Verbreitung des Christentums

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Chan

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Meiner Ansicht nach besteht Bedarf nach einer Klärung des Zusammenhangs zwischen der Entwicklung christlicher Ideen und der Ausbreitung und Etablierung des Christentums im römischen Reich. Ich möchte das Thema hier mit einem heuristischen Entwurf einleiten.

(Wegen Überlänge des Textes poste ich Teil 2 in einem weiteren Beitrag)

Wie ich in einem anderen Thread schon schrieb, kann - und sollte - man zwischen verschiedenen christologischen Stadien des Christentums unterscheiden, deren Differenzen so gravierend sind, dass man geradezu von verschiedenen Religionen sprechen könnte. Zwischen dem Christentum bis zum Ende des 2. Jh. und dem späteren Christentum liegen Welten. Ohne den Wandel von einem zum anderen hätte das Christentum niemals den Sprung zur römischen Staatsreligion geschafft.

Da stellt sich sofort die Frage: Ist das spätere Christentum überhaupt noch als Christentum zu bezeichnen? Streng genommen, natürlich nicht. Schon Harnack war im 19. Jh. der Auffassung, dass sich das Christentum durch seine Hellenisierung zu weit von seinen Ursprüngen (soweit in den Evangelien fassbar) entfernt hatte. Ich unterscheide im folgenden ad hoc zwischen Christentum I und Christentum II.

Zum Christentum I:

Im jüdischen Palästina der augustäischen Zeit setzte sich die Population aus drei Schichten zusammen.

Ganz unten stand das Proletariat, die verarmten Handwerker, Bauern und besitzlosen Bettler. Die Bauern litten dermaßen unter der Steuerlast, dass viele in Schuldknechtschaft gerieten oder ihren Besitz verloren und Teil des städtischen Proletariats wurden. Der Leidensdruck dieser Armen, vor allem in Jerusalem, überstieg noch den des römischen Proletariats, da sie, anders als dieses, nicht über römisches Bürgerrecht verfügten und sich keiner Getreidezuwendungen und Zirkusspiele erfreuen konnten. Jerusalem hatte das nach Rom vermutlich umfangreichste städtische Proletariat im gesamten römischen Reich.

Die nächsthöhere Schicht war ein Bürgertum, dem es materiell gerade so gut ging, dass es sich mit den bestehenden Verhältnissen arrangieren konnte. Darüber erhob sich die dünne Schicht der Aristokratie, zusammengesetzt aus Adel, Priestern und reichen Kaufleuten.

Den drei Schichten lassen sich die drei politisch-religiösen Gruppen der Saduzäer, Pharisäer und Zeloten zuordnen. Die Saduzäer vertraten die Ideologie der obersten Schicht. Laut Josephus waren sie gering an Zahl, gehörten aber samt und sonders zu den Reichen und Mächtigen. Die Vertreter der Mittelschicht, des Bürgertums, waren, auch wenn sie teilweise dem Proletariat entsprangen, die Pharisäer. Laut Josephus bestimmten sie die religiös-kultischen Praktiken des Volkes und lehrten ein Zusammenwirken von göttlich gefügtem Schicksal und persönlicher Entscheidungsfreiheit.

Mit dem Proletariat hatten die Pharisäer und erst recht natürlich die Saduzäer nichts am Hut. Zwischen den Armen und den Pharisäern bestand sogar unverhohlene Feindschaft. Von den Frauen des Proletariats sagten die Pharisäer z.B., sie seien wie Tiere und dürften unter keinen Umständen geheiratet werden. Im Talmud finden sich viele Äußerungen dieser Art. Entsprechend groß war der Hass, der den Pharisäern aus dem Proletariat entgegenschlug.

Nicht minder groß war der Hass der Armen auf die Römer, mit denen die bürgerliche Mittelschicht und vor allem die Oberschicht ja kollaborierten. So entstand ab dem ersten Jahrzehnt uZ die Partei der Zeloten mit dem Ziel, die Wurzel des sozialen Übels, also die Römer, gewaltsam aus Palästina zu vertreiben. Ganz besonders war der Kaiserkult den Zeloten - und den Armen überhaupt - ein Dorn im Auge, da der Kaiser das Zentrum jenes Systems bildete, das die Armen unterdrückte.

Neben den militärisch-politisch ausgerichteten Zeloten versuchten aber auch religiöse Gruppen, auf ihre Weise mit der als unerträglich empfundenen sozialrepressiven Situation fertigzuwerden. Anders als die Zeloten propagierten sie das, was man modern als ´Flucht in die Phantasie´ bezeichnen kann, und griffen dabei auf die altjüdische Idee vom ´Messias´ zurück, welcher das bedrängte Volk befreit und dem göttlichen Heil zuführt. Zu den Repräsentanten der messianischen Bewegung gehörte auch die Gruppe um den historisch bei Josephus belegten Johannes den Täufer. Die unter dem exzessiven politischen Druck feindlicher Mächte wie den Assyrern und den Babyloniern entstandene Messias-Phantasie war in Zeiten der römischen Besetzung wieder hochaktuell geworden, entsprechend groß war die Zahl der Kandidaten, die sich um eine Anerkennung als Messias bewarben. Josephus nennt sie "Betrüger" und unterscheidet sie von den "Räubern", d.h. den Zeloten. Einige messianische Gruppen wurden von Römern als politische Gefahr eingestuft, da ihr antirömischer Hass unverkennbar war, und gewaltsam unterdrückt. Die Zeloten wiederum radikalisierten sich teilweise ("Sikarier"), verübten Attentate auf Bürger der Jerusalemer Mittelschicht und vernichteten ganze Dörfer, wenn sie sich ihnen nicht anschließen wollten.

Welche Rolle spielt die Jesus-Bewegung bei all dem? Ich will hier offen lassen, ob dieser Figur Historizität zukommt oder ob sie evtl. der phantasierte Heros eines jüdischen Geheimkultes war, denn für die Entwicklung der christologischen Ideen ist das sekundär. Spätetens ab dem 4. Jahrzehnt uZ ist die Historizität irrelevant, da die Dinge so oder so in der Phantasie der Christusanhänger in ihren Lauf nahmen. Bekanntlich hat sich schon Paulus (sofern selbst historisch) um biografische Details seines Idols nicht geschert, sein Jesus ist von einer Phantasiefigur kaum zu unterscheiden und scheint nur als Vehikel für paulinische Ideen zu dienen. Die Phantasie als religionsstiftender Faktor ist beim gegebenen Thema deswegen so hoch zu veranschlagen, weil die soziale Realität in Form der unüberwindlichen römischen Macht jedes konkrete Handeln zur Besserung der Lage als aussichtslos erscheinen ließ, so dass sich die Phantasie als befreiendes Ventil anbot.

Entscheidend ist, dass die Idee eines von Jahwe zum Sohn-Gott erhobenen (´adoptierten´) Menschen, der das jüdische Volk von seinen Leiden erlöst, dem Bedürfnis der proletarischen Masse eins-zu-eins entgegenkam. Für die Attraktivität dieser Figur spielten zwei Komponenten zusammen: zum einen der Wunsch nach Befreiung aus einer sozial misslichen Lage, zum andern der Hass auf die römisch-kaiserliche Autorität und ihren Kaiserkult sowie auf die Pharisäer. Die Jesus-Figur, von den Römern (real oder fiktional) gekreuzigt wie Tausende andere aus den Reihen der Armen, die sich gegen Rom erhoben, und als post mortem adoptierter Sohn Gottes zum Himmel auffahrend, um an der Seite des Vaters über die Welt zu richten - mit dieser Phantasie konnten die irdisch Unterdrückten ihr seelisches Leid vorzüglich verarbeiten. Durch sein Leiden am Kreuz war Jesus ein ideales Identifikationsobjekt, dessen Erhebung zum Sohn-Gott darüber hinaus den Vater-Hass kompensierte, den die Armen, durchaus bewusst, auf den Kaiser (die übermächtige Vaterfigur des Reichs) und, eher unbewusst, auf Jahwe, hegten, der offensichtlich kein Interesse am Wohl der Armen hatte. Durch Jesus als weltregierender Christus wird die kaiserliche Macht - natürlich nur in der Phantasie - depotenziert und dem bis dato im Himmel alleinherrschenden Jahwe ein Repräsentant der unterdrückten Klasse an die Seite gesetzt, seine Macht also beschnitten, denn das Gericht über die Menschen am Ende der Zeiten führen wird Jesus, nicht Jahwe.

Im Zuge dieser himmlischen Palastrevolution wird aus ´Jesus´ der himmlische Sohn-Christus und aus Jahwe der christliche Vater-Gott. Dabei ragen zwei Merkmale des christlichen Glaubens heraus: Das Ende der Welt bzw. das Erscheinen des Himmelreichs wird innerhalb weniger Jahrzehnte erwartet (sog. Naherwartung), und Jesus ist nicht ursprünglich der Sohn Gottes, sondern wird von Gott erst nach seinem Kreuzestod zur Gottessohnschaft erhoben (sog. Adoptionismus).

Was den Christuskult im jüdischen Umfeld so attraktiv machte, nämlich die in der Phantasie ausgelebte Rebellion gegen soziale Unterdrückung und damit verbunden gegen die Autorität des Kaisers, konnte natürlich auch außerhalb Palästinas, nämlich nach und nach im ganzen römischen Reich, bei Unterdrückten Zuspruch finden. Den Mitgliedern der korinthischen Gemeinde z.B. wird in 1 Kor 1,26 f. bescheinigt, in der Augen der Welt "schwach", "unedel" und "verachtet" zu sein:

... was der Welt für schwach gilt, das starke zu beschämen, und was der Welt für unedel gilt und verachtet ist, hat Gott auserwählt, was nichts ist, um zunichte zu machen, was etwas ist.

(Fortsetzung im ersten Antwort-Beitrag)


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(Fortsetzung des ersten Posts)

Zum Christentum II:


Aus leicht erkennbaren Gründen hätte sich die Version I mit ihrer sozialrebellischen Note im Römischen Reich außerhalb der unteren Schicht kaum nennenswert ausbreiten und etablieren können. Sollte ein römischer Adeliger einen gekreuzigten Verbrecher anbeten, der erst post mortem zum Gott wird? Nein, es mussten mehrere Veränderungen eintreten, damit das Christentum auch für höhere Schichten kompatibel wurde.

+ Das Dogma der Naherwartung musste wegfallen. Spätestens ab Mitte des 2. Jahrhunderts konnte kein Mensch mehr an das nahe Ende der Welt glauben, es hatte zu lange auf sich warten lassen. Laut Harnack löste man dieses Problem, indem man die Bedeutung der endzeitlichen Ankunft des Christus minderte und auf seine (angebliche) Ankunft zu Beginn des 1. Jahrhunderts verschob. Statt erst am Ende der Tage der Welt Erlösung zu bringen, vollbrachte dies Jesus in der neuen Sicht bereits im Zuge seines ersten Erscheinens. Die Harmonie der Welt, aus den Fugen geraten durch den Sündenfall, ist durch Kreuzestod und Aufstieg an die Seite des Vaters wiederhergestellt. Alles ist so, wie es sein sollte. Statt auf eine Veränderung sozialer Verhältnisse zu hoffen, richtet der Gläubige seinen Blick nach innen; es ist sein Vertrauen in Christus, das ihn als Individuum erlöst, unabhängig von äußeren Bedingungen.

+ Die ursprüngliche moralische Strenge der Lebensführung wird aufgelockert. Entscheidend ist nicht mehr, innerlich und äußerlich ein frommes Leben zu führen; es reicht nunmehr, sich innerlich an Christus zu binden, auch wenn man äußerlich Tätigkeiten nachgeht, die - gemäß Christentum I - im Widerspruch zum wahren Glauben stehen, z.B. ein Dienst für den Staat. Auf diese Weise wird das Christentum auch für Menschen annehmbar, die ihre gutbürgerliche Identität nicht aufgeben wollen. Diesen Wandel von der Ablehnung des Staats zur Anerkennung des Staats (dessen Ordnung nun als gottgewollt gilt) vollzieht das Christentum ab Anfang des 3. Jahrhunderts. Dementsprechend hat sich die Kirche als ein autoritäres System herausgebildet, das im Widerspruch zur antiautoritären Tendenz der ursprüngliche Lehre (soweit rekonstruierbar) steht. Die Kirchenstruktur hat sich der Staatsstruktur also angeglichen.

+ Ganz besonders wichtig: Die Umwandlung der Jesus-Figur vom zum Gott erhobenen Menschen (Adoptionismus) zum seit Beginn der Zeiten existierenden (präexistenten) Sohn Gottes, der bei seiner (ersten) Ankunft vom Himmel kam, um durch Maria (im Jungfrauenmodus) als Mensch geboren zu werden. Diese Lehre, wenn auch in Ansätzen schon früher vorhanden, etablierte sich als christliches Dogma (im Kampf gegen den andersdenkenden Arianismus) erst mit dem Konzil von Nizäa 325 uZ. In Röm 1,3-4 z.B. heißt es noch ganz adoptionistisch:

... über seinen Sohn, der aus dem Samen Davids geboren wurde nachdem Fleisch, der bestimmt wurde zum Sohne Gottes in Kraft nach dem Geiste der Heiligkeit seit der Auferstehung von den Toten: Jesus Christus, unser Herr...

Eine präexistente Gottessohnschaft ist nicht als ursprüngliche Lehre anzusehen. Sie hat sich vielmehr nachträglich in die Christologie hineingeschlichen, z.B. durch die Adaption der Logoslehre des Philon von Alexandria im Johannesevangelium. Durch die kaiserlich forcierten Entschlüsse des Konzils von Nizäa wird Jesus Christus nun endgültig als vollwertiger Gott etabliert, d.h. als Gott ´von Geburt´ her, nämlich durch den Vatergott, mit dem er nunmehr weseneins (homousios) ist. Erst das ermöglicht die Anbetung der Jesus-Figur als genuinen Gott, statt als zum Gott erhobenen Menschen.

Das bekannte Paradox der nizäanischen Glaubensformel - ´Jesus ist wahrer Mensch und wahrer Gott´ (Zwei-Naturen-Lehre) - erklärt sich aus den verschiedenen Umständen, unter denen das Christentum I und das Christentum II sich herausbildeten: Für Chr. I musste Jesus ein Mensch sein, der die Unterdrückten zur Identifikation einlud; für Chr. II musste er vom Start weg ein Gott sein (Präexistenzlehre), den auch die römische Oberschicht bedenkenlos anbeten konnte. Zudem fiel durch die Präexistenzlehre die ursprünglich rebellische Aura weg, die dem Menschen Jesus, der ein Gott wird, um an der Seite eines anderen Gottes zu regieren, anhaftete.

Mit diesen Neuerungen war die christliche Religion für eine Staatsreligion vorzüglich geeignet. Ob Konstantins Hinwendung zum Christentum auf einem politischen Kalkül basierte, ist nicht entscheidbar. Er ließ sich erst kurz vor seinem Tod taufen und tolerierte während seiner Regierungszeit auch nichtchristliche Kulte, was in der Summe dagegen spricht, dass er sich rundum als Christ fühlte. Die Ideologie von Christentum II ermöglichte dem Kaiser (und seinen Nachfolgern) jedenfalls die geistige Kontrolle der Untertanen in noch höherem Grad als durch eine polytheistische Religion. Warum? Christentum II propagierte, siehe oben, dass die Welt bereits im Idealzustand ist. In polytheistischen Religionen ist die Welt nie in einem Idealzustand, sondern ständig gefährdet, weshalb die Götter, die das Gefüge der Welt zusammenhalten, durch Opfer bei Laune zu halten sind. Aus neu-christlicher Sicht (Chr. II) aber hatte das ultimative Opfer des Gottessohnes die sündhafte Welt für alle Zeiten in eine stabile Harmonie transformiert. Augustinus prägte für den christlichen Ordnungsbegriff im 4. Jahrhundert den Begriff ´ordo´ (die gottgefügte Ordnung der Welt, in der jeder Mensch seinen von Gott gewollten Platz hat, der Kaiser nicht anders als der Sklave). Schon Paulus vertrat die gleiche Ansicht. Die christliche Ausrichtung auf die Innerlichkeit des Glaubens verschaffte ein Ventil bei aufkommender Unzufriedenheit mit äußerlichen Bedingungen. Menschen, die davon überzeugt sind, dass Gott alles für sie so eingerichtet hat, wie es sein soll, sind sehr leicht regierbar. Zudem generiert die christliche Lehre im Menschen ein noch höheres Maß an Schuldgefühl, als dies im polytheistischen Glauben üblich war. Menschen, die durch Schuldgefühle blockiert sind, lassen sich ebenfalls leicht regieren. Für die regierende Elite konnte das Christentum also als ein machtpolitisches Instrument erster Güte dienen.

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Zuletzt bearbeitet:
Leider habe ich jetzt nicht die Zeit auf alles einzugehen, daher nur ein paar wenige Punkte:
Weshalb soll das spätere Christentum kein Christentum sein? Jede Religion durchläuft Entwicklungen. Auch der Islam ist heute nicht mehr das, was er einmal war bzw. man sieht was verblendete Ewiggestrige damit anrichten, indem sie das Rad der Zeit zurückzudrehen versuchen. Was Du mit der Veränderung beschreibst ist doch eher die äußere Struktur, aber nicht die eigentliche Essenz dessen woran man als Christ glaubt und wonach man handeln soll und diese Botschaften sind einfach und gelten heute wie vor 2000 Jahren.
Das andere Äußere was Du mit der Veränderung beschreibst, ist doch eher das Ergebnis einer Bestrebung diese Inhalte in eine dogmatische Struktur einzubetten und damit kompatibel zu machen. Das heißt, dass das Christentum frauen- und sexualitätsfeindlich wurde, das ist nicht Teil der Lehre Jesu, soweit sie eruierbar ist, sondern das ist klar das Ergebnis anderer wie z.B. die von Dir zitierten Paulus und Augustinus.
Aber das ist nicht das eigentliche Christentum, sondern die ihm angetane Hülle mit der sich die Gläubigen konfrontiert sehen. Das ist ja ähnlich den in der Bibel beschriebenen Konflikten Jesu mit den Gelehrten seiner Zeit denen er dasselbe vorwirft, nämlich eine Erstarrung in Dogmen die zur Religion erhoben werden, während dadurch hingegen die wahren Lehren und Inhalte des Glaubens verdeckt werden.
Und diese Problematik findet sich - meine ich - wohl in jeder organisierten Religion, die ihre Glaubensspezialisten herausgebildet hat.
Somit sehe ich für mich kein Christentum I und II, sondern wenn dann schon eher eine Dogmatik I und II über das Christentum.

Das die Welt im Christentum schon einen Idealzustand erreicht hätte, kann ich so auch nicht sehen. Vielmehr war alles - wie Du ja selbst schreibst - alles vom Erwarten des Endzeitlichen geprägt und das gilt eigentlich bis ins Mittelalter hinein. Die Welt war im Christentum eher noch weniger in Ordnung als in Zeiten des Polytheismus, weil zu den real existierenden Feinden an den Grenzen des Reiches, noch die weit höhere Bedrohung des Heiles der eigenen Seele durch diese Feinde - und die nun im Inneren, wie Äußeren - hinzukamen, nämlich durch all jene, die nicht christlichen Glaubens waren. Gerade durch dieses Bedrohungsszenario für das eigene Seelenheil wurden ja die vom Christentum geführten Religionskriege ausgelöst. Zuvor gab es das eigentlich nicht richtig, aber dann schon. Man kann daher nicht sagen, dass die Welt im Christentum im Idealzustand lebte. Das Opfer Jesu, wie dann sein Tod am Kreuz interpretiert wurde, war die Wegbereitung und Heilsermöglichung für die Christen im Diesseits, damit für diese der Weg in eine zu erwartende Transzendenz überhaupt ermöglicht wurde.

Auch schon in polytheistischer Zeit gab es keine wirkliche Infragestellung der gesellschaftlichen Strukturen, so dass es eine Art sozialrevolutionäres Denken gegeben hätte. Das Christentum bot eher eine Möglichkeit diese unveränderliche Situation zu ertragen und schuf mit den für seine Zeit in der Tat revolutionär anmutenden sozialen Ideen von Nächstenliebe ohne Ansehen der Person für soziale Strukturen, die dieses Existieren erträglich machten. Wenn Augustinus, wie Du schreibst, die Weltordnung als gottgewollt betrachtet, dann gibt er damit nicht die Lehre des Christentums, sondern überhaupt die zeitgenössische Sicht einer nicht sozial denkenden Gesellschaft wieder.
 
@Chan: Schöner und lesenswerter Essay! Nicht als Kritik, eher als Ergänzung gemeint, möchte ich auf ein paar Punkte hinweisen:

  1. Deine soziale Analyse vergisst die Landbevölkerung - Fischer am See Genezareth, die den neugeborenen Jesus anbetenden "Hirten auf dem Felde" (=Beduinen?), usw. Die Integration dieser nicht-städtischen, wohl auch nicht-jüdischen/ judäischen Bevölkerung scheint mir ein wesentliches Element zu sein. Dieses Element ermöglicht später die "Internationalisierung" des Christentums, als politisch wünschenswerte Alternative zu regionalen, ethnischen Kulten mit entsprechendem Sprengstoff in der Spätphase des (viergeteilten) römischen Reiches.
  2. In diesem Zusammenhang verdient die synthetische Leistung des Christentums Beachtung. Über die Jahrhunderte wurden verschienste Elemente anderer Religionen, vom Mithraskult über matriarchale Traditionen (->Marienverehrung) bis hin zum Blitze schleudernden, zornigen "Gottvater" à la Zeus, Baal, Thor integriert. Dies verwässerte natürlich die Kernaussage, förderte aber die Ausbreitung und Akzeptanz der Religion.
  3. Schon Jesus als Person ist ambivalent. Die Bibel (wann immer durch wen entstanden) zeichnet eine Entwicklung vom pazifistischen Hippie der Bergpredigt zum Sozialrevolutionär, der - wohl nicht mehr gewaltfrei - Händler aus dem Tempel vertreibt. Diese Ambivalenz hat es Einzelnen, aber auch politischen Führern, erleichtert, sich den jeweils passenden Jesus bzw. die passende "Message" herauszusuchen.
  4. Paulus Mission, so sie stattgefunden hat (Du scheinst da Zweifel zu haben) konzentrierte sich auf große Städte (Ephesus, Korinth etc.) des römischen Reichs, und scheint sich nicht nur an das Proletariat, sondern auch an (jüdische?) Händler gerichtet zu haben. Auch die von Nero verfolgten Christen entstammten beileibe nicht alle der Unterschicht. Da scheint es eine weitere Dimension des frühen Christentums gegeben zu haben, die über sozialen Protest hinausgeht - früher Emanzipationsversuch des städtischen Bürgertums?
  5. Bei der Bewertung des Christentums II (Staatsreligion) sollte man sich auch ansehen, wie sich dies im ersten offiziell christlichen Staat, nämlich Armenien (314), lehrmässig begriff. Quellen habe ich dazu jedoch keine, dies ist v.a. ein technischer Kommentar.
    In jedem Fall denke ich, dass das Toleranzedikt von 313 nicht zufällig praktisch gleichzeitig mit der Erhebung des Christentums zur armenischen Staatsreligion erlassen wurde. Da ging es vermutlich auch um Sicherung bzw. Ausweitung des Einflusses auf diesen wichtigen Pufferstaat im Osten.
 
Auch schon in polytheistischer Zeit gab es keine wirkliche Infragestellung der gesellschaftlichen Strukturen, so dass es eine Art sozialrevolutionäres Denken gegeben hätte. Das Christentum bot eher eine Möglichkeit diese unveränderliche Situation zu ertragen und schuf mit den für seine Zeit in der Tat revolutionär anmutenden sozialen Ideen von Nächstenliebe ohne Ansehen der Person für soziale Strukturen, die dieses Existieren erträglich machten.
(Markierung von mir)
Ja, das darf ruhig auch mal in die Waagschale geworfen werden ...

Deine soziale Analyse vergisst die Landbevölkerung - Fischer am See Genezareth, die den neugeborenen Jesus anbetenden "Hirten auf dem Felde" (=Beduinen?), usw. Die Integration dieser nicht-städtischen, wohl auch nicht-jüdischen/ judäischen Bevölkerung scheint mir ein wesentliches Element zu sein.
(Markierung wieder von mir)
Deinen Grundgedanken von wegen "Internationalisierung" kann ich nachvollziehen. Aber die Wahrscheinlichkeit, dass die Hirten bei Bethlehem nichtjüdische Beduinen waren bzw. von Lukas als solche begriffen wurden, ist sehr gering. Sie als jüdische Judäer und die Fischer vom See Genezareth als jüdische Galiläer einzustufen, scheint mir sehr viel näher zu liegen. Eher kämen die drei Magier aus dem Orient in Betracht, wenn wir nach Nicht-Juden Ausschau halten (Die waren nur halt wieder vermutlich keine Landbewohner).
Was Jesus in den Evangelien sagt und tut, zeigt ihn m. E. sehr als Jude unter Juden. Er fühlte sich zuerst zu den zwölf Stämmen Israels gesandt. Klar, wo er Nicht-Juden begegnet, behandelt er sie nicht anders als Angehörige seines Volkes (ich denke da z. B. an die syro-phönizische Frau am Brunnen, die vermutlich keine Jüdin war). Aber Mühe sich in nicht-jüdische Gedankenwelten einzuarbeiten, hat sich Jesus m. E. nie gemacht. Wenn er einen Nicht-Juden in seinen Erzählungen brauchte nahm er, wie i. d. Geschichte vom barmherzigen Samariter, eben einen Samariter aus der unmittelbaren Nachbarschaft. Pilatus ließ er gewissermaßen mit einem Fragezeichen im Gesicht zurück. Jene "Internationalisierung" oder der Universal-Charakter des Christentums über das Judentum hinaus zeigte sich erst in der Apostelgeneration nach Jesu Erdenleben. Der Jesus der Evangelien selbst hatte zu Lebzeiten noch gar keine Kapazitäten und vermutlich lag es auch noch nicht in seinem Gedankenhorizont, seine Botschaft über die Grenzen seines Volkes hinaus oder gar weltweit zu verkündigen. Aber ich stimme dennoch zu, dass die "Weitherzigkeit" und der Funke der Universalität seiner Botschaft letztlich die Grundlage für eine internationale Verkündigung durch die Apostel und deren Nachfolgegenerationen bildete. Nur, wie gesagt, finde ich, kann man das ausgerechnet an den Hirten und den Fischern schlecht ablesen.
 
hat nicht der alte Mommsen geschrieben die Römer hätten das Christentum ursprünglich "gepusht" weil sie es als jüdische Sekte ohne die für sie lästige Gottesstaatsidee sahen?
 
Wann und wo sollen die Römer das Christentum ursprünglich gefördert haben?
Sämtlichen Zeugnissen aus dem 1. und 2. Jhdt. zufolge standen sie ihm doch bestenfalls indifferent oder aber eben negativ gegenüber.
 
Wann und wo sollen die Römer das Christentum ursprünglich gefördert haben? Sämtlichen Zeugnissen aus dem 1. und 2. Jhdt. zufolge standen sie ihm doch bestenfalls indifferent oder aber eben negativ gegenüber.

Zu Mommsen vs. Christentum auf die Schnelle hier ein Link:

http://archiv.ub.uni-heidelberg.de/propylaeumdok/46/1/Rebenich_Mommsen_1993.pdf

(S. 138/39)

Durch den glücklichen Fund der Hensel-Nachschriften seiner Kaiserzeit-Vorlesungen läßt sich Mommsens Verständnis der christlichen Religion im Imperium Romanum rekonstruieren. Er, der sich selbst als homo minime ecclesiasticus charakterisierte und dem ererbten Glauben ablehnend gegenüberstand, sah in dem Christentum einen «Köhlerglauben», allerdings ein Köhlerglauben für Grafen und Barone und deshalb historisch wirksam.

Das Heidentum, auf das engste mit der literarischen Kultur der Oberschicht verbunden, habe sich im vierten Jahrhundert überlebt und sei demnach politisch zu einem untauglichen Instrument geworden; aus diesem Grunde habe das intolerante Christentum triumphiert, die Religion der Plebejer.

(Vorstehendes ähnelt der von mir vorgetragenen Sichtweise)

Schließlich übernimmt er Gibbons Sicht, Roms Untergang sei durch die Christen herbeigeführt worden. Diese negative Beurteilung des Christentums läßt sich selbstredend auch in seinen Arbeiten nachweisen: So bezeichnete er etwa die Invektive gegen Nicomachus als carmen «non minus pium et Christianum quam ineptum et barbarum» und zu Harnacks Mission und Ausbreitung bemerkte er, «das Werk enthalte doch auch eine große Anklage gegen das Christentum, erst habe es das Reich zerstört und dann in und mit dem Reich auch die Nationalität; (...)

Für eine ausführlichere Antwort auf bisherige Antworten bitte ich noch um etwas Geduld.
 
Zuletzt bearbeitet:
hat nicht der alte Mommsen geschrieben die Römer hätten das Christentum ursprünglich "gepusht" weil sie es als jüdische Sekte ohne die für sie lästige Gottesstaatsidee sahen?

Dieser Gedanke Mommsens (so ihn Mommsen wirklich gehegt hat) hört sich logisch an. Dennoch frage auch ich mich, aus welchen Quellen der frühen Kaiserzeit man das wie herauslesen kann.
Mir fällt da allein die an anderer Stelle schon öfter besprochene Geschichte in der Kirchengeschichte des Eusebius ein: Zwei Verwandte Jesu aus Judäa werden als judenchristliche Davididen von Domitian verhört, schließlich aber wieder in die Freiheit entlassen, nachdem sich ihre politische Harmlosigkeit herausgestellt und Domitian sich vergewissert hatte, dass jenes Gottes-Reich des Messias Jesus gewissermaßen nicht von dieser Welt ist und die Judenchristen folglich keine politischen Ziele mit ihren religiösen vermengten. In dieser Geschichte "pusht" Domitian die Messias-Jesus-Sekte zwar nicht, aber sie dürfte ihm wenigstens lieber als andere messianische Hoffnungen und Bewegungen bei den Juden gewesen sein.

... Mommsen vs. Christentum ...
Nur weil sich der Beitrag für mich ein wenig so anhört, als ob Th. Mommsen hier als Referenz gegen das Christentum angeführt werden sollte (Entschuldige, falls ich das falsch aufgefasst habe):

Ob Mommsen Sympathie oder Ablehnung für bzw. wider Iulius Caesar hegte, scheint mir mehr über Mommsen selbst als über Caesar auszusagen. Genauso verhält es sich meiner Meinung nach mit Mommsen und seiner etwaigen Sympathie oder Antipathie für/ wider das Christentum.
 
Zuletzt bearbeitet:
Hallo Chan,
1. Fundamentale Kritik eines Neulings:
Halbe Bücher als post in einem Forum finde ich fehl am Platze. Ich wünsche mir, dass so etwas in Einzelaspekte aufgegliedert wird, die Antworten müssen sich sowieso auf Teile des "Vortrags" beziehen. Das führt rasch ins Chaos.
2. Zu einzelnen Punkten:
A) Die Theorie von Christentum I und II klingt gut, ist aber nicht nachvollziehbar, wenn Stadium I durch das NT oder selbst nur die kanonischen Briefe bezeichnet ist. Die Grundidee dieser Religion hat sich nur wenig geändert (siehe Amalaswinthas Beitrag). Man muss einen großen Schritt ins Unbekannte tun, um zu Jesus' eigenen Auffassungen zu gelangen.
B) Rom als Unterdrücker scheint mir ein Cliché zu sein. Was sind die Fakten, die eine massive Proletarisierung Israels belegen? Meines Wissens werfen Rom das weder die Evangelien noch Paulus noch Josephus noch die Gnostiker vor. Wenn, wie ich glaube, dieser Punkt wegfällt, kann man den Rest des Beitrags fast komplett in die Tonne treten, oder?
C) Dazu passt die Behauptung, Jerusalem hätte das größte Proletariat nach Rom besessen. Auch das hätte ich gern belegt. Ich weiß, dass es ein großes Klientel der Tempelpriester gab, die mit (jüdischen!) Steuergeldern bei der Stange gehalten wurden. Was weißt Du darüber hinaus?
D) Die Mailänder Vereinbarung stellte im Grunde wieder her, was in Rom schon immer üblich war: Religiöse Toleranz. Nur galt sie nicht den Christen gegenüber. Was der Kaiser selbst glaubte, war für diesen Grundsatz bis ins 4. Jhdt. egal.
E) Damit hängt die Behauptung zusammen, Rom wäre "polytheistisch". Rom war m.E. sekulär. Der Kaiserkult bediente sich religiöser Formen, das war aber doch wohl so etwas wie das Fähnchenschwenken zum 1. Mai in der DDR. Die Intelligenz in den ersten beiden Jahrhunderten bestand ganz überwiegend aus Stoikern. Für die war "Gott" etwas ganz anderes als der jüdische oder christliche Gott und ob der stoische Gott einer oder viele ist, ist egal (vgl. Seneca min. und Epiktetos).

Judas
 
Halbe Bücher als post in einem Forum finde ich fehl am Platze. Ich wünsche mir, dass so etwas in Einzelaspekte aufgegliedert wird, die Antworten müssen sich sowieso auf Teile des "Vortrags" beziehen. Das führt rasch ins Chaos.

Es geht um eine bestimmte Betrachtungsweise der Entstehung und Ausbreitung des Christentums, die hier zur Diskussion gestellt wird. Diese Betrachtungsweise (inbesondere unter dem Aspekt von´Christentum I und II´) könnte man eine ´Theorie´ nennen. Einzelne Aspekte aus dieser Theorie vom Kontext zu isolieren, halte ich für wenig hilfreich, weil sie ohne Kontext in der Luft hängen.

Auf den Rest deiner Antwort, wie auch (endlich) auf die bisher erfolgten Antworten, gehe ich bis spätestens Montag ein (schrieb ich zwar vor 2 Wochen schon mal, aber mir kamen gleich zwei wichtige Projekte dazwischen).
 
Zuletzt bearbeitet:
Chan,
wenn das eine umfassende Theorie der Entstehung des Christentums sein soll, dann müsste Dein post aber einiges länger sein. Ich habe Tatian angesprochen, doch der stellt nur die Spitze des Eisbergs dar. Es ist das gesamte Gebiet von Indien über Armenien, Syrien, Israel bis Ägypten und Libyen. Hier herrschte über Jahrhunderte ein anderes Christentum, dass sich zwar mit dem katholischen Christentum gemischt hat, aber in andere Strömungen eingegangen ist, die bis ins hohe Mittelalter reichen: Manichäer und Wahre Christen ("Katharer"). Die Gnosis in ihrer Vielgestaltigkeit gehört dazu.
Aber ich bin gespannt auf die nächste Version.
Übrigens habe ich gerade eine Monographie veröffentlicht, die sich mit dem frühen Christentum beschäftigt im Sinne eines umfassenden Modells.

Judas
 
Meiner Ansicht nach besteht Bedarf nach einer Klärung des Zusammenhangs zwischen der Entwicklung christlicher Ideen und der Ausbreitung und Etablierung des Christentums im römischen Reich.
Ja, Chan, Dein Aufsatz ist eine sehr schöne Zusammenfassung dessen, was Christentum in den ersten Jahrhunderten ausmachte. Es sei mir erlaubt, meinen Senf in aller Kürze dazuzugeben:

1. Jesus war nach meinem Verständnis ein Revoluzzer und entstammte eher nicht dem Proletariat, wie Du meinst, sondern dem Bürgertum, wie die meisten Revoluzzer der Geschichte. Warum – siehe Punkte 2 und 3.

2. Auf jeden Fall war er gebildet, sonst hätte er den Priestern nicht Paroli bieten können. Gebildet waren damals nur Menschen, deren Eltern genügend Geld hatten.

3. Aus diesem Grund war Josef wahrscheinlich kein Zimmermann, sondern so etwas wie Baumeister, heute würde man dazu auch Architekt sagen. Jedenfalls wird er in Mt 13,55 als tektōn (dτέκτων) genannt, was man nicht nur mit Zimmermann übersetzen kann. Und weil Josef alt war, war er sicher auch nicht ganz arm, es sei denn, er wäre eine Niete in seinem Beruf gewesen.

4. Jesus verstand sich als Reformer innerhalb des jüdischen Glaubens, nicht als Gründer einer neuen Religion/Kirche. Seine Jünger waren anfangs nur eine weitere Sekte innerhalb des Judentums.

5. Eine Parallele dazu gab es später mit Luther, der sich auch als Reformer innerhalb der christlichen Kirche sah; Seine Jünger waren anfangs nur eine weitere Sekte innerhalb des Christentums – und sie sind das (d.h. keine Kirche im eigentlichen Sinn) für die katholische Kirche auch bis heute geblieben.

6. Auch ich halte den Pharisäer Paulus für den Gründer des Christentums. Erstens, weil er griechisch, damals die Sprache der Gebildeten, sprach und schrieb, und zweitens, weil er dieser diffusen jüdischen Legende von einem Messias eine Ordnung verpasste, die auf die griechisch/römische Welt zugeschnitten war.

7. Die Christen wurden im römischen Reich anfangs verfolgt, weil sie - unorganisiert wie sie waren - keine Macht hatten und den Mut hatten, den Kaiserkult (Kaiser=Gott) als oberste Instanz in Frage stellten.

8. Und sie verfolgten später andere Religionen, weil eine dogmatische Religion, was das Christentum als allein zugelassene Staatsreligion zweifellos geworden war, keine andere Religion neben sich vertragen kann: Es kann nach diesem Verständnis nur eine Wahrheit geben.

9. Das gibt es praktisch bis heute, nur die Mittel haben sich geändert: Früher wurde das Christentum vor allem mit Feuer und Schwert verbreitet, heute wird mit guten Taten geworben. Dazu gehört heute auch die Toleranz gegenüber anderen Religionen, es sei denn, sie heißen z.B. nicht Church of Scientology.

10. Insofern ist Dein Postulat richtig, Chan, dass es ein Christentum vor dem Toleranzedikt Konstantins bzw. vor dem ersten, vom Kaiser Konstantin einberufenen ökumenischen Konzil von Nicäa gab, und eines nach dem Dreikaiseredikt.

Die Geschichte des Christentums ist somit ein schönes Beispiel für das Sprichwort: Macht korrumpiert.
 
Chan,
bis Montag ist noch etwas Zeit und Dions Punkte rufen nach Kommentaren:

J
1. Jesus war nach meinem Verständnis ein Revoluzzer und entstammte eher nicht dem Proletariat, wie Du meinst, sondern dem Bürgertum, wie die meisten Revoluzzer der Geschichte. Warum – siehe Punkte 2 und 3.

Dafür gibt es wenig Anhaltspunkte. Friede ist ein zentraler Punkt in allen "Nachfolgeinstitutionen".

J
2. Auf jeden Fall war er gebildet, sonst hätte er den Priestern nicht Paroli bieten können. Gebildet waren damals nur Menschen, deren Eltern genügend Geld hatten.

Er zitiert aber nur den Tanach. Das wäre erklärt, wenn er aus einem Pharisäerhaushalt o.Ä. käme. Griechische Bildung scheint er nicht besessen zu haben. Also: intelligent: sicher; gebildet: unklar.

J
3. Aus diesem Grund war Josef wahrscheinlich kein Zimmermann, sondern so etwas wie Baumeister, heute würde man dazu auch Architekt sagen.

tekton war m.W. Bauhandwerker und nicht Architekt. Nazareth war auch ein Nest. In Sepphoris hätten sie vielleicht einen gebraucht.

J
4. Jesus verstand sich als Reformer innerhalb des jüdischen Glaubens, nicht als Gründer einer neuen Religion/Kirche. Seine Jünger waren anfangs nur eine weitere Sekte innerhalb des Judentums.

Das sehe ich völlig anders, aber vielleicht warten wir auf Chan.

J
7. Die Christen wurden im römischen Reich anfangs verfolgt, weil sie - unorganisiert wie sie waren - keine Macht hatten und den Mut hatten, den Kaiserkult (Kaiser=Gott) als oberste Instanz in Frage stellten.

Niemand wurde in Rom wegen seiner Religion verfolgt. Juden opferten dem Kaiser auch nicht. Christen waren nach Tacitus und Sueton Verbrecher. Warum? Das ist eine sehr interessante Frage...

Die größte Herausforderung bleibt aber die zentrale Frage: Warum hat sich das Christentum überhaupt unaufhaltsam ausgebreitet? Dafür hat bisher keiner eine schlüssige Erklärung geliefert.

Judas
 
Die Kirche im 4. Jahrhundert geht also nicht hin und entwirft eine harmonisierte allein- und allgemeingültige Version - hätte sie ja machen können - sondern stellt diese vier, nicht immer in allen Punkten zu vereinbarenden Texte gleichwertig und unkommentiert nebeneinander.

Das liegt, glaube ich, daran, dass es das Diatessaron des Tatian bereits gab und im Osten weit verbreitet war. Leider haben die bösen Syrer einiges Material aus dem noch böseren Thomasevangelium und verwandten Schriften hineingemischt. Die kanonischen Texte nebeneinander stehen zu lassen, dürfte der kleinste politische Nenner gewesen sein.

Der Eindruck – mehr ist es erst einmal nicht! –, den ich dazu gewonnen habe, ist folgender:
Die Großkirche(n) hatten im 4. Jh. m. E. längst keine andere Wahl mehr, als jene vier Evangelien in unveränderter Form nebeneinander stehen zu lassen und offiziell für kanonisch zu erklären. Denn schon sehr viel früher waren die Weichen gestellt worden.
Bei Irenaeus (vornehml. in Adversus haereses III 11, 7-8) wird deutlich wie sehr die Kirche, wenigstens die westliche und kleinasiatische, bereits um 180 n. Chr. längst von der Heiligkeit und göttlichen Inspiration dieser und nur dieser vier – später offiziell kanonisierten – Evangelien überzeugt war. Tatian harmonisierte um die Mitte des 2. Jhs. Johannes und die Synoptiker, weil es offensichtlich auch in syrischen Kreisen jene vier Evangelien waren, die man für die 'echten' Evangelien hielt.
Natürlich zitieren die Alexandriner Clemens und Origenes, auch Justin der Märtyrer und manch andere frühe Kirchenschriftsteller hie und da auch mal aus einem Hebräerevangelium oder einem Petrusevangelium oder eben aus Tatians Evangelienharmonie (während gnostische Evangelien wie das Thomas- od. das Judasevangelium von solchen 'großkirchlichen' Schriftstellern eigentl. durch die Bank abgelehnt wurden), aber der ganz überwiegende Teil der Zitate in den frühen Kirchenschriften stammt eben aus den vier kanonischen Evangelien. Diese müssen so ziemlich von Anfang an, also sobald schriftliche Evangelien über Jesus in Umlauf kamen und waren, eine besondere Autorität besessen haben, vielleicht ja deshalb, weil sie tatsächlich aus apostolischen und Apostelschüler-Kreisen stammten (Ist natürlich nur eine Vermutung). Die Überschriften/ Namen der Evangelien, wie sie sich schon in den ältesten erhaltenen Handschriften finden („Evangelium nach Matthäus/ Markus/ Lukas/ Johannes“) könnten doch darauf hinweisen. Hätte ihnen jemand künstlich Autorität verleihen wollen, hätte er sie wohl eher – wie das ja bei anderen apokryphen Evangelien geschehen ist – nach den Lichtgestalten Petrus oder Jakobus benannt, statt nach einem Markus oder einem Lukas, deren Identität man im späteren Kanonisierungsprozeß beinah nur anhand weniger kleiner verstreuter Informationen zu rekonstruieren vermochte.
Jedenfalls scheint mir die Kanonisierung und das Nebeneinander-Stehen-Lassen der vier Evangelien weniger den „kleinsten politischen Nenner“ in der Kirche des 4. Jhs. darzustellen, als vielmehr eine Selbstverständlichkeit gewesen zu sein, weil diese vier Evangelien schon längst eine Art kanonischen Rang besaßen.


Edit:
Übrigens habe ich gerade eine Monographie veröffentlicht, die sich mit dem frühen Christentum beschäftigt im Sinne eines umfassenden Modells.

Judas
Ich würde mich freuen, wenn Du mir den Titel nennst; geht ja auch mittels Privatnachricht. Danke.
 
Zuletzt bearbeitet:
Die Großkirche(n) hatten im 4. Jh. m. E. längst keine andere Wahl mehr, als jene vier Evangelien in unveränderter Form nebeneinander stehen zu lassen und offiziell für kanonisch zu erklären. Denn schon sehr viel früher waren die Weichen gestellt worden.
Das sehe ich zum Teil ähnlich. Die Entscheidung ist wohl um die Zeit des Tatian im 2. Jhdt. gefallen, eher sogar noch viel früher. Die Abfassung der synoptischen Evangelien ist ein großes Rätsel. Ich halte es für wahrscheinlich, dass die Vielfalt der Evangelien einen Zweck verfolgte. Auffällig ist doch, dass die Synoptikaer alle kurz nach dem 1. Jüdischen Krieg geschrieben haben und sich gegenseitig kannten.
Evangelienharmonien gab es übrigens auch später. Berühmt ist ja die "Indianerbibel" von Jefferson. Sehr viel Ketzerisches stand im Diatessaron gar nicht drin. Doch die Aussage, es wäre reine Vernunft gewesen, die die Kirchenväter dazu gebracht hat, diese 4 Evangelien nebeneinander stehen zu lassen, ist mit dem Diatessaron doch widerlegt. Es ist lange Zeit in Syrien im Einsatz gewesen. Oder waren die unvernünftig? Es gibt sogar eine altdeutsche Version.
P.S.
Mein Buch heißt:
"Die gute Botschaft der Menschenfresser" (Der Titel geht auf die Entdeckungsgeschichte des darin besprochenen Dokuments zurück).

Judas (bezieht sich auf den Autor)
 
Sehr viel Ketzerisches stand im Diatessaron gar nicht drin. Doch die Aussage, es wäre reine Vernunft gewesen, die die Kirchenväter dazu gebracht hat, diese 4 Evangelien nebeneinander stehen zu lassen, ist mit dem Diatessaron doch widerlegt. Es ist lange Zeit in Syrien im Einsatz gewesen. Oder waren die unvernünftig? Es gibt sogar eine altdeutsche Version.

Nein, die Syrer waren gewiss nicht unvernünftiger als die ollen Westler.:)
Ich hab auch nicht von "Vernunft" und schon gar nicht von "reiner Vernunft" gesprochen, sondern davon, dass jedes einzelne der vier (später kanonisierten) Evangelien schon vor der offiziellen Kanonisierung als Autorität breitflächig anerkannt war (ganz besonders eben im Westen und in Kleinasien). Diese vier Evangelien, so scheint mir, galten als traditionell rechtgläubig und wurden von den Kirchenvätern weniger aus Vernunft, als vielmehr aus Zuneigung zu dieser kirchlichen Tradition heraus als Gotteswort übernommen.


P.S.
Mein Buch heißt:
"Die gute Botschaft der Menschenfresser" (Der Titel geht auf die Entdeckungsgeschichte des darin besprochenen Dokuments zurück).

Judas (bezieht sich auf den Autor)

Vielen Dank für die Auskunft. Werde mich mal darüber erkundigen.:winke:

Gruß, buschhonbs
 
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