Dass Ethnien und Reiche/Könige keine Deckungsgleichheit haben ist eine allgemein anerkannte Tatsache. Beide können losgelöst voneinander existieren. Aber meist bildet eine Ethnie den Kern eines Reiches…
Gibt es einen Beleg dafür, dass ….durch Unterstellung unter einen König eine „neue Ethnie“ entstand? Durch das „Auswandern der Angelsachsen“ entstand fraglos eine Ethnie, die bald mit jener aus den Ursprungslanden nicht länger zu vergleichen war, zumal die Festlandsangeln und –Sachsen rasch unter die Herrschaft anderer Könige gerieten, wie etwa der Franken und Thüringer! Die Angeln scheinen eine Rolle bei der Ausprägung des Thüringer Reiches gespielt zu haben…
Die „Reichsgründung“ des Odoaker in Italien ist ein Beispiel für eine „Reichsgründung“ ohne klar erkennbares „Reichsvolk“ dahinter. Je nach Präferenz des Historikers werden hinter ihm immer mehrere Ethnien vermutet, wie etwa die Skiren und auch Thüringer!
Auch die Franken sind ab Chlodwig I. ein gutes Beispiel für eine Ethnogese die sich auf einen gemeinsamen König bezieht. Während Burgunder und andere germanische Gruppen gewisse Sonderentwicklungen im Rahmen des Frankenreiches zugestanden wurden, blieben die Franken für eine massive Romanisierung offen, indem sich ihnen in großem Umfang romanische Provinziale weitgehend anschließen konnten. Das dazugehörige Bonmot eines Historikers bezeichnet andere völkerwanderungszeitliche Reichsgründungen (etwa der Westgoten) als „erobernde Völker“, während er für Chlodwig (und damit die Franken) von einem „erobernden König“ spricht.
Der Vergleich der Traditionskerne mit einem Apfelkern und einem Nusskern ist recht gut. Im Allgemeinen waren die Völker während ihrer Wanderungen ausgesprochen Integrationsfreudig und begannen sich meist erst nachdem sie sich in neuen Siedlungsgebieten niedergelassen haben wieder zu konsolidieren und gaben ihre soziale Mobilität bald auf. So kam es Schubweisen zu „Ethnogese“. Von Westgoten kann man etwa eigentlich erst sprechen nachdem die dazu gehörigen Goten (im Kern wohl vor allem Terwingen) die Donau überschritten hatten und ins Römische Reich eingedrungen waren. Weniger Ausgeprägt aber Ähnlich verhielt es sich mit den Ostgoten, deren Greutungisch/Ostrogotische Vergangenheit im Steppengürtel des Ostens erst nach dem Untergang des Attilareiches endgültig zur Vergangenheit wurde. Auch die Alamannen lassen sich vor ihrer Landnahme im ehemaligen Dekumatland nicht wirklich historisch fassen. Neben den Traditionskernen als „Formende Komponente“ einer Ethnogese spielte also wohl auch die Landnahme als „Formende Komponente“ immer eine Rolle. Weiterhin spielte die Ursprungs-Ethnie umso weniger eine Rolle, je mächtiger die Herrscher über die Gemeinschaft waren – sprich also der König! Hier ist wieder Chlodwig das Beste Beispiel. Andere, „reichsbildende Ethnien“, die sich in ihrer neuen Heimat gegen die Untertanen abschotteten und nur eine „Krieger- & Führungselite“ bildeten, mussten in der Minderheit bleiben und bei Misserfolg verschwinden, bestenfalls blieben sie als privilegierte „Oberschicht“ oder „Kriegerschicht“ eine durch Gesetze zu definierende Sozialschicht. Genau dies passierte den Langobarden in Italien, wie auch Teilen der Goten. Dagegen blieb es bei den merowingischen Franken nicht wichtig ob sie germanisch oder romanisch sprachen; wichtig war allein ihre Nähe zum König und damit dem Zentrum des Reiches! Dabei gilt es als sehr wahrscheinlich, dass die fränkische Expansion durch verschiedene Stämme getragen wurde. Nicht umsonst sind die Franken auch vor Chlodwig recht schwer genauer zu fassen, geht doch das Wort von den „fränkischen Stammesschwärmen“ um, an denen wahrscheinlich auch Teile von Sachsen, Friesen und vielleicht sogar Thüringern ihren Anteil hatten – wofür auch die enge Bindung von Chlodwigs Vater Childerich zu den Thüringern sprechen dürfte…
Es bleibt also festzuhalten, dass die Kopfzahl einer „wandernden Ethnie“ nicht unbedingt entscheidend für ihren Erfolg wurde.
Ganz wichtig bei dieser Diskussion ist es neben Ethnien und Reichen auch zwischen Sippen und Kriegerbünden zu unterscheiden! Sippen sind Abstammungsgemeinschaften, also ein Kernstück einer „völkisch“ zu definierenden Ethnie. Die Sippen wurden vor allem von den Historikern des 18/19. Jht. als Kern der wandernden Völker angesehen. Inzwischen wird ihre Bedeutung doch eher unterschätzt. Sie waren für einen Traditionskern unerlässlich, griffen doch hier die Wurzeln des wichtigen „Köngsheils“ und der gemeinsamen Überlieferungen (wie Sagen e.t.c.) als integrierende Kraft für die weitere Ethnogese. Dazu kommt, dass die Sippen durchaus offen für Einheirat und „Adoptionen“ blieben, also keineswegs rein ethnisch zu definieren sind!
Aus solchen Sippen und strips regia heraus erst konnten sich Kriegergemeinschaften um bedeutende Adelige herum bilden. Hier war es fast gleichgültig welcher Ursprungsethnie ein Krieger abstammte, solange er ein guter Krieger war und seinem Herrn die Treue hielt. Besonders zu Kriegszeiten wurden zu allen Zeiten die Kriegerbünde zu Beschleunigern von Ethnogese. Solche Gefolgschaften waren den Königen näher und direkter verbunden als die Sippen, in denen die gemeinsame Abstammung die Treue zu den Königen beeinflussen konnte. Die Gefolgschaften bezogen sich allein auf ihre Könige. Aus ihnen entnahmen vermutlich die Königreiche der Völkerwanderungszeit vor allem ihren „Amtsadel“, wie die ostgotischen Königsboten und comes, sowie die Gerichtsdiener. Auffällig ist, dass sowohl bei den Westgoten wie bei den Ostgoten nach Untergang ihres Königsgeschlechts Männer aus dieser Gruppe in das Königsamt nachrückten und damit eine neue „strips regia“ begründen konnten. Das zähe Festhalten an dem langjährigen Königsgeschlecht der Amaler bei den Ostgoten endete mit König Theodahad, sein Nachfolger und ehemaliger comes Witichis stammte aus dem Amtsadel. Als zusätzliche Legitimation heiratete er die Nichte Theoderichs, die Amalerin Matasuintha. Nach ihm konnte kein ostgotischer König mehr auf eine Verbindung zu einer traditionellen königlichen Familie zurückgreifen, es waren allesamt Männer des Militäradels, also aus dem Umfeld des Königs ohne besondere verwandtschaftliche Basis und hergebrachtem Königsheil – eben aus den Kriegergefolgschaften stammend. Ganz im Gegensatz dazu steht das zähe und recht lange Festhalten der Franken nach Chlodwig I. an der merowingischen Königsfamilie. Ich sehe das als ein Beleg für die These, welche den gotischen Königreichen ein „eroberndes Volk“, dem Frankenreich aber einen „erobernden König“ zuordnet.
@Dieter:
Die ethmythologische Ableitung des Namens des gotischen Königsgeschlechts der Amaler ist der Ase. Die Asen sind aber das altgermanische Göttergeschlecht. In der viele Jahrhunderte nach der Völkerwanderung verfassten Edda sagt Odin dass er früher auch unter den Namen Gaut und … bekannt gewesen sei. Gaut aber ist der angegebene Stammvater der Amaler. Auch die frühen angelsächsischen Könige schreiben ihre Abkunft dem Wodan zu. Alles deutliche Hinweise auf den sakralen Charakter altgermanischen Königtums. Der Wortstamm der Amaler wird teils auch auf Götterbilder, wie die groben Darstellungen von Holzfiguren germanischer Götter aus den nordischen Opfermooren zurückgeführt.
@Königsheil & Christianisierung:
Es scheint sich eine Art von Verquickung von abgestammtem Königsheil mit Formen der Christianisierung entwickelt zu haben. Auf die sakrale Komponente von Königtum und Heil wurde bereits hingewiesen, sowie die tradierten Abstammungsberichte, die sich meist auf Götter und Heroen bezogen und für die bei einer Christianisierung neuer Legitimationsbedarf bestand. Die Christianisierung aber war notwendig um sich gegenüber dem Römischen Reich eine brauchbare, stabilisierende Verhandlungsbasis zu erarbeiten.!
Bei Übertritt eines Königs zum Christentum folgte gewöhnlich auch deren Gefolge, was eine gewisse innere Kontinuität zu den alten Verhältnissen Rückschließen lässt. Es macht aus gewisser Hinsicht auch Sinn, wenn die meisten Germanenkönige zunächst zum arianischen Christentum konvertierten. Das arianische Bekenntnis verneint die Wesenseinheit von Jesus mit Gottvater und kennt die unteilbare Trinität nicht. Jesus ist hier der auserwählte Mensch, der die Erlösungsleistung auf sich nimmt und dadurch Gottes Sohn wird: Also die Tat eines Menschen „vergöttlicht“ Jesus nach dieser Ansicht, was die Option einer ebenfalls herausragenden Leistung durch andere Menschen (eben der Könige!) implizieren kann. Doch bin ich kein Theologe…
Gerade die Könige, welche nicht aus einer mit Königsheil versehenen Familie stammten, suchten einen Ersatz dafür häufig durch sakrale Sanktionierung durch heilige Salbung und Krönung durch hohe kirchliche Würdenträger. Die Karolinger begründeten ihr Königtum durch einen solchen Schritt, was allerdings bereits sicher zum Mittelalter gehört!
Bereits vor der Konvertierung der Barbarenkönige zum Katholizismus spielte nach meiner Ansicht die gemeinsame „arianische Leitreligion“ ihrer Oberschicht eine wichtige Rolle für die Integrierung und Beständigkeit ihres „Volkes“. Wie auch die Christianisierung von Völkern während des Mittelalters ein wesentliches Element der Etablierung von Königreichen spielen sollte. Der Gegensatz zwischen Arianern und Katholiken half dabei die „germanische Oberschicht“ von den unterworfenen Katholiken zu trennen und auseinander zu halten! Diese These habe ich bereits im Vandalenthread dargelegt und ordentlich Schelte dafür bekommen, weil ich statt von einer arianischen „Königskirche“ von einer „Volkskirche“ geschrieben hatte.
Völker ohne eigene Könige gingen in der Regel unter, vor allem wenn sie nicht in einer etablierten Heimat blieben. Beispiele dafür sind nicht nur Rugier und (südliche) Heruler, sondern auch die bereits genannten Sueben welche an der Donau verblieben waren und nicht nach Spanien abgezogen waren. Nach ihrer Niederlage gegen die Ostgoten (im gleichen Kontext in dem auch die Scharen des Odoaker nach Italien flohen) wurden die Sueben in ihrer Heimat von den Ostgoten geplündert, verfolgt und drangsaliert. Dies desintegrierte diesen Stamm völlig. Teile von ihnen wanderten nach Westen zu den Alamannen ab, wo sie kein eigenes Königreich mehr errichten konnten, sondern verstreut zwischen den Ansässigen in das Volk der Alamannen eingeschmolzen worden.
Zu Teilungen einzelner Stämmen kam es sehr wohl. Nicht nur Sachsen teilten sich, als Teile des Stammes nach England auswanderten und mit den Angeln zu den Angelsachsen verschmolzen. Dass Alanen, Sueben und Goten sich auffächerten habe ich bereits erwähnt. Auch die Heruler gab es zeitweilig sowohl auf dem „Balkan“ als auch am Rhein unter eigenen Königen. Dabei sollte man sich aber auf Völker unter einheitlichen Königen konzentrieren, denn die Goten kannten vielleicht seit Kniva keinen gemeinsamen König mehr und die Franken, Alamannen und Westgoten treten eher als Stammesschwärme unter verschiedenen Kleinkönigen auf und nur Franken und (föderierte!) Westgoten vereinigten sich später unter gemeinsamen Königen.