein und dem Volk die Richtlinien vorgeben, die das Volk im Vertrauen auf die Weisheit des Senats in den Volksversammlungen absegnen sollte. (Dieses Denkmodel ist eigentlich gar nicht mal so weit von heutigen parlamentarischen Demokratien entfernt, wo von Parteipolitikern und Parlamentariern häufig Formen der direkten Demokratie mit dem Argument abgelehnt werden, dass das Volk nicht in der Lage sei, schwierige Entscheidungen zu treffen, sondern die Entscheidungsbefugnis an das Parlament, das dafür viel besser geeignet sei, delegiert habe.) Dass die "Besten" in der römischen Republik meist aus nur wenigen Familien der Oberschicht stammten, war nach dem Republiksverständnis eben dieser Oberschicht nur folgerichtig, denn schließlich konnten nur Kinder der Oberschicht entsprechend erzogen werden und verfügten nur sie über das nötige Vermögen, um sich politisch zu engagieren. Und um ehrlich zu sein: Auch in den heutigen Demokratien hat der Durchschnittsbürger der breiten Masse kaum Chancen auf eine politische Karriere. Er kann bei den Wahlen zwar zwischen verschiedenen Parteien wählen, aber die Kandidatenlisten werden meist von den Parteien erstellt, die auch selbst entscheiden, wen sie aufnehmen, und oft durch Zugangsklauseln nichtetablierten Parteien den Einzug ins Parlament erschweren. Ich möchte damit nicht heutige parlamentarische Demokratien auf eine Stufe mit der römischen Republik stellen, zumal es insbesondere in Sachen Grundrechte und Rechtsstaatlichkeit doch deutliche Unterschiede gibt und außerdem die römische Republik in der Regel kein allgemeines gleiches Wahlrecht hatte, aber aufzeigen, dass Verfassungstheorie und Verfassungsrealität damals wie heute auseinanderklafften. Eine Oligarchie war die römische Republik nur faktisch, aber in der Theorie konnte jeder männliche Bürger den Aufstieg schaffen, ebenso wie in unseren heutigen Demokratien theoretisch jeder Bürger Bundeskanzler bzw. Ministerpräsident werden kann.