Heraldik + Sittenstrenge = ?

muck

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Hallo zusammen!

Soeben fiel ich aus allen Wolken, als mir aufging, dass ich mir eine interessante Frage zu einer Passion von mir, der Heraldik, noch nie gestellt hatte: Wie gingen manche heraldische Motive und die mittelalterliche Sittenstrenge überhaupt zusammen?

Natürlich muss man festhalten, dass sittliche Maßstäbe zu allen Zeiten mehr Leitschnur als Fallbeil gewesen sind und gebietsweise das Mittelalter als Zeit falscher Frömmigkeit gelten muss; dass in manchen Städten etwa die städtischen Bade- und Freudenhäuser direkt neben dem Richtplatz lagen, darauf die Kunden die Knute fürchten mussten. Wer reich genug war, dessen Handlungsfreiheit minderte meist nur die Absicht, sein Ansehen bei seinen Standesgenossen zu erhalten.

Dennoch, so manche gemeine Figur ist verblüffend. Nackte Frauen gehören noch zu den harmloseren: Bspw. die Pirch aus Pommern, auf deren Wappen sich eine nackte Frau an einem (scheinbar lebenden) Fuchs reibt. In Ungarn führten die Varallyay ein Wappen, das einen erigierten Penis zeigte, in Italien die Cogliones drei paar Hodensäcke im Dreipass. Doch auch in anderer Hinsicht wurden die damaligen Sitten durch manches Wappen angegriffen: Vor allem in Skandinavien sind Dämonen und sogar der Teufel selbst als gemeine Figur aufgetreten. In einer finnischen Wappenrolle mit unaussprechlichem Namen habe ich ein Wappen aus dem 16. Jahrhundert gesehen, das eine nackte Hexe auf einem Ast zeigt, wobei die Anordnung der Zweige an dem Ast… durchaus pornographische Interpretationen erlaubt.

Ich hätte angenommen, dass mit der zunehmenden Macht der Kirche in den Jahren nach der ersten großen Pest und der zunehmenden Institutionalisierung der Heraldik durch das Heroldswesen solche Späße eher unterbunden worden wären. Warum wurden sie nicht unterbunden? Galt die Heraldik als für den Klerus unantastbar? Und lassen sich hier ggf. sogar Parallelen zur "Pinup-Kultur" ziehen, d.h. der heute verbreiteten Praxis in Militäreinheiten, Fahrzeuge etc mit leichtbekleideten Mädels zu bemalen?

Freue mich auf Antworten.
 
Bei der Fragestellung musste ich erst einmal herzlich lachen. Und ja, manche gemeine Figur ist verblüffend.

Die Frage ist in meinen Augen eher, ob mit "zweifelhaften" Darstellungen automatisch ein Konflikt mit der Sittenstrenge einhergehen musste. Wenn man sich so manches Gotteshaus in Europa anschaut, scheint es ja schon bei den Sittenwächtern zu verschiedenen Zeiten ein ambivalentes Verhältnis zu gewissen Darstellungen gegeben zu haben. Wenn es um die Darstellung von Teufelswerk oder Lasterhaftigkeit ging, durfte es an Darstellungen für die analphabetische Gemeinde ja nicht mangeln. Wichtig ist die Symbolik und deren Deutung.

Zudem verzeichnet die Macht der Kirche ja keinen linearen Anstieg durch die Zeitalter. Strengere oder engstirnigere Phasen wurden durch recht aufgeschlossene, besser pragmatische Phasen abgelöst. Das wird sich sicherlich auch auf die Gestaltung mancher Wappen ausgewirkt haben.

Wenn ich das nun auf die Heraldik als solches fokussiere, dann vermute ich bei extravaganten Darstellungen - gerade bei gemeinen Figuren - eher eine Form von redende Wappen, die Bezüge zum Namen oder vielleicht zu Sagen etc. herstellen.

Zudem denke ich, dass gerade der regionale Bezug oder auch Überreste alter Traditionen, Sagen und Religionen in skandinavischen oder gerade in östlichen Ländern Europas viel stärker und freier gehandhabt wurden, als vielleicht in Mitteldeutschland oder Frankreich.

Ich glaube nicht das die Heraldik für den Klerus als unantastbar galt, eher an einer untergeordneten Bedeutung.

Den Hinweis auf die "Pinup-Kultur" ist witzig, aber so weit würde ich nicht gehen. Die einzige Parallele die ich sehe sind die Wappen die speziell "militärische" bzw. Kreuzfahrerbezüge aufweisen (z.B. Turnierkragen, angeblich die Merlette), aber ein diesbezügliches Pinup wäre mir neu.
 
Nun ja, zum einen ist die "Sittenstrenge " eigentlich eher eine Erfindung der (spieß)ürgerlichen Gesellschaft des späten 18. und 19. Jahrhunderts, in der man sich gegen den "dekadenten " Adel abgrenzen wollte- quasi als Gegenentwurf zum eher libertinären Ancien Regime
Im Mittelalter und der Renaissance gab es zwar gewisse strafbewehrte Tabus wie Sodomie/Homosexualität , aber ansonsten galt durchaus ein erheblich größere Freizügigkeit als in späteren Zeiten,-schau Dir mal die Darstellungen in der damaligen Kunst an, insbesondere auch die Kleinplastiken an Kirchen, die Weltgerichts-und Höllenszenen-da geht vieles bis in den Bereich der heute als Softporno bezeichnet wird
-ich erinnere mich z.b. dass auf einem Kämpferkapitell in St Radegonde in Poitiers ( 11./13. Jahrhundert ) eine Nonne mit gespreitzten Beinen in sehr eindeutiger Pose dargestellt ist und der ein oder andere Wasserspeier ebenfalls in die Richtung geht

Die Kirche,insbesondere die Amtskirche stand übrigens damals keineswegs für Sittenstrenge,das waren nur einzelne Richtungen,die größtenteils aus der Büßer- und Mönchsbewegung kamen und sich meist am Rande der Häresie bewegten-

Das Verständnis war damals also ein völlig anderes und Badehäuser und Bordelle gehörten nicht nur zu jeder Stadt sonder waren auch nicht so tabuisiert wie das im 19.Jahrhundert der Fall war.

Dieses Verständnis schlug sich natürlich auch in der Heraldik nieder
Fabelwesen wie der Jungfrauenadler und Wilde Leute wurden traditionell immer nackt oder halbnackt dargestellt und bei redenden Wappen wie dem der Cogliones war man halt sehr anschaulich.
 
Mal abgesehen von der Heraldik, waren solche, heute als anstößig empfundene Darstellungen auch damals als ›Schockbilder‹ gemeint. Außen angebracht waren sie bekanntlich zur Abschreckung böser Geister gedacht. Sie sollten auffallen und auch zum Senken des Blickes auffordern. Hinzukam die Vorliebe für Ermahnungen, indem häufig Redewendungen umgesetzt wurden, die wir heute kaum kennen.
Ähnlich wird es bei vielen Wappen sein, die sich auf Begebenheiten beziehen. Doch der erwähnte ung. Wappen dürfte m.M.n. für eine Ermahnung, bzw. für die Enthaltsamkeit des Trägers stehen und kann zudem auch hier ein Kopfsenken beabsichtigt haben.

Im MA ging es jedenfalls nicht um die Verbreitung von humanistischen Ansichten, wie dies in moderner Zeit z.B. in der Werbung mit Genitalienbildern stattfand, mit der Botschaft, ich bin der Gute, und ich kämpfe für euch gegen Pseudomoral, wenn ihr mich mit dem Kauf meiner Ware unterstützt.
Natürlich wollte auch die Kirche durch die Schockbilder auffallen, doch an Stelle von Pullovern, wollte sie tatsächlich ihre Wertvorstellungen unters Volk bringen. Die gingen aber nicht richtung Naturverbundenheit des Menschen, im Sinne eines absolutistischen Humanismus, sondern ganz im Gegenteil: zuvorderst stand das Austreiben der Triebhaftigkeit. Deren Überwindung wurde als Voraussetzung für die Überlegenheit des Menschen in der Natur verstanden und ist im Prinzip die Voraussetzung dafür, was man umgangssprachlich unter »kultiviert« versteht. Gerade im MA, als die Bedingungen für ein Zusammenleben gesetzt werden mussten, war dies unerlässlich und insofern ein Verdienst der Kirche. Den Affen z.B., Symbol für den triebhaften Menschen, findet man in unzähligen Darstellungen; entweder bei frivolen Handlungen oder bei Maßlosigkeiten gezeigt, oder aber angebunden, d.h. bezwungen.

Bei den Darstellungen des MAs handelt es sich sehr selten um sexuell anstößige Bilder; auf der Mehrzahl der brüskierenden Darstellungen wird eine Fratze geschnitten, die Zunge ausgestreckt, manchmal gespien und nur gelegentlich auch gekackt. Das explizite Zeigen der Fortpflanzung wird aber gemieden. Auch erotische Bilder gehen nach meinem Wissen nie soweit, den Geschlechtsakt darzustellen. Dem humanistischen Gedanken, bei dem auch die Fortpflanzung als Geschenk gefeiert wird, wie dies z.B. in Indien geschah, wurde nicht stattgegeben.

Die Attraktivität des menschlichen Körpers erkundeten im deutschsprachigen Raum erst Cranach d.Ä. und Dürer. Zuvor ging es nicht um die erotische Anziehungskraft bei Darstellungen, was aber selbstverständlich weder ein Dürer, noch die zeitgenössischen Bewunderer seiner Bilder so formuliert hätten.

Die Annahme, dass solche Darstellungen aus dem MA auch nur im Entferntesten als Pin-Ups gedacht waren, wäre also eine moderne Verfälschung der damaligen Absichten.
 
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Doch der erwähnte ung. Wappen dürfte m.M.n. für eine Ermahnung, bzw. für die Enthaltsamkeit des Trägers stehen und kann zudem auch hier ein Kopfsenken beabsichtigt haben.

Schwer vorzustellen. Ich habe allerdings auch Zweifel an der mittelalterlichen Herkunft des Wappens.

Bei den Darstellungen des MAs handelt es sich sehr selten um sexuell anstößige Bilder; auf der Mehrzahl der brüskierenden Darstellungen wird eine Fratze geschnitten, die Zunge ausgestreckt, manchmal gespien und nur gelegentlich auch gekackt. Das explizite Zeigen der Fortpflanzung wird aber gemieden. Auch erotische Bilder gehen nach meinem Wissen nie soweit, den Geschlechtsakt darzustellen.
 

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Schwer vorzustellen. Ich habe allerdings auch Zweifel an der mittelalterlichen Herkunft des Wappens.
Bin mir auch nicht sicher. War aber das Kopfsenken tatsächlich beabsichtigt gewesen, würde das die naturalistische Darstellung erklären.



(Hm, zu den Bildern: )
Tatsächlich! So 'ne Sauerei! Der Bildhauer muss aus Indien zugewandert sein…

Im Ernst: die Figürchen kannte ich nicht. Bleibe aber dabei, dass auf die Sexualität bezogene Darstellungen im MA eher selten waren. Das Bild wird heute durch das Auspicken solcher Beispiele im Internet natürlich verfälscht.

Nachtrag: obige Figuren dürften eigentlich als Warnung vor besonders üblen Arten der Fortpflanzung gemeint worden sein, und keineswegs zum Aphrodisieren der Glaubensgemeinschaft.
 
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Ich habe allerdings auch Zweifel an der mittelalterlichen Herkunft des Wappens.
Mit Recht übrigens. Der ung. Wappen soll erst aus 1599 stammen und von einem Herrn geführt worden sein, dessen Beruf das Gegenteil vom Abdecker war, also ein ›Entdecker‹, d.h. Fachmann für die Sterilisation der Sau! :doc:

Müsste eigentlich ein unehrlicher Beruf gewesen sein, sodass ich meine Vermutung einer Absicht, der Betrachter soll beim Anblick den Blick senken, in seinem Fall sofort zurücknehme; zumindest nicht aus Ehrfurcht, da es sich hier vmtl. um einen Schandwappen handelt.
Da frage ich aber, wer hat solche Wappen entworfen, und wie konnte jemand gezwungen werden, diese auch zu tragen??
 
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heute als anstößig empfundene Darstellungen auch damals als ›Schockbilder‹ gemeint. Außen angebracht waren sie bekanntlich zur Abschreckung böser Geister gedacht. Sie sollten auffallen und auch zum Senken des Blickes auffordern. Hinzukam die Vorliebe für Ermahnungen,

nun nicht unbedingt ,wenn man sieht,dass diese Darstellungen nicht unbedingt an prominenter Stelle sondern im wesentlichen als Kämpferfiguren,Kapitelle,Wasserspeier etc gestaltet sind,die sich nicht im primären Sichtfeld des Kirchenbesuchers befinden.

zum Alter der angesprochenen Wappen-gibt es da Darstellungen,die wer reinstellen kann ?
 
nun nicht unbedingt ,wenn man sieht,dass diese Darstellungen nicht unbedingt an prominenter Stelle sondern im wesentlichen als Kämpferfiguren,Kapitelle,Wasserspeier etc gestaltet sind,die sich nicht im primären Sichtfeld des Kirchenbesuchers befinden.
Auch wenn solche Darstellungen zur Abschreckung vor Geistern eingesetzt wurden, muss man fragen, warum? Weil man sie selber als schockierend empfand. Indem man außer Fratzen vereinzelt auch als wüst empfundene Szenen hinstellte, wie an der Lonja de la Seda de Valencia (oben von EQ reingestellt), zeigte man nebenbei auch den Kirchgängern sehr deutlich, was nicht geht.

Außerdem will ich bzgl. mucks Frage nochmals herausheben, dass die Figuren in keiner Weise hübsch dargestellt wurden, womit auf deutschen Gebieten erst um 1500 angefangen wurde.



zum Alter der angesprochenen Wappen-gibt es da Darstellungen,die wer reinstellen kann ?


Die Datierung des Wappens hab ich nach einer flüchtigen Bildsuche in einem Artikel der ung. Wiki gefunden, den Google nur äußerst holprig übersetzt. Mehr weiß ich auch nicht.
 

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