"Ich habe bislang das Wort „Heidentum“ absichtlich ver-
mieden, da es sich dabei aus christlicher Perspektive um eine
historisch belastete, abwertende Bezeichnung nicht-christli-
cher Religionen handelt; statt dessen werde ich von der zen-
tralarabischen paganen Religion reden.
Wenn man danach fragt, welche Gottheiten die vorwiegend
beduinischen Einwohner Zentralarabiens verehrt haben, dann
ist von vornherein zu berücksichtigen, daß sich schon recht
früh der Glaube an einen Hochgott durchgesetzt hat, der den
Namen „der Gott“, allāhu, erhielt. Er galt als der Schöpfer
der Welt und als der eigentliche Nothelfer, in dessen Dienst
alle anderen Götter standen (vgl. Der Koran, S. 58–60), die
aber nicht in irgendeiner Weise in einer Hierarchie geordnet
waren. Auch in Südarabien entwickelte sich im 4. Jh. ein
„himyarischer Monotheismus“ (W.W. Müller), in dem der
Gott Rahmānān (d.h. „der Barmherzige“) als „Herr des
Himmels und der Erde“ verehrt wurde. Die Vermutung, daß
hier Zusammenhänge mit dem in einigen Koransuren (wie
z.B. 19–21, 25, 36, 43, 67) gehäuft vorkommenden Gottes-
namen ar-Rahmān „der Erbarmer“ bestehen, ist naheliegend.
Von den zahlreichen Göttern werden drei weibliche als
„Töchter Allāhs“ im Koran (Sure 53,19 f.) genannt: al-Lāt,
Manāt und al-‘Uzzā. Mehr als die bloßen Namen erfährt man
aus dem „Götzenbuch“ (Kitāb al-’asnām) des muslimischen
Gelehrten Ibn al-Kalbī (st. 819), in dem wertvolle Informatio-
nen über die vorislamischen paganen Kulte Arabiens zu fin-
den sind. Al-Lāt, eine Göttin, die schon im 5. Jahrhundert
v. Chr. archäologisch belegbar ist, wurde vor allem im 1.–
3. Jahrhundert n. Chr. im nord- und nordostarabischen Raum
als Mutter- und Fruchtbarkeitsgottheit verehrt. Ibn al-Kalbī
nennt als Zentrum ihrer Verehrung, die hauptsächlich im
Stamm Thaqīf beheimatet war, den nahe Mekka gelegenen
Ort at-Tā’if. Auch Manāt (der Name bedeutet Schicksal oder
Todesgeschick) ist eine sehr alte Gottheit (nach dem „Götzen-
buch“ sogar die älteste), die vor allem von den beiden medi-
nensischen Stämmen Aus und Chazradsch verehrt wurde; eine
Statue befand sich in Qudaid, unweit von Mekka am Weg
nach Medina. Al-‘Uzzā schließlich, deren Kultstätte ein Tal in
Nachla in der Nähe von Mekka war, wurde vor allem von
den Quraiš verehrt. Sie ist wahrscheinlich mit Venus gleichzu-
setzen. Im Innern der Kaaba in Mekka stand das Standbild
des Gottes Hūbal, vor dem man Lospfeile warf, wenn man ein
Orakel begehrte. Interessant ist, daß sich im Koran keinerlei
Polemik gegen Hūbal findet.
Nicht jede der Gottheiten hatte ein „Haus“, wohl aber ei-
nen Kultbezirk, in dem bestimmte Kulthandlungen wie z. B. die
Opferung von Tieren oder der Umlauf (tawāf) um Idole, d.h.
heilige Steine (’ansāb) oder (wesentlich seltener) Standbilder,
vollzogen wurden. Der Kultbezirk war zugleich Asylbereich.
Zu jedem heiligen Bezirk konnte man „Wallfahrten“ veranstal-
ten. Für Zentralarabien gewannen jedoch in dieser Hinsicht die
Kultstätten von Mekka und seiner näheren Umgebung beson-
dere Bedeutung. In Mekka war der ursprüngliche Gegenstand
der Verehrung ein schwarzer Meteorit, der in die Nordostecke
des würfelförmigen Kultgebäudes (daher der Name ka‘ba =
„Kubus“) eingelassen war. In der Kaaba befand sich außer-
dem eine Taube aus Aloeholz und das schon erwähnte Stand-
bild des Hübal. In unmittelbarer Nähe Mekkas befand sich
als Ziel einer „Wallfahrt“ (haddsch) der Ort ‘Arafāt, den man im
Zusammenhang mit jährlich stattfindenden Märkten (u.a. in
dem nahe Mekka gelegenen ‘Ukāz) aufzusuchen pflegte. Wäh-
rend dieser Zeit herrschte drei Monate lang ein allgemeiner
Landfrieden; in Sure 9,5 werden diese „unverletzlichen Mona-
te“ insofern vorausgesetzt, als während dieser Zeit der Kampf
gegen die „Beigeseller“ (mušrik, s.o. S. 53!) ausdrücklich ver-
boten wird. Während der „Wallfahrt“ befand sich der Pilger
in einem Weihezustand (’ihrām), in dem er seine Haare nicht
schor. Dessen Beendigung symbolisierte das Scheren des Haa-
res, das man an der Kultstätte zurückließ. Einige der hier nur
kurz skizzierten Bräuche wurden später in die islamischen
Riten des haddsch, der die beiden Wallfahrtsziele Mekka und
‘Arafāt zusammenfaßte, integriert.
Es ist sicher nicht übertrieben, wenn man behauptet, daß
zu Mohammeds Zeit die zentralarabische pagane Religion
hauptsächlich in ihren Riten fortlebte und weniger in ihrem
geistigen Gehalt, den Sure 45,24 in knapper Form wiedergibt:
Sie sagen: Nichts gibt es als hienieden unser Leben:
Wir leben und wir sterben, und nichts
Vermag uns zu vernichten als die Zeit.
Für diese Ansicht spricht, daß die islamische Tradition von
verschiedenen Gottsuchern (hanlf) zu berichten weiß, die die
Religion ihrer Vorfahren aufgegeben und die Schriften der Ju-
den und Christen studiert hatten, sich jedoch weder zum Ju-
dentum noch zum Christentum bekannten."
Ausschnitt aus dem Kapitel:
Die zentralarabische pagane Religion in:
Bobzin, Hartmut: Mohammed. München 2000.