In der späten Republik haben wir aber auch noch genug Familien aus altem Adel, die aus ihrer mit der Republik verflochtenen Geschichte einen Anspruch und zugleich eine Verpflichtung ableiten. Die meisten dieser Familien werden im Bürgerkrieg ausgerottet, der Senat und damit die Aristokratie füllen sich mit Neulingen und Aufsteigern, die mehr und mehr (fast weigert sich meine Feder, das Ungeheuerliche in die Tasten zu kratzen) aus den Provinzen kommen. Wie bruchlos und nahtlos werden also mentale Traditionen von diesen übernommen und weitertradiert.
Es gab auch in der Kaiserzeit Politikerdynastien, die über Generationen hinweg immer wieder Konsuln und sonstige Würdenträger stellten. Sie stammten zwar oft nicht von traditionellen Politikerfamilien der Republik ab und die einzelnen Glieder waren wesentlich öfter adoptiert als es in der Republik der Fall war, aber das Prinzip scheint mir durchaus ähnlich zu sein.
Kann ich davon ausgehen, daß im 3. Jh. nach Christ noch genau das gleiche Streben nach Dignitas herrschte wie vierhundert Jahre zuvor?
Das ist natürlich eine schwierige Frage. Dazu fehlen uns auch Quellen, die uns einen Einblick in die Denkweise aus erster Hand gewähren, wie die Briefe von und an Cicero, in denen sich das dignitas-Streben der Verfasser oft recht deutlich wiederspiegelt. Allerdings verweise ich auf diverse kaiserzeitliche Grabsteine von Männern, die in der Politik, Verwaltung und beim Militär mehr oder weniger erfolgreich Karriere gemacht haben und auf denen penibel jede einzelne Karrierestation, jedes bekleidete Amt, dazu auch noch allfällige Priesterschaften, und jede Ehrung aufgelistet sind. Das scheint mir doch für ein entsprechendes dignitas-Streben zu sprechen.
Dass ab dem 2. Jhdt. zunehmend Aufsteiger aus der Provinz kamen, scheint diesem Streben keinen Abbruch getan zu haben, vielleicht sogar im Gegenteil. Nehmen wir als Beispiel Cassius Dio, dessen Familie aus Bithynien stammte: Sein Vater bekleidete mehrere Statthalterschaften und das Suffektkonsulat. Cassius Dio selbst war einmal Suffektkonsul und einmal eponymer Konsul, bekleidete ebenfalls mehrere Statthalterschaften und verfasste ein Geschichtswerk - nicht über Bithynien (wie sein Landsmann Arrianus) - sondern über Rom (obwohl an Geschichtswerken über Rom kein Mangel herrschte). 291 gab es dann noch einmal einen Konsul namens Cassius Dio, bei dem allerdings nicht bekannt ist, ob und wie er mit seinen Vorgängern verwandt war.
Ich habe den Eindruck, aus der Provinz zu stammen, scheint das Streben, es in Rom als "Römer" zu etwas zu bringen, eher noch befeuert zu haben. Sichtbarer Ausdruck dafür scheint mir zu sein, dass diverse Aufsteiger sich nicht damit begnügten, wichtige Posten in der Armee oder Verwaltung zu bekleiden, sondern auch nach einem Senatssitz und dem traditionellen (aber faktisch nur noch wenig einflussreichen) Konsulat strebten.
Es könnte natürlich auch sein, dass sie selbst teilweise gar nicht dezidiert danach strebten, sondern diese Positionen ihnen von den Kaisern und sonstigen einflussreichen Gönnern als Belohnung für Verdienste einfach zugeschanzt wurden. Aber auch das würde zeigen, dass zumindest die Förderer vermuteten, dass ein Senatssitz, das Konsulat (mit den Abstufungen Suffektkonsul - eponymer Konsul - eponymer Konsul mit dem Kaiser als Kollegen) und als Karrierekrönung das Prokonsulat in Asia oder Africa immer noch erstrebenswert waren, was sich, da die meisten traditionellen republikanischen Würden nur noch geringe realpolitische Bedeutung hatten, meines Erachtens eigentlich nur mit einem fortbestehenden dignitas-Denken und dass eben ein traditionelles Amt der dignitas besonders förderlich war erklären lässt.
So oder so: Letztlich landeten die meisten erfolgreichen Aufsteiger auf einer dieser Positionen.