Französische Wirtschaftsgeschichte 1860-1945

silesia

Moderator
Teammitglied
Die Bilanz am Ende des Ersten Weltkrieges:

Die französischen Forderungen schon während des Krieges, aber erst recht in Zusammenhang mit dem Versailler Vertrag sind - bezüglich der breiten Öffentlichkeit und des erzeugten Drucks auf die Politik - auch vor dem Hintergrund der Kriegslasten zu sehen.
[Steinmeyer: Die Grundlagen der französischen Deutschlandpolitik 1917-1919, Geschichte und Theorie der Politik 3]


Im Folgenden soll hierzu ein kurzer Überblick gegeben werden.

1921 legte Frankreich eine Schadensaufstellung vor, die inkl. aufgelaufener Zinsen vom 11.11.1918 bis 1921 (5%) einen Betrag von 140 Mrd. frcs ausmachte. Hinzu kamen Leistungen für Hinterbliebene der Gefallenen etc. im Umfang von 78 Milliarden, insgesamt also 218 Mrd. frcs angesichts von 1,3 Mio. Kriegstoten.


Die Zerstörungen und Verlusten bezogen sich auf 10 der reichsten Departements. Während des Krieges wurde Frankreich um 20Mio. to der jährlichen Kohleproduktion gebracht (Dep. Nord und Pas-de-Calais). Die sofortige Besetzung des Beckens von Briey-Longwy bedeutete den Verlust von 80% des Eisenerzabbaus. Verloren gingen 1918-1919 zudem 85% der Gußeisenproduktion und 75% der Eisen- und Stahlproduktion durch die besetzten Gebiete inkl. Zerstörungen. Diese Gebiete umfaßten auch die wichtigsten Teile der frz. Textilindustrie.

Beachtlich ist dann noch der Verlust von 6,3% der landwirtschaftlichen Anbaufläche, allerdings hier fruchtbare Gebiete mit der höchsten Rentabilität. Gemesen am Vorkriegsstand gingen über 20% der Weizenernte, 12% der Kartoffelernte und 50% bei den Zuckerrüben verloren.

In allen Bereichen war Frankreich ab Herbst 1914 auf Importe angewiesen. Die Importe wiederum forcierten die Verschuldung mit rasanten Steigerungen.

Schäden erlitt auch das Transportwesen: von 120.000km Straßen (auch durch innerfrz. Transporte) war die Hälfte beschädigt, 6000km Eisenbahn zerstört, Hunderte von Brücken und Schleusen unbenutzbar. Die Schäden an der Infrastruktur behinderten auch den Aufbau nach dem Krieg.

Die Handelsbilanz Frankreichs wurde ab 1914 stark defizitär, nachdem vor dem Krieg nie mehr als 2 Mrd. Defizit zu verzeichnen waren, die zudem durch Erträge aus ausländischen Anlageinvestitionen etc. mehr als ausgeglichen wurden. (nur nebenbei: 25% der frz. Auslandsanlagen gingen durch die russische Revolution verloren).

Importe-Exporte-Defizit in Mrd frcs:
1913: 8,4 - 6,9 - 1,5
1914: 6,4 - 4,9 - 1,5
1915: 11,0 - 3,9 - 7,1
1916: 20,6 - 6,2 - 14,4
1917: 27,6 - 6,0 - 21,6
1918: 22,3 - 4,7 - 17,6
1919: 35,8 - 11,9 - 23,9


Weiterhin ergab sich ein Verschuldungsproblem während des Krieges, dass zunächst 1915/17 durch Großbritannien und Goldverkäufe, ab 1917 durch die verstärkten US-Anleihen vorläufig aufgefangen wurde:

Einnahmen-Ausgaben-Defizit in Mrd. frcs
1914: 4,2 - 10,4 - 6,2
1915: 4,1 - 22,1 - 18,0
1916: 4,9 - 36,8 - 31,9
1917: 6,2 - 44,7 - 38,5
1918: 6,8 - 56,7 - 49,9
1919: 11,6 - 54,2 - 42,6
Dabei spielten auch die steigenden Zinslasten i Zeitablauf eine Rolle.


Entsprechend entwickelten sich die französischen Staatsanleihen zur Ausgabendeckung:

Inländische-Ausländische Anleihen in Mrd. frcs:
1914: 2,4 - 0,05
1915: 16,8 - 2,7
1916: 18,4 - 8,8
1917: 18,6 - 11,8
1918: 24,2 - 8,8
1919: 27,7 - 11,4
zuzüglich der Zahlungen von Emissionsbanken ergab sich eine kumulierte Kreditsumme Frankreichs über den Zeitraum 1914 bis 1919 von 181,5 Mrd. frcs, davon 130,0 Mrd. bis zum Kriegsende. Die Zerrüttung der Finanzen und die Ausgabenerfordernisse für Schäden werden an der Anleihesumme für 1919 iHv 51,5 Mrd. frcs deutlich.

Das Ausmaß dieses Debakels, dass schon vor dem Kriegsende sichtbar wurde, war bestimmend für die Meinung, das Deutsche Reich hierfür zahlen zu lassen.
 
Danke für den Hinweis, gute Zusammenstellung!

Die Franzosen hatten doch um die Jahrhundertwende, ich glaube sogra 1904 im Rahmen ihrer Entente den russischen Aufbau finanziert, oder?
 
Zuletzt bearbeitet von einem Moderator:
Zu den französischen Auslandsinvestitionen, gezeichneten Anleihen etc. gab es hier eine Zusammenstellung:

"1. Das "nationale Interesse" und die Risikostruktur würde ich relativieren. Die ausländischen Anlagen waren in Frankreich breit gestreut (was übrigens auch eine Facette des Verteilungsaspektes ist).

Als Rußland aufgrund des Weltkriegs zusammenbrach und die Zahlungen einstellte, meldeten sich in Frankreich 1,6 Millionen Gläubiger, auf die diese Kapitalanlagen entfielen (aus den über 52 großen russischen Anleihen). Rußland hatte - mal den guten Ferguson zitiert - entsprechende Properität in den Vorkriegsjahren, wieso also nicht? - sonstige beachtenswerte Ausfälle in 30 Jahren? Zu vermerken bleibt: (Auslands-)Anleihen waren überhaupt in Frankreich eine Art Volkssport.

2. Ein Teil der Kapitalanlagen gerade in den "Risikoländern" war durchaus besichert, nach damaligem kolonialem Gehabe; und da war man recht einfallsreich. Es wurden Eisenbahnlinien abgetreten, ebenso wie Zolleinnahmen und Hafenumsätze oder gleich die Häfen.

Dazu kamen die Klassiker Landbesitz und Staatsunternehmen.
Nähere Daten müßte ich aber recherchieren, es ist ein Gesamteindruck - China/Japan hatten wir hier schon, vielleicht kann @lynxxx etwas zum Osmanischen Reich beisteuern.

3. Das Haar in der Suppe wird verdaulich, wenn die Schuldnerstaaten ihre Kapitaldienstfähigkeit behalten, respektive Zins und Tilgung über Jahrzehnte bedienen.

Dagegen kann man natürlich die revolvierenden Refinanzierungen einwenden, es wurden ja auch ständig neue Anlagen getätigt - irgendwo mußte man schließlich hin mit >30 Mrd. Zinserträgen nach 1875.

4. In den 30 Jahren Betachtungszeitraum nahm Frankreich aus diesen Auslandsinvestitionen über 30 Milliarden an Zinsen und Dividenden ein. Diese "Nettoüberschüsse" (siehe oben) führten somit großteils zur Aufstockung der frz. Forderungen (und zu entsprechenden politischen Abhängigkeiten, die damit erkauft wurden).

Diese Außenpolitik wurde vielmehr über die Stellschraube gesteuert, dass der Handel an der Pariser Börse zugelassen werden mußte.

5. Die Auslandsanleihen (ohne Auslandsinvestitionen), 1914 rd. 50 Milliarden fr., waren ohne Betrachtung des Großschuldners Rußland im Übrigen gestreut, etwa:
- Rußland 11,3 Mrd.
- Osmanisches Reich 3,3 Mrd.
- Spanien/Portugal 3,9 Mrd.
- Österreich-Ungarn 2,2 Mrd.
- Balkanstaaten 2,5 Mrd.
- Italien 1,3 Mrd.
- Schweiz, Belgien, Niederlande 1,5 Mrd.
- übrige Europäer 1,5 Mrd.
- Französische Kolonien 4,0 Mrd.
- Ägypten und übriges Afrika 3,3 Mrd.
- USA und Kanada 2,0 Mrd.
- Südamerika 6 Mrd.
- Asien 2,2 Mrd.

sowie rd. 5 Mrd. nicht zuzuordnen (ggü. den Recherchen von Guyot, Meynial und zuletzt für 1914 Martin).

Generell müßte man bei der kritischen Betrachtung berücksichtigen, wie GB, DR und USA in den jeweiligen Risikoregionen "dabei" waren. Übrigens: bei den kritisierten Balkanstaaten dürfte das Deutsche Reich nur wenig unter 2,5 Mrd. fr. (umgerechnet in RM) "investiert" haben, ich schätze eher noch mehr als diese Summe (kann ich aber recherchieren).

Die 50 Mrd. frz. Auslandsanleihen dürften eher als Mindestwert anzusehen sein, da mit Sée geschätzt noch erhebliche weitere Summen der Großanleger aus steuerlichen Gründen an den Statistiken vorbeiliefen (vielleicht hatte die Schweiz das Doppelte oder Dreifache? :D )

6. Die Kritik der mangelnden Steuerung der Auslandsanleihen ergibt sich in der Literatur gerade aus dem Vergleich mit den USA und GB, die solche Anleihen zur Exportstützung einsetzten (das Deutsche Reich war übrigens ähnlich "dumm", das änderte sich erst so ab 1909 - darüber habe ich aus 1913 eine interessante Dissertation).

Tatsächlich könnte man auch darüber nachdenken, ob die französische Binnenwirtschaft dadurch unter Kapitalmangel litt (dafür sehe ich aber keine Anwendungsbeispiel, lasse mich aber gerne vom Gegenteil überzeugen - bislang sehe ich da nur Behauptungen). Selbst wenn man (wie auch Sée) die Kritik einer "stationären" Wirtschaft daraus ableitet, wäre die Frage, wo sich denn dieser Kapitalmangel bei den stark wachsenden Industrien realiter ausgewirkt haben soll?

Oder wird der der Transmissionsmechanismus zwischen Kapitalmärkten und Realmärkten aus einer bestimmten Modeerscheinung heraus überschätzt, und sind die wirklichen Gründe für die langsame Entwicklung der frz. Realwirtschaft ganz andere? ;) Oder wie wäre es, nur als Beispiel, die deutschen Direktinvestitionen in Frankreich zu beachten, bei denen so ab 1909 - 1914 große Summen nach Nordfrankreich und die Normandie zu Werksansiedlungen und Aufkäufen von Rohstoffvorkommen gingen?


P.S. die zugegeben lange Liste und weitschweifige Ausführung soll nur zum Nachdenken darüber anregen, ob man die Probleme der Weimarer Republik mit denen der französischen nach 1874 (Liquidierung der Reparationen) vergleichen kann."

http://www.geschichtsforum.de/f60/wie-stabil-war-die-dritte-franz-sische-republik-28666/#post434469

Paßt hier gut dazu.
Quelle: Sée, Französische Wirtschaftsgeschichte II.
 
Eine Übersicht zur Bedeutung des Französischen Kapitalmarktes (Pariser Börse) bis 1914 und den internationalen Kapitalströmen:

http://mpra.ub.uni-muenchen.de/6264/1/The_Paris_Bourse_and_the_international_capital_flows.pdf

LeBris: Why did French Savers buy Foreign Assets before 1914? - Decomposition of the Diversification Benefit.
http://www.univ-orleans.fr/gdre09/articles/LeBris_decomposition_international_portfolio-1.pdf

Das Deutsche Reich im Vergleich:
http://home.gwu.edu/~graciela/HOME-PAGE/RESEARCH-WORK/WORKING-PAPERS/Germany-center.pdf
Bersch/Kaminsky: Financial Globalization in the 19th Century - Germany as a Financial Center.
 
Zuletzt bearbeitet:
Zurück
Oben