Lausitzer Kultur: Intentionell fragmentierte Ränder bei Leichenbrand führenden Urnen

El Quijote

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In einer Publikation von Studenten der Ur- und Frühgeschichte der Uni Münster über die Keramik der Lausitzer Kultur habe ich folgenden Abschnitt entdeckt:

INTENTIONELL FRAGMENTIERTE RÄNDER
Ferner ist auf eine weitere Besonderheit hinzuweisen, die im Laufe der Untersuchungen auffiel. Eines der Gefäße aus der Lehrsammlung, das Leichenbrand enthielt (Gefäß Nr. 44), wies einen auffallend regelmäßig fragmentierten Rand auf. Im Zuge unserer Beschäftigung mit der Keramik der Lausitzer Kultur allgemein fielen weitere Gefäße eines ähnlichen Typs auf, deren Rand wie im uns vorliegenden Fall entfernt worden zu sein schien. Hierdurch entstand die Vermutung, dass die regelmäßig abgebrochenen Ränder bei Lausitzer Urnen ein besonderes und eigentümliches Merkmal der Bestattungsriten dieser Kultur gewesen sein könnten, wobei zunächst offen gelassen werden sollte, ob es sich um intentionelle (profane oder nicht profane) bzw. nicht intentionelle Beschädigungen handelt.
Eine denkbare Möglichkeit für eine nicht intentionelle Beschädigung ist eventuell, dass das Oberteil der in der Regel relativ großen Urnen nach ihrer Beisetzung durch spätere landwirtschaftliche Aktivitäten wie das Pflügen oder Eggen fragmentiert wurden sein könnte. Es ist außerdem zu beachten, dass ein derartiger Erhaltungszustand auch auf die Formgebung der Gefäße zurückzuführen sein könnte, da der Rand möglicherweise durch Gebrauch an einer Stelle leicht beschädigt und dann aus ästethischen Gründen rundum abgebrochen worden sein könnte.
Bei der Sichtung entsprechender Literatur zu Gräberfeldern der Lausitzer Kultur zeigte sich, dass gleichmäßig abgetrennte Ränder von Gefäßen in verschiedenen Fundorten nachgewiesen sind, ohne, dass diese Besonderheit offenbar genauer betrachtet wurde.
Im Rahmen der Übung war es nicht möglich, das Phänomen der fragmentierten Ränder erschöpfend zu betrachten. [...]
Die Mehrzahl der Gefäße mit abgetrenntem Rand war mit einer Abdeckung versehen, meist in Form von flachen Schalen, die oft keine nennenswerten Brüche aufwiesen und in vielen Fällen vollständig erhalten waren. Dieser Umstand verwundert insofern, als man bei einer Beschädigung der Gefäße durch den Pflug erwarten würde, dass die Deckschale in einem Grab mit einer Urne, deren Rand komplett fragmentiert ist, gleichfalls zerstört sein müsste, was jedoch nicht der Fall war. Darüber hinaus traten jedoch auch Urnen auf, deren Deckschalen einen abgetrennten Rand aufwiesen. Dies sind Belege dafür, dass die Ränder der Gefäße in vielen, wenn nicht allen Fällen tatsächlich intentionell abgebrochen und nicht erst im Nachhinein durch den Pflug fragmentiert wurden.
Es scheint zunächst, als kämen die intentionell fragmentierten Ränder fast ausschließlich bei Urnen bzw. selten bei den sie bedeckenden Schalen vor. Allerdings ergab sich keine Regelmäßigkeit in Bezug auf die gewählte Gefäßform. Es konnte auch nicht beobachtet werden, dass etwa alle Urnen eines Bestattungsplatzes fragmentierte Ränder aufwiesen; meist ist nur ein geringer Prozentsatz betroffen. Stattdessen fiel auf, dass in ein und demselben Grab sowohl Urnen mit fragmentiertem Rand als auch intakte Grabgefäße vorkommen konnten.
Der Leichenbrand in den Urnen ist in der Regel nicht geschlechtsspezifisch differenziert, sodass unklar bleiben muss, ob intentionell fragmentierte Ränder besonders bei der Bestattung eines bestimmten Geschlechts auftreten. Die Urnen beinhalteten Leichenbrand von Erwachsenen, Kindern und Jugendlichen.
Es bleibt die Frage, warum die Ränder intentionell abgebrochen wurden. Denkbar ist zum Beispiel, dass für die jeweilige Beisetzung bereits vorhandene Gebrauchsgefäße, die durch vorherigen Gebrauch beschädigt worden waren, benutzt wurden, dass also keine eigens für das Grab hergestellten Gefäße verwendet wurden; die Wandstärke von unter einem Zentimeter spricht dafür, dass solche Beschädigungen beim täglichen Gebrauch sehr wohl auftreten konnten. Erfolgte eine solche Beschädigung, so bot es sich möglicherweise an, den Rest des Randes komplett gleichmäßig zu entfernen. Eine Möglichkeit, dies zu verfizieren, wäre, die bekannten Siedlungen der Lausitzer Kultur in Hinblick auf ihre Gefäßkeramik zu untersuchen, um festzustellen, ob die Gefäße, die als Urnen benutzt wurden, auch als Gebrauchsgefäße in Siedlungen benutzt wurden.
Möglich ist auch, dass die Fragmentierung des Randes erfolgte, um Urne und Deckgefäß besser miteinander verbinden zu können. Dem stehen jedoch Befunde entgegen, in denen zwei identische Grabgefäße mit Deckschale gefunden wurden, von denen aber nur eines einen fragmentierten Rand aufwies.
Denkbar sind jedoch auch religiös-kultische Gründe, die hinter der intentionellen Fragmentierung des Randbereichs stehen. Dafür spricht zunächst, dass es sich bei den beschädigten Gefäßen um Urnen bzw. ihre Deckschalen handelt. Möglicherweise sollte ein vormalig profanes Gefäß für die Grablege von seinem vorherigen Gebrauchscharakter befreit werden. Dann allerdings verwundert, warum die Fragmentierung nicht regelhaft durchgeführt wurde.
Letztlich muss also fraglich bleiben, was hinter der intentionellen Fragmentierung des Randes an Urnen bzw. Deckschalen steht. In der Hoffnung, das Interesse für dieses Phänomen geweckt zu haben, mögen obige Überlegungen erste Ansätze zu neuen Forschungen bieten.

Was haltet Ihr von den geäußerten Hypothesen? Erscheinen Sie euch plausibel? Kennen die Archäologen unter euch evtl. ähnliche Praktiken aus anderen archäologischen Kulturen?
 
Lausitzer Kultur

Hallo

Die Mehrzahl der Gefäße mit abgetrenntem Rand war mit einer Abdeckung versehen, meist in Form von flachen Schalen, die oft keine nennenswerten Brüche aufwiesen und in vielen Fällen vollständig erhalten waren. Dieser Umstand verwundert insofern, als man bei einer Beschädigung der Gefäße durch den Pflug erwarten würde, dass die Deckschale in einem Grab mit einer Urne, deren Rand komplett fragmentiert ist, gleichfalls zerstört sein müsste, was jedoch nicht der Fall war. Darüber hinaus traten jedoch auch Urnen auf, deren Deckschalen einen abgetrennten Rand aufwiesen. Dies sind Belege dafür, dass die Ränder der Gefäße in vielen, wenn nicht allen Fällen tatsächlich intentionell abgebrochen und nicht erst im Nachhinein durch den Pflug fragmentiert wurden.

Für diese Situation würde ich intentionelle Gründe gelten lassen, bei allen anderen wäre ich mit dieser Aussage vorsichtig.
Die Urnen könnten auch bei der Füllung des Grabes beschädigt worden sein ohne den Deckel zu beschädigen, wäre auch noch eine Erklärung.

mfg
schwedenmann
 
Dass die Urnen ausgegraben und die Ränder abgebrochen wurden, um sie dann wieder sorgfältig mit den Deckeln daraufgesetzt, an Ort und Stelle zu den anderen Urnen zu legen, braucht recht viel Vorstellungskraft, sodass eigentlich nur die Beschädigung vor der ursprünglichen Beisetzung in Frage käme.

Warum sollte man aber eine Urne auf die Schnelle stutzen?

Dass ein Deckel zu einem abgebrochenen Rand besser passt, ist rein von der Form her wenig logisch, also höchstens als ein Anpassen der Größe nachzuvollziehen. Hierzu hätten die Deckel unabhängig vom Gefäß hergestellt werden müssen... und sie müssten am Fundort eine mehr oder weniger standardisierte Größe/Form haben. Vorstellbar höchstens bei Massenbegräbnissen, wobei in diesem Fall auch ein Kürzen aus Platzgründen in Frage käme (etwa bei einer nicht gegebenen Höhe im Grab, was vielleicht die Angabe implizieren will, dass es sich meist um größere Urnen handelt). Ein liebloses ‘Zurechtbrechen’ wäre bei sonstigen Begräbnissen eher unglaubwürdig.

Falls also die abgebrochenen Teile nicht gefunden wurden, wäre die Anzahl der Urnen an derselben Fundstelle von Bedeutung, um die These der “intentionellen Beschädigungen” zu stützen. Ansonsten sähe ich eher einen lückenhaften Befund.

Übrigens: hatte mal ein großes Weinglas im Schrank, dessen oberer Teil eines Tages ganz von selbst absprang, sodass es wie ein abgeschnittener Glasring aussah...
 
In der Villanova-Kultur wurden Urnen verwendet, die auf beiden Seiten Griffe/Henkel hatten. In der Regel wurde, wohl vor der Bestattung, ein Griff/Henkel abgeschlagen und die Urne so bestattet.
Später ging man dazu über Urnen herzustellen, die von vorneherein nur mit einem Griff/Henkel ausgestattet waren.

Das ist zwar nicht das gleiche wie bei der Lausitzer-Kultur, jedoch hat der Vorgang Ähnlichkeiten
Vielleicht hilft ja dieser Vergleich.

Gruß, Ajax
 
Die Urnen könnten auch bei der Füllung des Grabes beschädigt worden sein ohne den Deckel zu beschädigen, wäre auch noch eine Erklärung.

Es handelt sich ja offenbar nicht im Einzelfälle, sondern dem Text zufolge um eine immer wieder zu tätigende Beobachtung. Die hier nicht mitzitierte Fußnote ist beachtenswert, die πxDaumen sicher 30 Vergleichsfälle auflistet.

sodass eigentlich nur die Beschädigung vor der ursprünglichen Beisetzung in Frage käme.

So ist der Text wohl zu verstehen. Daher ja auch die Vokabel intentionell.
Warum sollte man aber eine Urne auf die Schnelle stutzen?

Tja, das ist die Frage. Aus Kulturen, die anderhalb Jahrtausende später zu datieren sind, kennt man Sitten, dass den Menschen unperfekte oder rituell zerstörte Gegenstände mitgegeben wurden: unfertige Bögen, verbogene Schwerter. Da sind Vorstellungen denkbar wie die Gleichsetzung von tot und kaputt. Leider kann uns darüber keiner der damals lebenden mehr aufklären.

Dass ein Deckel zu einem abgebrochenen Rand besser passt, ist rein von der Form her wenig logisch, also höchstens als ein Anpassen der Größe nachzuvollziehen. Hierzu hätten die Deckel unabhängig vom Gefäß hergestellt werden müssen... und sie müssten am Fundort eine mehr oder weniger standardisierte Größe/Form haben.

Du denkst viel zu sehr an heutige Urnen. Wenn du dir die Skizzen (im Link) ansiehst, wirst du feststellen, dass Urnen und Urnendeckel nicht ursprünglich zueinander gehörten sondern erst in der Funktion der Graburne als Topf und Deckel zusammengestellt wurden. Die meisten der Deckel scheinen doch eher umgekehrte Schalen zu sein.

Ich müsste mir die Skizzen noch mal anschauen, aber es schien mir beim betrachten nicht so, als habe man die Urnenränder abgeknappst, um Urne und Deckel im Größenverhältnis einander anzugleichen.
 
Hier noch mal die Skizze mit der Urne. Die intentionelle Fragmentierung des Randes ist demnach nicht aufgrund der Größe des als Deckel gewählten Tellers zu erklären.
 

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