Datierung der Evangelien

Chan

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Hallo zusammen.

Die Datierung der synoptischen Evangelien auf die Jahrzehnte unmittelbar nach der Eroberung Jerusalems (Mk 70, Mt und Lk 80-90, Joh 100) - ist sie historisch plausibel oder nur ein Effekt der Hörigkeit der meisten Neutestamentler gegenüber der kirchlichen Tradition?

Was spricht dagegen, hypothetisch von einer Entstehung dieser Texte im 2. Jahrhundert auszugehen, und zwar im relativ späten 2. Jahrhundert, also irgendwann zwischen Justin (um 150) und Irenäus (um 180)?

Konservative Neutestamentler führen an, dass in den Briefen von Ignatius und im 1. Clemensbrief Bezüge auf die Evangelien erkennbar seien, dass diese also im ersten Jahrzehnt des 2. Jd. (Ignatius) bzw. zwischen 100 und 125 (Clemens) bereits im Umlauf gewesen sein müssen. Nun wird die Echtheit dieser Briefe aber angezweifelt, so dass sie keine Basis für eine Datierung sein können. Ein ebenfalls als Zeugnis angeführtes Papias-Fragment kann selbst nicht zuverlässig datiert werden.

Darüber hinaus gibt es in der christlichen Literatur des 2. Jh. lange Zeit keine Hinweise auf die Existenz der vier Evangelien. Nicht einmal Justin (um 150) nennt als Quelle, auch die Namen der Evangelisten sucht man bei ihm vergebens, er spricht lediglich von den "Aposteln" und von "Petrus".

Erst bei Irenäus finden sie um 180 zum ersten Mal Erwähnung.

Könnte man aus alldem nicht schließen, dass die synoptischen Evangelien, zumindest in ihrer bekannten Gestalt, zwischen 150 und 180 entstanden sind?
 
Damit wäre ja das Johannesevangelium das älteste, mit seiner schon sehr weit ausgearbeitet Christologie.

Da die anderen Evangelien diese nicht haben, scheint es plausibel das diese älter sind.
 
Warum sollte Iustinus denn über die Evangelisten oder die Evangelien sprechen? In welcher seiner Schriften? Mit welchem Ziel?
Dass der erste Clemensbrief in seiner Authentizität angezweifelt wird - auch er nennt im Übrigen die Evangelisten und nicht - ist mir neu.

Man kann mal ein paar Punkte abklopfen:
:rechts: Johannes der Täufer: Manche der Erzählungen über den Täufer ergeben m.E. nur in zwei Fällen Sinn: Entweder sie stimmen :S oder aber Johannes der Täufer hatte noch Anhänger, die man von der Wahrheit des Christentums überzeugen wollte.
:rechts: Sanhedrin: Insbesondere bei Matthäus wird der Sanhedrin als Zeuge für die Ereignisse um Jesu Tod und Auferstehung genannt. Das ist aber nur dann sinnvoll, wenn der Sanhedrin auch existierte. Das war aber nach dem Bar Kokhba-Aufstand nicht mehr der Fall. Also ist der taq des Matthäus-Evangelium 132/135, das Markus-Evangelium ist älter.
:rechts: Lukasevangalium und Apostelgeschichte stammen beide aus gleicher Hand, wie den aufeinander Bezug nehmenden Prologen zu entnehmen ist. Die Apostelgeschichte berichtet zwar vom Schicksal der Apostel und ersten Märtyrern, ihr Protagonist ist Paulus, aber den Tod von Petrus und Paulus erwähnt sie nicht. Man kann also davon ausgehen, dass beide gegen Ende der Abfassung noch lebten. Außerdem gibt sich der Verfasser der Apostelgeschichte als Begleiter des Paulus in seinen letzten Jahren, was durchaus mit der Namensnennung eines Arztes Lukas in den paulinischen Briefen korrespondieren könnte.
 
Warum sollte Iustinus denn über die Evangelisten oder die Evangelien sprechen? In welcher seiner Schriften? Mit welchem Ziel?

Warum? Weil diese vier Evangelien von Irenäus nur 15 Jahre nach Justins Tod prä-kanonisiert wurden und er auf der Vierzahl bestand, woraus man schließen kann, dass diese Texte schon eine ganze Zeitlang, d.h. auch zu Lebzeiten Justins, in christlichen Kreisen bekannt und geschätzt gewesen sein müssten. Justin bezieht sich in seiner Apologie aber auf andere, apokryphe Texte, die er "Denkwürdigkeiten der Apostel (bzw. des Petrus)" nennt. Sein Ziel war bekanntlich, die Lehren der ihm vorliegenden christlichen Texte und des AT mit der Logos-Philosophie des Mittelplatonismus zusammenzuführen. Anregungen kamen ihm von Philos jüdisch-hellenistischer Konzeption. In Apol. 1,20 ff, 23. schreibt er z.B.:

Wenn wir aber weiterhin behaupten, der Logos, welcher Gottes erste Hervorbringung ist, sei ohne Beiwohnung gezeugt worden, nämlich Jesus Christus, unser Lehrer, und er sei gekreuzigt worden, gestorben, wieder auferstanden und in den Himmel aufgestiegen, so bringen wir im Vergleich mit den Zeussöhnen nichts Befremdliches vor...

Marcion, der in den 30-40ern des 2. Jh. wirkte, kannte die vier Evangelien auch nicht, dafür aber einige Paulusbriefe, von denen manche radikalkritischen Theologen meinen, er könnte sie selbst fabriziert haben.

Dass der erste Clemensbrief in seiner Authentizität angezweifelt wird - auch er nennt im Übrigen die Evangelisten nicht - ist mir neu.

Auf Kathpedia (Liste der Päpste) liest man:

Bis zum Jahr 235 sind die Päpste nicht wirklich historisch gesichert.

Das ist schon mal eine suboptimale Basis für die Annahme der Echtheit des Briefes. Seine Echtheit wird, ausgehend vom holländischen Bibelwissenschaftler Loman, schon seit dem 19. Jh. von manchen Wissenschaftlern angezweifelt. Einige der Argumente sind:

* Erst im 44. Kap. kommt der Verfasser zur angeblich dringlichen Hauptsache (ein Gemeindekonflikt in Korinth).

* In 44,1 wird die apostolische Sukzession thematisiert, was viel eher in die Mitte des 2. Jh. passt.

* Der Text ist deutlich zu umfangreich für einen Brief.

* Der im Brief geschilderte korinthische Gemeindekonflikt wirkt unglaubwürdig und konstruiert und ist anderweitig nicht belegt.

* Das Verhältnis von Petrus und Paulus wird als harmonisch geschildert, was auf eine spätere Entstehungszeit hinweist.

* Da die römische Gemeinde vor Ancietus (156-166) nicht einheitlich geleitet wurde, kann kein Bischof den Brief verfasst haben.

Sanhedrin: Insbesondere bei Matthäus wird der Sanhedrin als Zeuge für die Ereignisse um Jesu Tod und Auferstehung genannt. Das ist aber nur dann sinnvoll, wenn der Sanhedrin auch existierte. Das war aber nach dem Bar Kokhba-Aufstand nicht mehr der Fall. Also ist der taq des Matthäus-Evangelium 132/135, das Markus-Evangelium ist älter.

Die Schilderung der Prozessmodalitäten, wenn du das meinst, stimmt aber nicht wirklich überein mit den Verfahrensregeln, die beim Sanhedrin üblich waren. Der Prozess könnte also erfunden sein, ähnlich wie der angebliche Prozess vor Pilatus.

Solche Einzelstellen belegen im übrigen nicht eine Datierung des kompletten Mt in die von dir genannte Zeit, sondern bestenfalls die Existenz eines jener schon umlaufenden Kleintexte, aus denen das Evangelium zusammengesetzt wurde. Bultmann z.B. hat den Versuch unternommen, die verschiedenen Kompositionselemente aus den synoptischen Texten herauszufiltern und auf ihren Ursprung zu untersuchen.

Lukasevangalium und Apostelgeschichte stammen beide aus gleicher Hand, wie den aufeinander Bezug nehmenden Prologen zu entnehmen ist. Die Apostelgeschichte berichtet zwar vom Schicksal der Apostel und ersten Märtyrern, ihr Protagonist ist Paulus, aber den Tod von Petrus und Paulus erwähnt sie nicht. Man kann also davon ausgehen, dass beide gegen Ende der Abfassung noch lebten.

Petrus und Paulus sind historisch nicht gesichert. Nichts deutet überzeugend darauf hin, dass Petrus etwas anderes ist als eine "mythologische" Figur. Was Paulus betrifft, scheinen die Dinge komplizierter zu liegen, aber auch er ist in außerchristlichen Quellen nicht belegt. Die ersten Paulusbriefe wurden in den 40ern des 2. Jh. von Marcion herausgegeben, welcher - da gibt es Theorien - evt. selbst der Verfasser war oder sie verfassen ließ, was bedeuten würde, dass Paulus eine erfundene Figur ist. Die Argumente beginnen bei der sog. "Gegnerfrage" - wer sind die gnostischen anmutenden Gegner, die Paulus in den Briefen attackiert? Mitte des 1. Jh. war die Gnosis noch nicht so ausgeprägt, wie man das anhand der Paulusbriefe voraussetzen müsste. Lange Zeit schloss man daraus auf wissenschaftlich nicht nachweisbare gnostische Systeme um die Mitte des 1. Jh., dann kamen einige auf die Idee, den Spieß umzudrehen und Paulus bzw. die Briefe in die Blütezeit der Gnosis vorzudatieren, also ins fortgeschrittene 2. Jh..

Schon Bruno Bauer hielt die Apg für einen Fake der Katholiken Mitte des 2. Jh. mit dem Zweck, das gänzlich anders geartete und ihnen nicht genehme Paulusbild der Briefe zu konterkarieren.

Die vielleicht größte Merkwürdigkeit liegt in der Nichterwähnung der sehr umfangreichen Briefaktivitäten des Paulus. Warum wird das in der Apg verschwiegen?
 
Zuletzt bearbeitet:
Warum? Weil diese vier Evangelien von Irenäus nur 15 Jahre nach Justins Tod prä-kanonisiert wurden und er auf der Vierzahl bestand, woraus man schließen kann, dass diese Texte schon eine ganze zeitlang, d.h. auch zu Lebzeiten Justins, in christlichen Kreisen bekannt und geschätzt gewesen sein müssten.

Und steht das nicht sinnlogisch im Widerspruch zu deiner Vermutung, dass sie erst nach 150 entstanden sein sollen?

Justin bezieht sich in seiner Apologie aber auf andere, apokryphe Texte, die er "Denkwürdigkeiten der Apostel (bzw. des Petrus)" nennt.

Kannst du die Stelle genauer benennen? Ich finde entsprechendes nur in der ersten Apologie ("Denn die Apostel haben in den von ihnen stammenden Denkwürdigkeiten, welche Evangelien heißen, überliefert..."), von Petrus ist dort aber nicht die Rede. Was dort weiterhin steht entspricht am ehesten der Version des 1. Korintherbriefes von Paulus.

Marcion, der in den 30-40ern des 2. Jh. wirkte, kannte die vier Evangelien auch nicht, dafür aber einige Paulusbriefe, von denen manche radikalkritischen Theologen meinen, er könnte sie selbst fabriziert haben.

Ich kenne eigentlich die Behauptung, dass Marcion das Lukasevangelium abgespeckt habe.

Auf Kathpedia (Liste der Päpste) liest man:

Bis zum Jahr 235 sind die Päpste nicht wirklich historisch gesichert.

Das ist schon mal eine suboptimale Basis für die Annahme der Echtheit des Briefes.

Du überstrapazierst diese Aussage ein wenig. Sie dürfte in erster Linie für die genauen Jahre der Amtszeiten gelten, weniger für die Existenz eines römischen Bischofs und der Personen, die dieses Amt ausübten an sich.

* Der im Brief geschilderte korinthische Gemeindekonflikt wirkt unglaubwürdig und konstruiert und ist anderweitig nicht belegt.

Wenn anderweitig nicht belegte Dinge aus Quellen ausreichende Indizien dafür wären, dass eine Quelle unecht sei, dann könnten wir ziemlich viel dessen, was wir aus der Geschichte kennen, zusammenstreichen, weil sie nur in einer Quelle erwähnt werden.

* Das Verhältnis von Petrus und Paulus wird als harmonisch geschildert, was auf eine spätere Entstehungszeit hinweist.
Wieso? Und wieso steht das deiner Auffassung nach im Konflikt mit den Paulusbriefen oder der Apostelgeschichte?
* Da die römische Gemeinde vor Ancietus (156-166) nicht einheitlich geleitet wurde, kann kein Bischof den Brief verfasst haben.
Welcher Quelle entnimmst du das?

Die Schilderung der Prozessmodalitäten, wenn du das meinst, stimmt aber nicht wirklich überein mit den Verfahrensregeln, die beim Sanhedrin üblich waren. Der Prozess könnte also erfunden sein, ähnlich wie der angebliche Prozess vor Pilatus.
Ich weiß nicht, wie die Verfahrensregeln des Sanhedrin waren. Über die habe ich auch nicht gesprochen sondern darüber, dass Matthäus den Sanhedrin als Zeugen für die Auferstehung Christi in Anspruch nimmt. Das ergibt nur dann Sinn, wenn der Sanhedrin zu seiner Zeit noch existierte. Wen hätte das denn interessiert, wenn er nicht mehr existiert hätte?
Was etwaige Verfahrensfehler angeht: Diese kämen nur dann zum Tragen, wenn man annähme, dass es sich um einen objektiven historischen Bericht handele, was gar nicht die Intention der Evangelisten ist. Zudem wird den Hohepriestern in den Evangelien ja genau das vorgeworfen, dass sie wider besseren Wissens handeln.


Petrus und Paulus sind historisch nicht gesichert. Nichts deutet überzeugend darauf hin, dass Petrus etwas anderes ist als eine "mythologische" Figur. Was Paulus betrifft, scheinen die Dinge komplizierter zu liegen, aber auch er ist in außerchristlichen Quellen nicht belegt.

Wer außer Christen sollte denn von Petrus und Paulus berichten, wenn Geschichtsschreibung in erster Linie Herrschergeschichte war?

Schon Bruno Bauer hielt die Apg für einen Fake der Katholiken Mitte des 2. Jh. mit dem Zweck, das gänzlich anders geartete und ihnen nicht genehme Paulusbild der Briefe zu konterkarieren.
Die vielleicht größte Merkwürdigkeit liegt in der Nichterwähnung der sehr umfangreichen Briefaktivitäten des Paulus. Warum wird das in der Apg verschwiegen?

Dann muss man sich fragen, warum die Apostelgeschichte von jemandem geschrieben wurde (bzw. die Illusion davon entworfen wurde), der in den Briefen namentlich erwähnt wird und warum die Kirche so blöd gewesen ist, Briefe und Apostelgeschichte, die doch angeblich Gegenentwürfe zueinander gewesen sein sollen, dann gemeinsam zu kanonisieren. Das passt alles nicht so ganz zusammen.
 
Ergänzung zu El Quijote:
Was meiner Meinung nach auch für eine frühe Abfassungszeit des Lukasevangeliums und der Apostelgeschichte spricht, ist das relativ positive Bild, das darin von der römischen Staatsmacht gezeichnet wird, insbesondere im Zuge der Verhaftung des Paulus am Ende der Apostelgeschichte: Während die frühen Christen von Teilen der jüdischen Obrigkeit und manchen jüdischen Aktivisten so manches zu erdulden haben, treten die Römer korrekt und höflich auf. Der Verfasser scheint darauf gebaut zu haben, dass Paulus von den Römern korrekt behandelt würde und ein gerechtes Verfahren bekäme. (Schon an einer früheren Stelle, beim Aufruhr der Silberschmiede in Ephesos, wird die römische Staatsmacht als Garant für Ordnung und eine gerechte Behandlung der christlichen Missionare präsentiert.) Hätte der Verfasser schon gewusst, wie Paulus und Petrus im Zuge der Neronischen Christenverfolgung endeten, wäre seine Illusion zerstört gewesen und hätte er die Römer wohl nicht mehr als positives Gegenstück zu jüdischen und sonstigen Mobs geschildert. Hätte er die beiden Bücher gar erst im späten 2. Jhdt. verfasst, also erst nach einigen weiteren lokalen Pogromen und der nicht übermäßig christenfreundlichen Politik Trajans, hätte er sich von den Römern wohl erst recht nichts mehr erhofft.
 
Was spricht dagegen, hypothetisch von einer Entstehung dieser Texte im 2. Jahrhundert auszugehen, und zwar im relativ späten 2. Jahrhundert, also irgendwann zwischen Justin (um 150) und Irenäus (um 180)?
Was meiner Meinung nach noch dagegen spricht, dass die Evangelien (und somit auch die Apostelgeschichte) erst irgendwann Ende des 2. Jhdts. verfasst wurden und ihr Inhalt mehr oder weniger erfunden ist, ist die historische Stimmigkeit der Schilderungen in vielen Punkten, wenn es um Übereinstimmungen vor allem der Apostelgeschichte mit auch außerhalb des NT genannten Ereignissen oder Personen geht. Ich bezweifle, dass ein Autor oder gar Fälscher Ende des 2. Jhdts. das so überzeugend hinbekommen hätte.
Nur zwei Beispiele:
In Kap. 13 der Apostelgeschichte wird der Prokonsul Sergius Paulus von Zypern erwähnt. In Kap. 18 der Apostelgeschichte über den Aufenthalt von Paulus in Korinth werden sowohl der Prokonsul von Achaea namens Gallio als auch die Vertreibung von Juden aus Rom durch Claudius erwähnt. Für beide Prokonsuln und die Vertreibung gibt es auch außerbiblische Belege. Insbesondere bei den beiden Statthaltern frage ich mich, ob ein Verfasser/Fälscher aus dem späten 2. Jhdt. überhaupt in der Lage gewesen wäre, in seinen Text die korrekten Statthalter einzufügen. Er hätte vermutlich massive Schwierigkeiten gehabt, herauszufinden, wer zur fraglichen Zeit überhaupt Statthalter war. In den üblichen römischen Geschichtswerken zur Kaiserzeit wäre er nicht fündig geworden, da sie in erster Linie die Geschichte der Kaiser schilderten und auf die Provinzen und ihre Statthalter normalerweise nur eingingen, wenn der Kaiser mit ihnen zu tun hatte oder wenigstens etwas Aufsehenerregendes passierte, was weder in der Statthalterschaft des Gallio noch in der des Sergius Paulus der Fall war. Um herauszufinden, wer zur fraglichen Zeit jeweils Statthalter war, hätte der Verfasser also vermutlich ein offizielles Archiv in Rom oder der jeweiligen Provinzhauptstadt konsultieren müssen. Aber warum hätte er sich diese Mühe überhaupt machen sollen? Von den Lesern Ende des 2. Jhdts. war doch ohnehin kaum einer in der Lage nachzuprüfen, ob die in der Apostelgeschichte erwähnten Statthalter überhaupt stimmen, der Autor hätte also einfach irgendwelche Namen erfinden können, ohne dass es seinen Lesern aufgefallen wäre.
(Wie schwer es ist, ordentliche Fälschungen hinzubekommen, ohne sich mit Namen oder der Chronologie zu vertun oder Anachronismen einzubauen, sieht man sehr schön an diversen in der Historia Augusta enthaltenen "Original"-Dokumenten oder den in ihr enthaltenen "autobiographischen" Angaben des angeblichen Autors "Flavius Vopiscus". - Und das, obwohl der HA-Verfasser vermutlich auf wesentlich bessere Quellen zurückgreifen konnte als irgendein Christ in der Provinz.)

Die vielleicht größte Merkwürdigkeit liegt in der Nichterwähnung der sehr umfangreichen Briefaktivitäten des Paulus. Warum wird das in der Apg verschwiegen?
Warum sollten sie erwähnt werden?
 
Und steht das nicht sinnlogisch im Widerspruch zu deiner Vermutung, dass sie erst nach 150 entstanden sein sollen?


Ich meinte, er müsste sie gekannt haben, wenn sie tatsächlich aus einer frühen Phase des Christentums stammten. Da er sie aber nicht erwähnte, liegt der Schluss nahe, dass sie erst nach seiner Schaffenszeit verfasst wurden. Das von dir zitierte Argument soll nur besagen, dass zwischen der Prä-Kanonisierung und Justins „Schweigen“ ein Widerspruch besteht: nämlich der zwischen dem Stellenwert der Evangelien und der Nichterwähnung bei Justin. Du hast ja gefragt, warum Justin auf die Evangelien überhaupt hätte eingehen sollen. Ich sagte: Weil sie ihm eigentlich hätten bekannt sein müssen. Der Widerspruch liegt nicht im Argument, sondern – irgendwie – in der Sache.
Justin bezieht sich in seiner Apologie aber auf andere, apokryphe Texte, die er "Denkwürdigkeiten der Apostel (bzw. des Petrus)" nennt.

Kannst du die Stelle genauer benennen? Ich finde entsprechendes nur in der ersten Apologie ("Denn die Apostel haben in den von ihnen stammenden Denkwürdigkeiten, welche Evangelien heißen, überliefert..."), von Petrus ist dort aber nicht die Rede. Was dort weiterhin steht entspricht am ehesten der Version des 1. Korintherbriefes von Paulus.

Die Stelle ist Justin, Dial. 106,3 (PTS 47, 252). Allerdings ist umstritten, ob sich Justin da wirklich auf Petrus bzw. das Petrusevangelium bezieht oder aber auf das Markusevangelium. Letzteres ist jedenfalls nur eine Vermutung, während zumindest die Nähe Justins zum Petrusevangelium nicht in Frage steht.

Chan:
Marcion, der in den 30-40ern des 2. Jh. wirkte, kannte die vier Evangelien auch nicht, dafür aber einige Paulusbriefe, von denen manche radikalkritischen Theologen meinen, er könnte sie selbst fabriziert haben.

Ich kenne eigentlich die Behauptung, dass Marcion das Lukasevangelium abgespeckt habe.

Es gibt zwei Thesen: erstens die von dir genannte, dann die, dass Marcion eine frühe Fassung des „Lukas“-Ev besaß, also nicht die uns bekannte neutestamentliche Fassung. Es könnte daher sein, dass die neutestamentliche, also katholische Fassung nur ein erweiterte und katholisierte Version des ursprünglichen, Marcion nahestehenden Textes ist. Das würde bedeuten, dass das Lukas-Ev des NT zeitlich nach Marcion entstanden ist.

Chan
Auf Kathpedia (Liste der Päpste) liest man:

Bis zum Jahr 235 sind die Päpste nicht wirklich historisch gesichert.

Das ist schon mal eine suboptimale Basis für die Annahme der Echtheit des Briefes.

Du überstrapazierst diese Aussage ein wenig. Sie dürfte in erster Linie für die genauen Jahre der Amtszeiten gelten, weniger für die Existenz eines römischen Bischofs und der Personen, die dieses Amt ausübten an sich.

Über Clemens weiß man konkret doch überhaupt nichts. Nichts an ihm und seinem angeblichen Pontifikat ist gesichert. Es gibt nur Vermutungen.Sein Pontifikat soll vor der Wende zum 2. Jh. gelegen haben, nun lässt aber nichts in den Quellen darauf schließen, dass es eine einheitliche Leitung der römischen Gemeinde oder einer anderen Gemeinde im 1. Jh. überhaupt gab. Der Bibelforscher Willem Christiaan van Manen schrieb in der Encyclopaedia Biblica (1899–1903) im Art. Old-Christian literature:

Es wird... "still firmly maintained by such scholars as HARNACK and LIGHTFOOT, that the writing (1. Clemensbrief, Anm. Chan) may have been the work of a certain Clement concerning whom nothing is known except what can be gathered from 'his' epistle, has no real value; and to connect it with the further supposition that this Clement was an influential member of the governing body of the Roman church - the martyr-bishop of legend - is not to be recommended. The epistle furnishes no ground for it, but rather the reverse."

Chan:

* Der im Brief geschilderte korinthische Gemeindekonflikt wirkt unglaubwürdig und konstruiert und ist anderweitig nicht belegt.

Wenn anderweitig nicht belegte Dinge aus Quellen ausreichende Indizien dafür wären, dass eine Quelle unecht sei, dann könnten wir ziemlich viel dessen, was wir aus der Geschichte kennen, zusammenstreichen, weil sie nur in einer Quelle erwähnt werden.

Wenn es um eine christliche Quelle geht, ist, meine ich, immer Vorsicht angesagt. Der Akzent des Arguments liegt zudem auf „unglaubwürdig und konstruiert“. Damit ist die angebliche Situation in der korinthischen Gemeinde gemeint, wo sich die Gemeinde aufgrund des Protestes einiger weniger Mitglieder gegen ihre Presbyter gestellt haben soll.
Das mit der Nichtbelegung ist zusätzlich gemeint.

Chan:
Petrus und Paulus sind historisch nicht gesichert. Nichts deutet überzeugend darauf hin, dass Petrus etwas anderes ist als eine "mythologische" Figur. Was Paulus betrifft, scheinen die Dinge komplizierter zu liegen, aber auch er ist in außerchristlichen Quellen nicht belegt.
Wer außer Christen sollte denn von Petrus und Paulus berichten, wenn Geschichtsschreibung in erster Linie Herrschergeschichte war?

Na gut, aber nicht mal ein einziges Wörtchen, und das bei der angeblich so umfangreichen Aktivität von Paulus...

Chan:
Schon Bruno Bauer hielt die Apg für einen Fake der Katholiken Mitte des 2. Jh. mit dem Zweck, das gänzlich anders geartete und ihnen nicht genehme Paulusbild der Briefe zu konterkarieren.
Chan:
Die vielleicht größte Merkwürdigkeit liegt in der Nichterwähnung der sehr umfangreichen Briefaktivitäten des Paulus. Warum wird das in der Apg verschwiegen?

Dann muss man sich fragen, warum die Apostelgeschichte von jemandem geschrieben wurde (bzw. die Illusion davon entworfen wurde), der in den Briefen namentlich erwähnt wird und warum die Kirche so blöd gewesen ist, Briefe und Apostelgeschichte, die doch angeblich Gegenentwürfe zueinander gewesen sein sollen, dann gemeinsam zu kanonisieren. Das passt alles nicht so ganz zusammen.

Der Theorie der Paulusbrief-Fälschung zufolge lief das in etwa so: Marcion gab Briefe (einem fiktiven oder legendären Paulus zugeschrieben) heraus, die einen so großen Erfolg hatten, dass die Katholiken sie „annektierten“ und katholisierend überarbeiteten, ohne aber den quasi-gnostischen sowie judentumkritischen Charakter gänzlich auszulöschen. So konnte die römische Kirche „Paulus“ vereinnahmen. Die Apg wurde verfasst, um ein genehmeres Bild von Paulus zu entwerfen, das mit den Anschauungen der Judenchristen vereinbar war.​

PS. Auf Raveniks Antworten gehe ich morgen ein.​
 
Na gut, aber nicht mal ein einziges Wörtchen, und das bei der angeblich so umfangreichen Aktivität von Paulus...
Das ist doch nicht so erstaunlich. Auch über andere Kulte im Römischen Reich und ihre Anfänge ist unser Wissen höchst mangelhaft. Wir wissen auch nicht wirklich etwas darüber, wie der Isiskult nach Rom gelangte (nur dass er im frühen 1. Jhdt. v. Chr. in Rom bereits bestand und von vielen als Ärgernis bzw. Problem wahrgenommen wurde), und auch die Ursprünge des Mithraskults sind höchst unklar. Wenn sich also kein (erhaltener) stadtrömischer Autor die Mühe machte, genau darzustellen, wie der bekannte (und später auch geschätzte) Isiskult in der Reichshauptstadt begann, wieso sollte sich dann einer mit einem Missionar einer religiösen Splittergruppe beschäftigen, der durch ein paar östliche Provinzen reiste?

Wenn in einem Geschichtswerk eines heidnischen Autors des 1.-3. Jhdts. etwas über die Reisen des Paulus stehen würde, dann wäre der Verdacht wirklich naheliegend, dass es sich um ein späteres Einschübsel eines christlichen Bearbeiters handeln würde ...
 
Noch einmal zum Ersten Clemensbrief. So ganz nachvollziehbar sind Deine Argumente für mich nicht.

Erst im 44. Kap. kommt der Verfasser zur angeblich dringlichen Hauptsache (ein Gemeindekonflikt in Korinth).
Die Kapitel bis dahin füllt er mit langen und mit zig Bibelzitaten gespickten Ermahnungen zur Eintracht und Demut und Warnungen vor Neid und Missgunst. Genau darum geht es aber im Brief: Die Streithanseln in Korinth mögen sich wieder in Eintracht und Demut üben. Auch bei der "Hauptsache" tut er nichts anderes als die Gemeinde in Korinth zu ermahnen; konkrete, auf bestimmte Personen bezogene Anordnungen trifft er nicht, dazu war er von Rom aus vermutlich auch gar nicht in der Lage. Der ganze Brief ist also keine konkrete Streitschlichtung, sondern ein Mahn- und Lehrschreiben über Eintracht, Demut und Gehorsam. Daher sind auch die ersten 43 Kapitel keineswegs eine "Themaverfehlung".

In 44,1 wird die apostolische Sukzession thematisiert, was viel eher in die Mitte des 2. Jh. passt.
Und warum nicht schon ins späte 1. Jhdt.?

Der Text ist deutlich zu umfangreich für einen Brief.
Warum? Wie lange darf denn ein Brief maximal sein?

Der im Brief geschilderte korinthische Gemeindekonflikt wirkt unglaubwürdig und konstruiert und ist anderweitig nicht belegt.
Was findest Du unglaubwürdig? Der Konflikt wird ohnehin nur angedeutet, also bei den Empfängern des Briefes als bekannt vorausgesetzt. Einzelheiten erfahren wir gar nicht.
Dass er anderweitig nicht belegt ist, ist ja wohl nicht erstaunlich. Für viele christliche Gemeinden des späten 1. Jhdts. ist gar nichts belegt, so gut ist unsere Quellenlage zum frühen Christentum nun mal leider nicht.

Das Verhältnis von Petrus und Paulus wird als harmonisch geschildert, was auf eine spätere Entstehungszeit hinweist.
Wo wird es als harmonisch geschildert? Petrus wird im gesamten Brief nur zweimal erwähnt: Beim ersten Mal steht nur, dass er viel zu erleiden hatte. Beim zweiten Mal wird auf den im 1. Korintherbrief geschilderten Konflikt in der Gemeinde in Korinth Bezug genommen, wo sich Parteiungen von Anhängern des Paulus, des Petrus und des Apollos gebildet hatten.
 
Ich meinte, er müsste sie gekannt haben, wenn sie tatsächlich aus einer frühen Phase des Christentums stammten. Da er sie aber nicht erwähnte, liegt der Schluss nahe, dass sie erst nach seiner Schaffenszeit verfasst wurden.

Du meinst also, weil Iustinus auf Name Dropping verzichtet hat, waren ihm die Evangelisten u./o. Apostel unbekannt?

Du hast ja gefragt, warum Justin auf die Evangelien überhaupt hätte eingehen sollen. Ich sagte: Weil sie ihm eigentlich hätten bekannt sein müssen. Der Widerspruch liegt nicht im Argument, sondern – irgendwie – in der Sache.
Das ist keine zufriedenstellende Antwort. Iustinus schreibt ja nichts über die Geschichte der Christen, sondern er schreibt über die aktuelle Verfolgungssituation und versucht darzulegen, dass die Gerüchte über die Christen nicht stimmen. Seine Adressaten sind Nichtchristen, für die die Evangelisten keine Autorität besitzen.
Warum hat er sie nicht benannt? Zunächst mal, wie eben geschrieben, weil sie keine Autorität für seine Adressaten hatten. Dann aber möglicherweise auch, weil ihre Nennung nicht zu seinem Sujet passte und zu guter Letzt - das ist spekulativ, sollte man aber mal drüber nachdenken - vielleicht, um die Verfolger nicht auf den größten Schatz der christlichen Gemeinden aufmerksam zu machen: Ihre Schriften.

Die Stelle ist Justin, Dial. 106,3 (PTS 47, 252).
Danke, ich hatte mir nur die Apologien angesehen, nicht den Dialog.

Über Clemens weiß man konkret doch überhaupt nichts. Nichts an ihm und seinem angeblichen Pontifikat ist gesichert. Es gibt nur Vermutungen.Sein Pontifikat soll vor der Wende zum 2. Jh. gelegen haben, nun lässt aber nichts in den Quellen darauf schließen, dass es eine einheitliche Leitung der römischen Gemeinde oder einer anderen Gemeinde im 1. Jh. überhaupt gab.
Das gilt aber für viele Menschen, nicht nur christliche Bischöfe, dass wir kaum Substantielles über sie wissen.
Nehmen wir mal Arminius, der das römische Reich an den Rand einer Katastrophe führte: Über den wissen wir ebenso fast nichts, kaum mehr als seine vermutlichen Lebensdaten und dass er eine zeitlang in der römischen Armee gedient hat. Mit dieser Argumentation müssten wir ihn und viele andere Figuren aus der römischen und mittelalterlichen Historiographie völlig streichen, weil wir de facto nichts über sie wissen.



Der Bibelforscher Willem Christiaan van Manen
Was mir auffällt, ist, dass du deine Argumentation immer wieder auf Junghelianer und Radikalkritiker aufbaust. Das ist das eine Extrem eines Bogens, auf dessen anderen Ende die Evangelikalen sitzen. Ich fände es sinnvoller, wenn wir uns auf Leute, die kein atheistisches oder antireligiöses bzw. kein evangelikales oder missionarisches Interesse haben beriefen, sondern auf solche, deren Interessen vorwiegend historische sind.
Van Manen beantwortet z.B. nicht die Frage, warum man einen Clemens hätte erfinden sollen. Wer hätte denn an eine erfundene Autorität glauben sollen? Und warum hat man den Brief nicht einer viel größeren Autorität untergeschoben?


Wenn es um eine christliche Quelle geht, ist, meine ich, immer Vorsicht angesagt.
Das ist ein Vorbehalt.

Der Akzent des Arguments liegt zudem auf „unglaubwürdig und konstruiert“. Damit ist die angebliche Situation in der korinthischen Gemeinde gemeint, wo sich die Gemeinde aufgrund des Protestes einiger weniger Mitglieder gegen ihre Presbyter gestellt haben soll.
Das mit der Nichtbelegung ist zusätzlich gemeint.
Noch mal: Wer hätte darüber berichten sollen, dass es innerhalb einer religiösen Splittergruppe Streit gab? Wen interessiert es denn heute, ob es in irgendeiner Kleinsekte Konflikte gibt? Solange nicht Tiere oder Kleinkinder in diesen Konflikten eine Rolle spielen, niemanden.
Und mehr noch: Warum hätte man von christlicher Seite einen Konflikt erfinden sollen? Hätte dies nicht eher ein negatives Licht auf die eigene Gemeinde geworfen?


Na gut, aber nicht mal ein einziges Wörtchen, und das bei der angeblich so umfangreichen Aktivität von Paulus...
S.o.: Wen hätte es interessieren sollen...?

Der Theorie der Paulusbrief-Fälschung zufolge lief das in etwa so: Marcion gab Briefe (einem fiktiven oder legendären Paulus zugeschrieben) heraus, die einen so großen Erfolg hatten, dass die Katholiken sie „annektierten“ und katholisierend überarbeiteten, ohne aber den quasi-gnostischen sowie judentumkritischen Charakter gänzlich auszulöschen. So konnte die römische Kirche „Paulus“ vereinnahmen. Die Apg wurde verfasst, um ein genehmeres Bild von Paulus zu entwerfen, das mit den Anschauungen der Judenchristen vereinbar war.
Und welche Belege gibt es dafür?
 
@El Quichote:

Das gilt aber für viele Menschen, nicht nur christliche Bischöfe, dass wir kaum Substantielles über sie wissen.



Ob Clemens nun wirklich lebte oder nicht, würde auch kaum jemanden interessieren, wäre da nicht die Frage seiner angeblichen „Zeugenschaft“ die Paulusbriefe betreffend. Da die Frage der Evangeliendatierung eine ziemlich fundamentale Bedeutung für den wahren Stellenwert der Evangelien hat, rückt das die Clemensfigur natürlich in den Fokus und wirft zwangsläufig die Frage nach seiner Historizität auf. Nur in diesem Kontext ist die Frage (wissenschaftlich) überhaupt interessant.


Was mir auffällt, ist, dass du deine Argumentation immer wieder auf Junghelianer und Radikalkritiker aufbaust. Das ist das eine Extrem eines Bogens, auf dessen anderen Ende die Evangelikalen sitzen. Ich fände es sinnvoller, wenn wir uns auf Leute, die kein atheistisches oder antireligiöses bzw. kein evangelikales oder missionarisches Interesse haben beriefen, sondern auf solche, deren Interessen vorwiegend historische sind.


Ich unterscheide da lieber zwischen kritischen und konservativen Bibelforschern. Die Grenzlinie ist nicht gleichbedeutend mit „atheistisch / theistisch“. Es gibt in der kritischen Szene auch christliche Theologen, wie z.B. H. Detering (ehemaliger Pfarrer) und R. M. Price, die aber eine eigene, „radikalkritische“ Sicht auf die Quellen und deren konservative Interpretation haben. Der bekannteste Vertreter der holländischen Radikalkritik war der Theologe van Eysinga, der eine Zeitlang ebenfalls als Pfarrer tätig war. Auch der Theologe van Manen war Christ. Und natürlich haben alle von ihnen ein historisches Interesse mit Fokus auf den Entstehungsbedingungen des Christentums.

Und welche Belege gibt es dafür?

Argumente für die Paulus/Marcion-Theorie findest du zuhauf hier sowie auf anderen Seiten bei Detering radikalkritik. de

Gruß Chan
 
Zuletzt bearbeitet:
Ob Clemens nun wirklich lebte oder nicht, würde auch kaum jemanden interessieren, wäre da nicht die Frage seiner angeblichen „Zeugenschaft“ die Paulusbriefe betreffend. Da die Frage der Evangeliendatierung eine ziemlich fundamentale Bedeutung für den wahren Stellenwert der Evangelien hat, rückt das die Clemensfigur natürlich in den Fokus und wirft zwangsläufig die Frage nach seiner Historizität auf. Nur in diesem Kontext ist die Frage (wissenschaftlich) überhaupt interessant.

Weißt du, es ist verständlich, wenn man einer bekannten Persönlichkeit, also Petrus, Paulus oder einem der übrigen Apostel, eine theologische Schrift unterjubelt, um seine eigene Theologie als von einer etablierten Autorität stammend zu verbreiten. Aber die Erfindung eines sonst unbekannten Bischofs, wem sollte das etwas bringen? Das ergibt keinen Sinn.

Ich unterscheide da lieber zwischen kritischen und konservativen Bibelforschern.

Das ist zu einfach. Denn sowohl bei den Konservativen, als bei den Radikalkritikern stehen eben nicht historische Interessen im Vordergrund. Für uns Historiker ist die Frage nach dem Alter der Quellen durchaus bedeutsam, sie zu stellen ist plausibel und berufsethisch sogar fast zwingend. Bei theologisch (noch immer) bedeutsamen Texten des Urchristentums ist das nur leider ein ideologisches Minenfeld.

Die Grenzlinie ist nicht gleichbedeutend mit „atheistisch / theistisch“. Es gibt in der kritischen Szene auch christliche Theologen, wie z.B. H. Detering (ehemaliger Pfarrer) und R. M. Price, die aber eine
eigene, „radikalkritische“ Sicht auf die Quellen und deren konservative Interpretation haben. Der bekannteste Vertreter der holländischen Radikalkritik war der Theologe van Eysinga, der eine Zeitlang ebenfalls als Pfarrer tätig war. Auch der Theologe van Manen war Christ. Und natürlich haben alle von ihnen ein historisches Interesse mit Fokus auf den Entstehungsbedingungen des Christentums.
Argumente für die Paulus/Marcion-Theorie findest du zuhauf hier sowie auf anderen Seiten bei Detering radikalkritik. de

Dass Detering hier ins Forum getragen wird, ist nicht das erste Mal.

Eine gepfefferte Kritik an der Position Deterings findet sich ebenfalls auf der Seite:
Detering will von seinen Lesern jedoch zunächst gar nicht als Theologe, sondern als kritischer Historiker verstanden sein. Will er an diesem Anspruch gemessen werden, so müßte man eine durchgehend methodisch abgesicherte Argumentation erwarten. Darin aber wird der Leser je länger je mehr enttäuscht. Zwischendurch wird er auch einmal durch kurzweilige Studien- und Reiseerinnerungen unterhalten. Die Quellentexte kommen dagegen nicht angemessen zur Geltung. Wenn sie herangezogen werden, dann bereits durch die Brille einer sehr einseitigen Interpretation betrachtet. Vor allem aber werden die Kriterien der Argumentation nicht durchgehalten.

[...] Bei der eigenen Geschichtskonstruktion dominiert dann aber blühende Fantasie, die freilich als kritische Auseinandersetzung bezeichnet wird. Das Fehlen außerchristlicher Zeugnisse stört hier nicht, nicht einmal, daß es über Marcion nur indirekte Nachrichten bei den Kirchenvätern gibt. Der angenommene Urtext der Paulusbriefe wird nur in kleinsten Kostproben vorgeführt; diese bleiben reine Vermutung, und jeder überlieferungsgeschichtliche Anhaltspunkt fehlt für sie. Die These der Gleichsetzung des legendarischen Paulus mit dem historischen Magier Simon hat mit den Texten der Paulusbriefe ernsthaft überhaupt nichts mehr zu tun. Zur Stützung dieser These werden jetzt vielmehr andere legendarische und tendenziöse Texte zur Grundlage einer "historischen Spurensuche" gemacht. Mit solcher Willkür laßt sich alles "beweisen" .
SELK
 
Für den Formatierungsfehler (ein Abschnitt in drei Einzelzitate zerhackt) kann ich nichts, Behebungsversuche funktionieren nicht.
 
:rechts: Johannes der Täufer: Manche der Erzählungen über den Täufer ergeben m.E. nur in zwei Fällen Sinn: Entweder sie stimmen :S oder aber Johannes der Täufer hatte noch Anhänger, die man von der Wahrheit des Christentums überzeugen wollte.

Darf ich fragen, wie du das meinst mit "die man von der Wahrheit des Christentums überzeugen wollte"? Und auf welche Bibelstellen du dich beziehst?

Johannes der Täufer war ja sozusagen der "Vorgänger" Jesu.
Die Taufe war "Sündenbekenntnis und der Versuch, ein altes, missratenes Leben abzulegen und ein neues zu empfangen" *). Durch die Taufe begibt sich Christus Jesus eben selbst hinunter zu den Sündern, die sich im Jordan taufen lassen.

Die Taufe des Johannes hat aber auch durchaus politische Hintergründe: Nach der Zerstörung Jerusalems 70 n. Chr. traten vor allem die Pharisäer in den Vordergrund, die sich dadurch auszeichneten, dass sie ihr Leben ganz nach der Torah und dem Tanach ausrichteten und sich sehr streng an das (jüdische) Gesetz hielten. Sie wollten sich dem steigenden Einfluss der römisch-hellenistischen Kulte und Denkweisen entziehen.
Es ist also nicht auszuschließen, dass Johannes der Täufer ebenfalls Mitglied dieser Gemeinschaft gewesen ist, ehe er als Eremit in die Nähe des Jordans zog, um dort die Gläubigen zu taufen. Die Taufe war immer verbunden mit einer Beichte, einem Sündenbekenntnis und einem "flammenden Ruf zu einer neuen Weise des Denkens und des Tuns".*)

Johannes fungiert laut Johannesevangelium als Wegbereiter Christi, denn er kündigt das Reich Gottes an und verkündet, dass nach ihm einer kommen werde, der weitaus größer ist als er selbst (Joh 1,23).
Somit lehrt nicht Johannes der Täufer die christliche Lehre (die es zu dem Zeitpunkt noch nicht gab), sondern die christliche Lehre bezieht sich auf Johannes den Täufer, zumindest in puncto Taufe.
Zu nennen wären auch noch zwei andere Stellen: "Ich sende meinen Boten vor dir her; er soll den Weg für dich bahnen" (Mt 11,10) bzw. "Und du, Kind, wirst Prophet des Höchsten heißen; denn du wirst dem Herrn vorangehen und ihm den Weg bereiten" (Lk 1,76).


__________
*) Ratzinger, Joseph: Jesus von Nazareth. Erster Teil. Von der Taufe im Jordan bis zur Verklärung. Freiburg im Breisgau: Herder, 2007.
 
@ Decurion: Dass laut den Quellen zwischen Johannes dem Täufer und Jesus kein "Konkurrenzkampf" stattfand, steht außer Frage (das hat El Q. auch nicht behauptet). Es besteht aber doch die Möglichkeit, dass die nächste Jesus-Jünger-Generation unter übrig gebliebenen Johannes-Jüngern für den Glauben an Jesus als den Messias warb. Das könnte (als Möglichkeit formuliert) mit ein Grund für die Aufnahme der Erzählungen über Johannes den Täufer in die Evangelien gewesen sein. Das wiederum wäre ein Indiz für eine Entstehungszeit der Evangelien im 1. Jh. n. Chr. Das ist doch eine saubere historische Überlegung od. These.
El Q. hat ja selbst schon die zweite Möglichkeit dafür, warum die Erzählung von den Evangelisten geboten wird, genannt: Johannes könnte sich, wie es die Evangelien sagen, tatsächlich als "Vorläufer" Christi verstanden haben. Das nimmst Du gemeinsam mit Ratzinger/ Benedikt an (und ich persönlich finde auch, dass die Quellenlage diese Annahme stützt). In solchem Fall kann man dann allerdings aus der Tatsache der Existenz der Täufer-Passagen i. d. Evangelien keine Argumente für eine bestimmte Entstehungszeit der Evangelien ziehen. Um die Frage nach der Entstehungszeit geht es hier ja aber.

Vielleicht müsste man sich mal auf das Alter der frühesten Papyri bzw. Papyrus-Fragmente der Evangelien konzentrieren. Ich habe da z. B. in schwacher Erinnerung, dass in der judäischen Wüste vor noch gar nicht langer Zeit ein kleiner Papyrus-Schnipsel gefunden wurde, auf dem etwas aus dem Markus-Ev. (oder Matthäus-Ev.?) stand, und der mittels einer ziemlich aussagekräftigen Technik (vielleicht war es die 14C-Methode?) ins 1. Jh. datiert werden konnte. Hat da jemand Ahnung von?
 
Vielleicht müsste man sich mal auf das Alter der frühesten Papyri bzw. Papyrus-Fragmente der Evangelien konzentrieren. Ich habe da z. B. in schwacher Erinnerung, dass in der judäischen Wüste vor noch gar nicht langer Zeit ein kleiner Papyrus-Schnipsel gefunden wurde, auf dem etwas aus dem Markus-Ev. (oder Matthäus-Ev.?) stand, und der mittels einer ziemlich aussagekräftigen Technik (vielleicht war es die 14C-Methode?) ins 1. Jh. datiert werden konnte. Hat da jemand Ahnung von?

Hab mich nochmal informiert. Meine "schwache Erinnerung" war tatsächlich sehr, sehr schwach, sodass ich einiges durcheinander gebracht habe.

Zur Richtigstellung:

Papyrus 7Q5: In einer Qumran-Höhle in der judäischen Wüste wurde ein Papyrus-Schnipsel gefunden mit nur 20 Buchstaben (davon 10 wohl nur fragmentarisch erhalten). Der Text gibt Markus 6, 52-53 wieder.
Die Überlegungen zur Datierung dieses Fragments sind nun folgende: Die Siedlung Qumran wurde 68 n. Chr. von den Römern überrannt, war hiernach Ruine; und es gibt keine Anzeichen dafür, dass die Höhlen später noch einmal als Schrift-Archiv o. ä. gedient haben (außer eben vielleicht 7Q5 ?). Folglich müsste das Markus-Fragment vor 68 n. Chr. entstanden sein. Interessant ist, dass, noch bevor klar war, dass der Text aus dem Mk.-Ev. stammt, Datierungsvorschläge von Experten gemacht worden sein sollen, die
die Entstehung von 7Q5 um 50 n. Chr. ansetzten, und zwar aufgrund paläographischer Indizien.

Papyrus mit Mt. 26: Um 1900 wurden im ägyptischen Luxor drei Papyrusfragmente aus dem 26. Kapitel des Matthäus-Evangeliums gefunden, die seitdem im Magdalen College in Oxford liegen (Zwei Matthäus-Fragmente die etwas aus Kapitel 3 u. 5 wiedergeben, aber aller Wahrscheinlichkeit aus dem selben Kodex wie die Mt. 26-Fragmente stammen, liegen in Barcelona). Ab 1994 begann sich der Papyrologe C. P. Thiede für die Fragmente zu interessieren und untersuchte sie unter anderem mit einem Laserrastermikroskop, um alle Details und Feinheiten der Schrift sichtbar zu machen und somit die besten Voraussetzungen für einen paläographischen Vergleich mit bereits datierbaren Papyri zu schaffen. Thiedes paläographischen Vergleiche und Überlegungen sind spannend, aber zu komplex, als dass ich sie hier knapp wiederzugeben vermag. Jedenfalls kam er zu dem Ergebnis, dass die Fragmente um 70 n. Chr. oder früher entstanden sein müssen. Wenn ich mir seine Argumentation in "Der Jesus-Papyrus" ansehe, erscheint sie mir stichhaltig; aber ich hab letztlich keine Ahnung davon. Entscheidend ist, dass er hinsichtlich seiner Datierung in der Fachwelt nicht nur Zustimmung, sondern auch Widerspruch geerntet hat.

Das waren die beiden Dinge, die ich im vorherigen Beitrag durcheinander geworfen hatte und deshalb kurz richtig stellen wollte. Knallharte Beweise für eine Abfassung der Evangelien im 1. Jh. n. Chr. sind das wohl nicht, aber immerhin ein paar handfeste Indizien.
 
Zur Richtigstellung:

Papyrus 7Q5: In einer Qumran-Höhle in der judäischen Wüste wurde ein Papyrus-Schnipsel gefunden mit nur 20 Buchstaben (davon 10 wohl nur fragmentarisch erhalten). Der Text gibt Markus 6, 52-53 wieder.
Die Überlegungen zur Datierung dieses Fragments sind nun folgende: Die Siedlung Qumran wurde 68 n. Chr. von den Römern überrannt, war hiernach Ruine; und es gibt keine Anzeichen dafür, dass die Höhlen später noch einmal als Schrift-Archiv o. ä. gedient haben (außer eben vielleicht 7Q5 ?). Folglich müsste das Markus-Fragment vor 68 n. Chr. entstanden sein. Interessant ist, dass, noch bevor klar war, dass der Text aus dem Mk.-Ev. stammt, Datierungsvorschläge von Experten gemacht worden sein sollen, die
die Entstehung von 7Q5 um 50 n. Chr. ansetzten, und zwar aufgrund paläographischer Indizien.

Bei dem ersten genannten Pypyrus (7Q5) ist es sehr zweifelhaft, ob dieser wirklich ein Fragment aus dem Markusevangelium darstellt.

siehe zu den Einzelheiten: Papyrus 7Q5 ? Wikipedia
 
@Carolus: Danke für Hinweis und Link. Ich habe mich da wohl zu sehr auf die offensichtl. etwas "einseitige" Darstellung von Thiede verlassen.


Noch eine Anmerkung zur Ausgangs-These von Chan, die synoptischen Evangelien könnten zwischen Justinus d. Märtyrer und Irenaeus von Lyon entstanden sein, bzw. ca. zwischen 150 u. 180 n. Chr.:
Justinus gebraucht doch in seinen Schriften eine Menge von Zitaten aus allen drei synoptischen Evangelien, und wiederum aus den verschiedensten Kapiteln (also nicht nur aus einem "Leidensbericht" oder so). Z. B. hat Erwin Preuschen in seiner Zitatsammlung "Antilegomena" (1905) diese zahlreichen Evangelien-Zitate bei Justin auf knapp 20 Seiten (S. 33-52) gesammelt. Also müssen die synoptischen Evangelien doch schon vor Justin in den christl. Gemeinden im Umlauf gewesen sein.
 
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