Nürnberger Prozesse / Rechtsschöpfung

Dog Soup

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Hallo allerseits,

ich möchte euch gern um einen Buchtipp zu den Nürnberger Prozessen bitten, und zwar geht es mir vor allem um ihre Einbettung ins internationale Recht.

Immerhin war die Verurteilung von Naziverbrechen ja eine rechtsschöpferische Leistung der Alliierten - vorher war es nicht (oder sagen wir: nicht in diesem normativen Maß) möglich gewesen, Regierungen und nationale Rechtssysteme von außen aufzuhebeln. Ich meine damit konkret, dass es für Staaten rechtlich unmöglich war, Leute vor Gericht zu stellen für etwas, was in ihrem eigenen Rechtssystem während der Tat als "legal" gegolten hatte, bzw. sogar Regierungsangehörige für ihre Art der Herrschaft in einem anderen Staat zu bestrafen. Das alles wurde durch die Nürnberger Prozesse erst möglich. Und mich interessiert, wie genau das rechtlich-politisch passiert ist.

Ich könnte sowohl eine gute historische Einführung in die Nürnberger Prozesse selbst brauchen als auch jeden konkreten Buchtipp zu meiner eigentlichen Recherchefrage (ihre Einbettung in internationales Recht).
 
Das Problem ist die implizite Zäsur.

Das muss man nicht unbedingt beachten. Ich habe gar kein Problem mit einer größeren historischen Kontextualisierung der Nürnberger Prozesse; ich habe auch schon ein Buch gelesen, das die Konstruktion von Tätern, die hier stattfindet, mit institutionellen Innovationen des frühen 19. Jahrhunderts in Verbindung bringt.

Grundsätzlich geht es mir wirklich hauptsächlich darum zu verstehen, wie Täterschaft bei den Nürnberger Prozessen verstanden wird.
 
Die erwähnte Frage der "Täterschaft" interpretiere ich so, dass auf die Tatbestände abgestellt wird, somit auf die Entwicklung des ius ad bellum im 20. Jahrhundert.

Dass hierbei der Versailler Vertrag - als Wurzel eines "Angriffskriegsverbots" - eine gewisse Rolle spielt, fortgesetzt durch Briand-Kellog-Pakt in den 1920ern, habe ich schon gesagt.

Es gibt eine Reihe von Publikationen, die sich damit beschäftigen:

Räber, Franz: Das Recht zum Krieg im zwanzigsten Jahrhundert und die Auswirkungen auf den Kriegsbegriff, 1975.

Das ist eine Gesamtdarstellung, die eben diese Überleitung leistet und den großen Bogen schlägt, aber auch auf die Nürnberger Prozesse abstellt.

Empfehlenswert ist auch eine ältere Dissertation:
Mähler, Hans-Georg: Die völkerrechtliche Bedeutung des Kriegs- und Gewaltverbots durch Kellogg-Pakt und UN-Satzung, 1965.
Hier wird der Zwischenschritt "IMT" eingebaut und erläutert.

Derpa, Rolf: Das Gewaltverbot der Satzung der Vereinten Nationen und die Anwendung nichtmilitärischer Gewalt ... bezieht sich auf die UN-Satzung in Auswertung der IMT-Grundsätze, und erläutert das Gewaltverbot als Konsequenz des Verbots von Angriffskriegen.

Hankel/Stuby: Strafgerichte gegen Menschheitsverbrechen, 1995.
Der rennomierte Völkerrechtler Hankel setzt ebenfalls bei den Fragen des Versailler Vertrages an.

Kommentare wie von Oppenheim, International Law, gehen ebenfalls auf die rechtssetzende bzw. völkerrechtbildende Bedeutung des IMT ein.

Konzentrierter und speziell bezogen auf die Nürnberger Prozesse:
Susanne Jung: Die Rechtsprobleme der Nürnberger Prozesse - Dargestellt am Verfahren gegen Friedrich Flick

Abzuraten ist von der Darstellung in
Schlepple, Eberhard: Das Verbrechen gegen den Frieden und seine Bestrafung
Unter besonderer Berücksichtigung des Grundsatzes «nulla poena sine lege»
Diese erscheint mir zu tendenziös, wenn nicht sogar apologetsich, ist aber im Verbund mit den anderen Darstellungen ein Mittel, die umstrittene Diskussion und die Rechtsprobleme für das IMT nachzuvollziehen.
 
... no anyone, but rather respectfullness of the issue.

@DogSoup

Dein Thema ist sehr komplex. Natürlich hat das IMT eine rechtsschöpferische Leistung erbracht, aber worauf bezog sich der IMT? silesia beantwortet diese Fragestellung mit dem Verweis auf den Briand-Kellog-Pakt und dem VFV und dieses beschäftigte den IMT auch sehr - weil, die hatten ein juristisches/rechtshistorisches Legitimationsproblem. Das wurde faktisch gelöst durch das Londoner Viermächteabkommen vom August 1945.

http://www.icls.de/dokumente/imt_londoner_abkommen.pdf

Welches in § 1 auf die Moskauer Deklaration abstellt.

MOSCOW CONFERENCE, October, 1943

Damit und mit dem Statut des IMT wandeln die Alliierten überpositives Recht in positives Recht. Das ist rechtshistorisch noch nicht einmal singulär. Aber, und das ist m.E. die Leistung des IMT, es wird justiziabel und verlässt den Rechtskreis des Staatsrechtes und wird strafrtechtlich gleichsam "entstaatlicht", ein weiteres Problem des IMT; und späterhin richtigerweise zivilrechtlich relevant und somit individualisiert.

Dann käme in der rechtshistorischen Diskussion die "Täter-Definition" und die Beweismittel-Logik.

Das für den Anfang, sorry, das Medium "Forum" hat Grenzen.

M.
 
Zuletzt bearbeitet:
Vielen Dank für eure Hilfe - das hat schon mal sehr viel beigetragen. Ich muss das jetzt erstmal alles durchlesen. :)
 
So, ich dachte, ich melde mich zumindest mal kurz zurück betreffs der Beiträge die hier so hilfreich gepostet worden waren.

Also zusammenfassend haben sich hier zwei Großbereiche ergeben, nämlich 1) die Anklage gegen Kriegsverbrechen (wozu ich jetzt auch mal den Angriffskrieg zählen würde) bei der es durchaus substanzielles geltendes Recht gab, auf das man sich stützen konnte, und 2) die tatsächlich brandneue Anklage der Verbrechen gegen die Menschlichkeit.* Die meisten Beiträge in diesem Thread wurden zum Kriegsbereich gepostet. Der Verbrechen-gegen-die-Menschlichkeit-Bereich wurde nicht so sehr betrachtet, was aber sicher daran liegt, dass der eher während der Nebenanklagen und später während des Eichmann-Prozesses zum Tragen kam.

Die Pointe fehlt dem Beitrag jetzt gerade so ein bisschen. :grübel:

Um dem kurz abzuhelfen: Wusstet ihr, dass Göring von den anwesenden Prozessreporterinnen aus aller Welt mit überwältigender Mehrheit zum beschlafenswertesten Angeklagten der Nürnberger Prozesse gewählt wurde? Facepalm des Tages. :autsch:


___

*Wobei Hannah Arendt ganz treffend anmerkt, dass das ja wohl eine total bescheuerte Bezeichnung sei, weil es impliziert, dass es da nur an Manieren und Taktgefühl gefehlt habe... sie schlägt vor, dass man auf Deutsch wie in allen anderen Sprachen auch lieber "Verbrechen gegen die Menschheit" sagen sollte.
 
Also zusammenfassend haben sich hier zwei Großbereiche ergeben, nämlich 1) die Anklage gegen Kriegsverbrechen (wozu ich jetzt auch mal den Angriffskrieg zählen würde) bei der es durchaus substanzielles geltendes Recht gab, auf das man sich stützen konnte, und 2) die tatsächlich brandneue Anklage der Verbrechen gegen die Menschlichkeit.* Die meisten Beiträge in diesem Thread wurden zum Kriegsbereich gepostet. Der Verbrechen-gegen-die-Menschlichkeit-Bereich wurde nicht so sehr betrachtet, was aber sicher daran liegt, dass der eher während der Nebenanklagen und später während des Eichmann-Prozesses zum Tragen kam.

In dem von Gandolf verlinkten Aufsatz ist das sehr schön aufgerissen.

Das Novum gerade bei den "Verbrechen gegen die Menschlichkeit", lag doch einmal in der Durchbrechung der staatlichen Souveränität (den Punkt kann man hier evt. schärfer sehen als bei Verletzungen von Staatsverträgen, also etwa hinsichtlich Anklagevorwurf Angriffskrieg). Solche Verbrechen wären auch nach gültigem Reichsstrafgesetzbuch verfolgbar gewesen, wurden jedoch auf die "internationale Ebene" des Völkerstrafrechts "gezogen".

Ein anderer wichtiger Faktor lag in der Durchbrechung der Immunität für Taten, die in Ausübung eines öffentlichen Amtes begangen wurden (Act-of-State-Doctrine). Hier hätte nationales Strafrecht eventuell schützend wirken können, wenn Verbrechen wie die gegen die Menschlichkeit individuell nicht verfolgbar gewesen wären, weil sie in Ausübung von Staatssouveränität erfolgten und nachgeordnete Personen mit Hinweis des "Handels auf Befehl" hätten schützen können.

Beides stellte einen Durchbruch für das Völkerstrafrecht dar.
 
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