Ernährung im Mittelalter

Galgenpapst

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Ich (Historiker) habe vor kurzem ein wundervoller Buch zum Thema Essen und Trinken im Mittelalter gelesen, spannend geschrieben und überaus informativ, und einige Gedanken dazu zu Papier gebracht; vielleicht interessieren sich mehrere Interessierte dieses Forums ebenfalls für dieses Thema:

Ernst Schubert, Essen und Trinken im Mittelalter. Primusverlag (WBG) Darmstadt 2006. 440 S., 39,90 €.

Die populäre Vorstellung von der Ernährung im Mittelalter und der frühen Neuzeit zeichnet ein Bild von feierfreudigen Gesellen, denen der Bratensaft aus den Bärten tropfte und die überaus trinkfest waren. Doch die Realität sah ganz anders aus: Es gab keine Völlerei bei dem zahlenmäßig ganz überwiegenden Teil der Bevölkerung, keine „Sauff- und Freßgrewel“, um ein zeitgenössisches Zitat aus dem Jahre 1610 zu bemühen, „in einer Welt der Holzhäuser“ (S. 208). Es war dagegen eine „Welt der kurzen Nahrungsdecke“ (S. 247) mit „Brei(suppe) und Brot“ (S. 74, 82-83) und dünnen, sauren Weinen oder schwachen Bieren wie dem „schrecklichen Haferbier“ (S. 171) als einfachen Haustrunken, allesamt Grundnahrungs-, aber explizit keine Genussmittel.

Diese Darstellung, besser Richtigstellung, und ihre vielfältigen historisch verankerten Begründungen sind das Thema des Göttinger Historikers Ernst Schubert (1941-2006), dem diese Thematik offenbar eine Herzensangelegenheit ist. Er schreibt diese umfangreiche Ernährungsgeschichte mit Kraft und Engagement, mit Witz und Bezügen zur Gegenwart; er scheut keine konstruktive Kritik und – vor allem – schreibt er mit viel Sachverstand.

Dieses umfassende Wissen schöpft er aus der Fachliteratur, vor allem aber aus zeitgenössischen Quellen, wie etwa den Notizen des Kölner Ratsherren Hermann Weinsberg (S. 246), die der Autor tiefsinnig zum Sprechen bringt. Und natürlich nutzt er auch die Erkenntnisse der Nachbarwissenschaften wie der Archäologie und Etymologie, zieht Sprichworte heran. Der Autor springt mit seinen Belegen durch das gesamte Europa, zeitlich von der Spätantike bis in die Neuzeit.

Seine Kulturgeschichte ist fesselnd und lesenswert; den 310 spärlich, aber vortrefflich illustrierten (z. B. S. 179) Textseiten sind fast 80 Seiten mit Anmerkungen sowie ein umfassendes Quellen- und Literaturverzeichnis (40 Seiten) sowie ein Register und der Abbildungsnachweis beigegeben. Das Werk gliedert sich in drei Hauptteile, sieht man von der Einführung ab, die definitorische und methodische Fragen diskutiert, und dem o. g. Anhang. Der erste Teil ist dem Essen gewidmet. In zahlreichen ausführlichen Kapiteln beschäftigt sich Schubert mit einzelnen Aspekten dieses Themenkomplexes, etwa dem Salz (S. 45-70), der Bedeutung von Getreide, Brei und Brot (S. 71-95) sowie den ‚Tieren, Fleisch und Metzgern’ (S. 96-119). Durchaus wohlbegründet widmet er dem Huhn einen eigenen Abschnitt (S. 120-125), darin enthalten ein weiterer Exkurs: Vögel als Nahrungsmittel. Die Seiten 126-130 sind dem Fisch als wichtigem, eiweißhaltigem Grundnahrungsmittel gewidmet. Es folgen 19 Seiten über Hering und Stockfisch, ebenfalls Exkurse. Dann setzt sich der Autor mit Obst und Gemüse (S. 150-159) sowie Küchenkräutern und Gewürzen (S. 160-168) auseinander. Ausführlich behandelt Ernst Schubert dann im zweite Teil ‚Das Trinken’; er thematisiert den Wein (S. 173-205), das Bier (S. 206-231) und auch die gebrannten Wässer und den Schnaps (S. 232-240). Das dritte Kapitel titelt ‚Essen und Trinken in den Lebensordnungen’ (S. 241-300), thematisiert etwa die interessante Geschichte des Essgeschirrs und –bestecks oder nimmt sich dem Phänomen von Gelagen und Besäufnissen („beweinen“) und sogar der frühneuzeitlichen Diskriminierung des Furzes als Ausdruck der Privatisierung des individuellen Lebens an, aber etwa auch dem deutschen Saufteufel.

Schubert nähert sich seinen Themen auf eine ihm ganz eigene Art. Er stellt Thesen auf, leuchtet sie mit Argumenten zu allen Seiten hin aus, belegt seine Ideen mit historischem Material und interpretierenden Gedanken. Und ganz nebenbei erfährt der Leser geschichtliche Zusammenhänge, die er an dieser Stelle gar nicht erwartet hat. So wird er im Text über die Geschichte des Getreides (S. 73 ff) auch mit der Bedeutung von Sichel und Sense, von Vorratshaltung und der These der ‚Vergetreidung’ im hohen Mittelalter vertraut gemacht. Auch Probleme werden augenfällig gemacht, etwa der vor allem für Breie und Suppen geeignete Buchweizen (‚heiden’), der historischen Quellen zufolge erst im 14. Jahrhundert bekannt geworden ist, von der Archäobotanik (K.-H. Knörzer) aber etwa für Neuss (S. 76) schon im 12. Jahrhundert nachgewiesen ist. Und auch der verschwindend geringe Wildtierknochenanteil auf mittelalterlichen Burgen – angesichts der immensen Bedeutung der herrschaftlichen Jagden ein auffallendes Phänomen – findet eine zwanglose Erklärung (S. 103). Verbreitet ist die Meinung, dass die Gabel als Essgerät im Mittelalter als Teufelswerkzeug abgelehnt wurde und sich erst im 16. Jahrhundert im Betrachtungsraum durchsetzen konnte. Schubert verwirft diese Begründung, denn die Forke, nicht aber die Gabel, gehörte zur mittelalterlichen Ikonographie des Teufels. „Der Grund, warum die Mistforke nicht die Anregung für die Gabel […] gab, ist ganz einfach: Die Gabel ist schwer zu schnitzen und auch schwer zu schmieden“ (S. 257).

Wortspiele und ganz persönliche Wertungen, das eindringliche Wiederaufgreifen bereits behandelter Aspekte und die weite Betrachtungsperspektive, der inhaltliche Tiefgang und eine klare Sprache bereiten einen ungeheuren Lesespaß. Ohne aufdringlich zu werden, belehrt der Autor seine Leserschaft: Wer hat schon darüber nachgedacht, dass es zwar ‚Weinlandschaften’ (z. B. Mosel) gibt, aber nur ‚Bierstädte’ (z. B. Einbeck); Schubert liefert dafür die historische Erklärung (S. 210). Und auch mit dem Mythos vom bayrischen Reinheitsgebot von 1516 räumt er auf und erläutert, dass es sich bei dieser Vorschrift eigentlich um eine Höchstpreisordnung (S. 228 ff.) handelt.

Ein Buch mit einer solchen Wissensfülle kann nicht ohne kleine Mängel oder gar Fehler sein. Sicher meint der Autor auf S. 73 keine Nomaden, sondern spielt auf unsere Vorfahren an, die als Wildbeuter schweifend – und somit mobil – lebten. Ob sich die drehbaren hölzernen Bockwindmühlen in den norddeutschen Landen wirklich erst im 18. Jahrhundert durchzusetzen vermochten, sei zumindest bezweifelt (S. 81). Und die Zeidlerei (S. 164) meint nicht die Zucht, sondern die Honigernte der Waldbienen, bei der man sich nicht um das Weiterleben der Bienenvölker kümmerte, sondern lediglich die Nistplätze in Bäumen ausraubte (vgl. Yvonne Kuthada, Die Imkerei und Zeidlerei. In: Spätmittelalter am Oberrhein. Alltag, Handwerk und Handel 1350-1525. [Ausstellungskatalog Karlsruhe] Aufsatzband. Stuttgart 2002, S. 185-189). Wiederholungen (z.B. Werke H. Brunschwygk 1500 und 1512 auf S. 235) sind nur mit Mühe zu überlesen und wirken gequält. In die Tiefe gehende Details etwa zur Herstellung und Befüllung von Heringstonnen findet man in dieser Form selten (S. 140); es ist aber der Darstellung nicht dienlich, die Menge des Salzes pro Fass mehrfach zu erwähnen (S. 134). Dies irritiert den Leser gelegentlich und bremst den Lesefluss dieses unglaublich kenntnisreichen Druckwerkes, das übrigens mehrfach ausführlich auf die Region des Niederrheins abhebt: Knotenpunkt für den Handel mit gesalzenen Heringen in Eichenfässern für die süddeutschen Länder war Köln (S. 134-135). Der Viehmarkt der Domstadt war der bedeutendste im Rheinland; die Ware ‚Ochsen’ – also Rindvieh – wurde in großen Herden aus Jütland über Wedel an der Unterelbe und von Friesland bis an den oberen Niederrhein getrieben (S. 112). In diesem Ochsentrieb, so erfährt man beiläufig, begründet sich auch die Ortsbezeichnung ‚Friesenviertel’ (S. 110).

Der fesselnde Schreibstil des jüngst verstorbenen Autors, immer nah am Quellenmaterial, zieht den Leser in seinen Bann, nimmt ihn mit auf eine ganz eigene Geschichtsreise in die ‚Welt der Breinahrung’ zwischen 500 und 1500 n. Chr. Spannend zu lesen wie ein Roman ist diese Sitten- und Kulturgeschichte vom ‚Essen und Trinken im Mittelalter’. Dabei positioniert der Autor sich auch in Hinblick auf aktuelle Problematiken (z. B. Massentierhaltung S. 120) und – zumindest beim Rezensenten – wurden Erinnerungen wach an ‚saure Nieren’ und ‚Schweinkopf’ (S. 109), die auch er in den 1960/70er Jahren essen durfte (oder muste?). Heute finden sich solche ‚Delikatessen’ längst nicht mehr in deutschen Kochtöpfen. Nahrungsmittel schreiben Geschichte! Übrigens: Wer auf historische Rezepte hofft, wird gänzlich enttäuscht.

Die existenzielle Frage nach dem Brot wurde im gesamten Mittelalter und auch in der Frühen Neuzeit täglich gestellt: „Ihre speiss ist schwarz rucken Brot, Haberbrey oder gekochte Erbsen und Linsen“, befand Sebastian Münster über die Ernährungsgewohnheiten des einfachen Mannes anno 1544 (S. 97). Essen und Trinken ist auch das Thema des hier vorzustellenden, wundervoll belehrenden Buches, das jedem am Thema interessierten Fachmann oder Laien nur wärmstens empfohlen werden kann!

Wenn der Rezensent ob seiner kritischen Anmerkungen ‚in des Teufels Küche’ kommen sollte, so wird er sich diesen Umstand zwar nicht erklären können, wohl aber die Provenienz dieses Sprichwortes (S. 249).

Quelle: Düsseldorfer Jahrbuch 78, 2008, S. 429-432
 
Zuletzt bearbeitet von einem Moderator:
Ich habe bei Ernst Schubert meine Magisterarbeit geschrieben und lese seine Bücher ebenfalls sehr gerne. "Essen und Trinken im Mittelalter" hat mir auch sehr gut gefallen, zumal es sich streckenweise fast wie ein historischer Roman liest.

Ich habe mir daher Galgenpapst Beitrag sehr gerne angesehen, und ich finde er hat eine sehr gute Rezension über ein Buch geschrieben, dass ihm sehr gut gefallen hat. Vielleicht hätte der Beitrag noch besser als Buchtipp im Unterforum "Mittelalter" gepasst, aber ich hatte durchaus nicht den Eindruck, dass @Galgenpapst etwas einfach kopiert, sondern dass die, nebenbei bemerkt hervorragende, Rezension von ihm selbst stammt.

Mir wäre der Beitrag jedenfalls einen Grünen wert gewesen, und ich heiße daher den Autor herzlich willkommen in unserer Internetcommunity!
 
Scorpio,

ich weiß zwar nicht, was ein "Grüner" ist, aber danke für das Lob ("hervorragende Rezension") und den kollegialen Willkommensgruß!
 
Ehre wem Ehre gebührt! Bis Juni 2008 gab es im Geschichtsforum ein Bewertungssystem. Man konnte Beiträge, die einem gefielen mit einem grünen Stern honorieren oder wenn sie einem nicht gefielen einen roten Stern verschießen. Es wurde viel über das Bewertungssystem gelästert, doch jetzt wo wir nicht mehr bewerten können, sehen wir erst, wie gut das System in der Quersumme funktioniert hat..
 
Ich interessiere mich für mittelalterliche Ernährung und Kochen. Auch ich muss agen, das dies ein wirklich sehr gutes Buch ist mit hervorragenden Quellenangaben.
 
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