Mercy
unvergessen
1904 wurde ein Sparbuch eröffnet, und noch immer bringt es Zinsen
Der kleine Kolonat aus dem unterfränkischen Königshofen, ein uneheliches Kind, erhält von seinem Taufpaten vier Wochen nach seiner Geburt, genau am 12. Mai 1904, ein Sparbuch:
Guthaben: 50 Mark.
50 Mark sind 1904 ein großzügiges Taufgeschenk. Der Wert der Mark wird damals durch Goldvorräte der Notenbank garantiert. Dafür hat Bismarck gesorgt, als er 1871 die einheitliche Währung für das Deutsche Reich einführte. Eine Mahlzeit mit Bier kostet 70 Pfennig, die 50 Mark wären heute 300 Euro wert.
Im Jahr 1906, werden die Zinsen nachgetragen, einmal im Jahr. Außerdem zahlt jemand weitere 50 Mark ein, vermutlich ist es wieder der Patenonkel des Kleinen.
1906 - Guthaben: 102,47 Mark
1914 - Guthaben: 139,43 Mark
Dann ist Krieg.
Das Geld auf dem Sparbuch verliert stetig an Wert, seit die Regierung 1914 die Golddeckung aufgehoben hat und unentwegt Scheine druckt - der Krieg ist teuer. Die Geldmenge verfünffacht sich. 1918 ist der Krieg verloren, fast zehn Millionen Menschen sind tot.
Der 14-jährige Kolonat kramt sein Sparbuch wieder hervor: "448,79 Mark" vermerkt der Banker.
Fünf Jahre, eine bayerische Räterepublik und einen Hitler-Putsch später hat die Hyperinflation das Geld der Deutschen dahingerafft. Die Preise sind ins Unermessliche gestiegen, zu Hause bei Kolonat stapeln sich wertlose Banknoten. Reichskanzler Gustav Stresemann ersetzt die Mark durch die Rentenmark, Kurs eine Billion zu eins. Ein Stempel im Sparbuch hält fest: "Zur Aufwertung angemeldet."
Die Bevölkerung nennt die neue Währung statt "Rentenmark" bald "Goldmark", weil der Wert nun wieder durch Goldreserven garantiert wird. Kurz darauf heißt die Währung dann "Reichsmark". Kolonat, fast 20 Jahre alt, besitzt
1923 - Guthaben: 26,94 Goldmark.
Heute wären das 100 Euro.
Der Plan des Patenonkels, dem Kind einen guten Start ins Leben zu ermöglichen, ist nicht aufgegangen.
Die Nationalsozialisten haben die Macht übernommen. Eine andere Zeit, eine andere Handschrift im Sparbuch, sie vermerkt "36,28 Mark". Kolonat hat geheiratet, ist Vater einer kleinen Emma.
1934 - Guthaben: 36,28 Reichsmark
Die Sparkasse Königshofen entwächst den Privaträumen, 1935 verkündet die lokale Zeitung die "feierl. Einweihung" eines echten Sparkassen-Gebäudes. Es wird in Naturstein errichtet - nach "Anregungen des Führers", schreibt die Zeitung. Vermutlich weiß Hitler noch nicht einmal, wo Königshofen liegt.
1939 - Guthaben: 40 Reichsmark
Und wieder ist Krieg.
Doch Kolonat darf zuhause bleiben. Der 35-Jährige ist zwar im wehrfähigen Alter, aber Landwirte werden zu Hause gebraucht.
Hitler lässt Geld für den Krieg drucken, die Mark verfällt. Aber an sein Sparbuch denkt Kolonat erst wieder nach der deutschen Kapitulation, als im nahen Nürnberg die Prozesse gegen Hermann Göring, Rudolf Heß und andere Nazigrößen laufen. Das Guthaben hat allerdings keinen Wert mehr - Europa liegt in Trümmern; Zigaretten sind die einzige Währung, die zählt.
Nach dem Krieg beläuft sich das Guthaben auf 47,53 Mark.
Und selbst das wenige geht verloren - durch die Währungsreform vom 20. Juni 1948. Jeder Bürger darf höchstens 40 Reichsmark in neue "Deutsche Mark" umtauschen, das restliche Guthaben verfällt. Eine kringelige Schrift vermerkt in Kolonats Sparbuch: "Guthaben aufgebraucht".
Dafür füllen sich die Auslagen in den Geschäften nach der Reform. Deutschland hat wieder eine Währung, die etwas wert ist.
Das Sparbuch ist wertlos, doch Kolonat behält es trotzdem. Vielleicht als Erinnerung an seinen Taufpaten, der ihm das Buch vor mehr als 50 Jahren geschenkt hat, oder weil die Deutschen einfach ihr Sparbuch so sehr lieben; kein Deutscher wirft einfach sein Sparbuch weg. Auch Kolonat nicht. Sein Glück:
Fünf Jahre später erlässt die Regierung unter Konrad Adenauer ein Gesetz zur Entschädigung der Sparer, die ihr Geld mit der Währungsreform verloren haben. Ein beamtengrauer Stempel vermerkt in Kolonat Sparbuch:
"Altsparerentschädigung", 5,60 Deutsche Mark bekommt er nun zurück.
1953 - Guthaben: 5,60 Deutsche Mark
Es geht aufwärts: mit der Bundesrepublik, der Deutschen Mark und dem Guthaben auf dem Sparbuch. 1954 wird Deutschland Fußball-Weltmeister, das Wirtschaftswunder beschert dem Land einen ungekannten Aufschwung, die Arbeitslosigkeit sinkt unter ein Prozent. Der bereits 50-jährige Kolonat macht endlich seinen Führerschein. Und er wird Großvater. Sein Enkel heißt nach ihm Kolonat, nun leben drei Generationen zusammen.
Als sein Enkel 16 Jahre alt ist und sich für eine Banklehre entscheidet, ist Kolonat stolz. Er verspricht dem Teenager: "Ich hab da noch ein altes Sparbüchle."
1993 - Guthaben: 614,16 Deutsche Mark
Die nahe Grenze zur DDR gibt es nicht mehr. Deutschland ist wiedervereinigt, die Währungsreform lässt das Sparbuch diesmal unberührt. Kolonat geht es nicht gut, der 89-Jährige merkt das Alter, spürt sein langes Leben. Er überträgt seinem Enkel Kolonat das Sparbuch, damit es im Fall seines Todes nicht von der Sparkasse eingezogen wird.
Eine junge Bankangestellte mit schwarzem Kugelschreiber schreibt den neuen Eigentümer, Kolonat in das alte Sparbuch von 1904 ein.
Sparbuch-Erbe Kolonat läß in seiner Heimatstadt, die inzwischen Bad Königshofen heißt, das Guthaben auf dem alten Sparbuch in Euro umrechnen.
"Währungs-Umstellung Faktor 1,95583" notiert eine rundliche Schrift.
2002 - Guthaben: 383,56 Euro
Die Zinsen lässt er aus Platzgründen nur selten eintragen. Damit er das Buch noch lange behalten kann. Vier Seiten sind frei. "Das reicht für die Zinseinträge der nächsten 50 Jahre", hofft der heute 51-Jährige.
Vier Seiten für neue Währungsumstellungen, neue Besitzer, hoffentlich nicht für neue Kriege.
Nach:
Von Kühen, Kriegen und Kleingeld
Wie sich Deutschlands Geschichte in einem der ältesten Sparbücher des Landes widerspiegelt: 1904 wurde es eröffnet, und noch immer bringt es Zinsen
Von Hannah Wilhelm
(Süddeutsche Zeitung vom 7.5.2008)
Der kleine Kolonat aus dem unterfränkischen Königshofen, ein uneheliches Kind, erhält von seinem Taufpaten vier Wochen nach seiner Geburt, genau am 12. Mai 1904, ein Sparbuch:
Guthaben: 50 Mark.
50 Mark sind 1904 ein großzügiges Taufgeschenk. Der Wert der Mark wird damals durch Goldvorräte der Notenbank garantiert. Dafür hat Bismarck gesorgt, als er 1871 die einheitliche Währung für das Deutsche Reich einführte. Eine Mahlzeit mit Bier kostet 70 Pfennig, die 50 Mark wären heute 300 Euro wert.
Im Jahr 1906, werden die Zinsen nachgetragen, einmal im Jahr. Außerdem zahlt jemand weitere 50 Mark ein, vermutlich ist es wieder der Patenonkel des Kleinen.
1906 - Guthaben: 102,47 Mark
1914 - Guthaben: 139,43 Mark
Dann ist Krieg.
Das Geld auf dem Sparbuch verliert stetig an Wert, seit die Regierung 1914 die Golddeckung aufgehoben hat und unentwegt Scheine druckt - der Krieg ist teuer. Die Geldmenge verfünffacht sich. 1918 ist der Krieg verloren, fast zehn Millionen Menschen sind tot.
Der 14-jährige Kolonat kramt sein Sparbuch wieder hervor: "448,79 Mark" vermerkt der Banker.
Fünf Jahre, eine bayerische Räterepublik und einen Hitler-Putsch später hat die Hyperinflation das Geld der Deutschen dahingerafft. Die Preise sind ins Unermessliche gestiegen, zu Hause bei Kolonat stapeln sich wertlose Banknoten. Reichskanzler Gustav Stresemann ersetzt die Mark durch die Rentenmark, Kurs eine Billion zu eins. Ein Stempel im Sparbuch hält fest: "Zur Aufwertung angemeldet."
Die Bevölkerung nennt die neue Währung statt "Rentenmark" bald "Goldmark", weil der Wert nun wieder durch Goldreserven garantiert wird. Kurz darauf heißt die Währung dann "Reichsmark". Kolonat, fast 20 Jahre alt, besitzt
1923 - Guthaben: 26,94 Goldmark.
Heute wären das 100 Euro.
Der Plan des Patenonkels, dem Kind einen guten Start ins Leben zu ermöglichen, ist nicht aufgegangen.
Die Nationalsozialisten haben die Macht übernommen. Eine andere Zeit, eine andere Handschrift im Sparbuch, sie vermerkt "36,28 Mark". Kolonat hat geheiratet, ist Vater einer kleinen Emma.
1934 - Guthaben: 36,28 Reichsmark
Die Sparkasse Königshofen entwächst den Privaträumen, 1935 verkündet die lokale Zeitung die "feierl. Einweihung" eines echten Sparkassen-Gebäudes. Es wird in Naturstein errichtet - nach "Anregungen des Führers", schreibt die Zeitung. Vermutlich weiß Hitler noch nicht einmal, wo Königshofen liegt.
1939 - Guthaben: 40 Reichsmark
Und wieder ist Krieg.
Doch Kolonat darf zuhause bleiben. Der 35-Jährige ist zwar im wehrfähigen Alter, aber Landwirte werden zu Hause gebraucht.
Hitler lässt Geld für den Krieg drucken, die Mark verfällt. Aber an sein Sparbuch denkt Kolonat erst wieder nach der deutschen Kapitulation, als im nahen Nürnberg die Prozesse gegen Hermann Göring, Rudolf Heß und andere Nazigrößen laufen. Das Guthaben hat allerdings keinen Wert mehr - Europa liegt in Trümmern; Zigaretten sind die einzige Währung, die zählt.
Nach dem Krieg beläuft sich das Guthaben auf 47,53 Mark.
Und selbst das wenige geht verloren - durch die Währungsreform vom 20. Juni 1948. Jeder Bürger darf höchstens 40 Reichsmark in neue "Deutsche Mark" umtauschen, das restliche Guthaben verfällt. Eine kringelige Schrift vermerkt in Kolonats Sparbuch: "Guthaben aufgebraucht".
Dafür füllen sich die Auslagen in den Geschäften nach der Reform. Deutschland hat wieder eine Währung, die etwas wert ist.
Das Sparbuch ist wertlos, doch Kolonat behält es trotzdem. Vielleicht als Erinnerung an seinen Taufpaten, der ihm das Buch vor mehr als 50 Jahren geschenkt hat, oder weil die Deutschen einfach ihr Sparbuch so sehr lieben; kein Deutscher wirft einfach sein Sparbuch weg. Auch Kolonat nicht. Sein Glück:
Fünf Jahre später erlässt die Regierung unter Konrad Adenauer ein Gesetz zur Entschädigung der Sparer, die ihr Geld mit der Währungsreform verloren haben. Ein beamtengrauer Stempel vermerkt in Kolonat Sparbuch:
"Altsparerentschädigung", 5,60 Deutsche Mark bekommt er nun zurück.
1953 - Guthaben: 5,60 Deutsche Mark
Es geht aufwärts: mit der Bundesrepublik, der Deutschen Mark und dem Guthaben auf dem Sparbuch. 1954 wird Deutschland Fußball-Weltmeister, das Wirtschaftswunder beschert dem Land einen ungekannten Aufschwung, die Arbeitslosigkeit sinkt unter ein Prozent. Der bereits 50-jährige Kolonat macht endlich seinen Führerschein. Und er wird Großvater. Sein Enkel heißt nach ihm Kolonat, nun leben drei Generationen zusammen.
Als sein Enkel 16 Jahre alt ist und sich für eine Banklehre entscheidet, ist Kolonat stolz. Er verspricht dem Teenager: "Ich hab da noch ein altes Sparbüchle."
1993 - Guthaben: 614,16 Deutsche Mark
Die nahe Grenze zur DDR gibt es nicht mehr. Deutschland ist wiedervereinigt, die Währungsreform lässt das Sparbuch diesmal unberührt. Kolonat geht es nicht gut, der 89-Jährige merkt das Alter, spürt sein langes Leben. Er überträgt seinem Enkel Kolonat das Sparbuch, damit es im Fall seines Todes nicht von der Sparkasse eingezogen wird.
Eine junge Bankangestellte mit schwarzem Kugelschreiber schreibt den neuen Eigentümer, Kolonat in das alte Sparbuch von 1904 ein.
Sparbuch-Erbe Kolonat läß in seiner Heimatstadt, die inzwischen Bad Königshofen heißt, das Guthaben auf dem alten Sparbuch in Euro umrechnen.
"Währungs-Umstellung Faktor 1,95583" notiert eine rundliche Schrift.
2002 - Guthaben: 383,56 Euro
Die Zinsen lässt er aus Platzgründen nur selten eintragen. Damit er das Buch noch lange behalten kann. Vier Seiten sind frei. "Das reicht für die Zinseinträge der nächsten 50 Jahre", hofft der heute 51-Jährige.
Vier Seiten für neue Währungsumstellungen, neue Besitzer, hoffentlich nicht für neue Kriege.
Nach:
Von Kühen, Kriegen und Kleingeld
Wie sich Deutschlands Geschichte in einem der ältesten Sparbücher des Landes widerspiegelt: 1904 wurde es eröffnet, und noch immer bringt es Zinsen
Von Hannah Wilhelm
(Süddeutsche Zeitung vom 7.5.2008)