Frauenbewegung in Russland

ursi

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Von den Anfängen bis 1905 (Zusammenfassung)

In Russland waren die Frauen in eine starre patriarchalische Ordnung gepresst. Kirchliche Orthodoxie und Tatarenherrschaft hatten die bis zum 10. Jahrhundert bestehende starke gesellschaftliche Stellung der Frauen untergraben und die Frauen wurden aus der Öffentlichkeit verbannt. Erst mit Peter dem Grossen wurden westliche Ideen und Lebensformen in Russland aufgegriffen und verschafften so den Frauen aus Adelsfamilien mehr Rechte und individuelle Freiheiten. Nun konnten Frauen am öffentlichen Leben teilnehmen und selbständige Vermögen verwalten. Allmählich entstanden Bildungseinrichtungen für Frauen aus der Oberschicht. Die Mode war Französisch geprägt und die Adligen Frauen korrespondierten mit westlichen Denkern und Dichtern. Die Diskrepanz zwischen der Lebensweise des Adels und der ländlichen Bevölkerung wuchs damit immer mehr. Die Frauen auf dem Lande waren in die Grossfamilien eingebunden und wurden geringschätzig behandelt, davon geben ein paar russische Sprichwörter Zeugnis ab:

Ein Huhn ist kein Vogel – ein Weib ist kein Mensch

Alleinsein ist ein Unglück, mit einer Frau – ein doppeltes

Die Frau ist ein Kochtopf, sie wird nicht zerbrechen, schlägt nur drauf

Wo ein Weib ist, da braucht man den Teufel nicht mehr.

Ich dachte, ich sehe zwei Personen, aber es war nur ein Mann mit seiner Frau

Die orthodoxe Kirche predigte Duldsamkeit, Unterordnung und Gehorsam als Gebot. Nachdem Gesetz von 1833 waren Rechte und Pflichten in der Familie staatlich geregelt:

- Uneingeschränkter Gehorsam der Kinder, auch der verheirateten, gegenüber den Eltern
- Heirat nur mit elterlichen Segen
- Versorgungspflicht der Eltern
- Bedingungsloser Gehorsam der Frau gegenüber dem Ehemann
- Die Pflicht der Frau ihrem Mann überall hin zu folgen (sie hatte keinen eigenen Pass, die Frauen wurden beim Mann eingetragen)

Ab 1860 entwickelte sich in den liberalen Kreisen eine Reformbewegung. Junge Mädchen erschlossen sich durch die Literatur westlicher Autoren und russischer Gesellschaftskritiker Reformideen und westliche Lebensformen, die im harten Kontrast zu ihren eigenen oder zumindest den in Russland üblichen weiblichen Alltagserfahrungen und Lebensentwürfen standen. Etliche Frauen begannen, sich gegen einengende soziale Konventionen aufzulehnen. Sie stellten die hierarchichschen Familienstrukturen in Frage und rebellierten gegen die gesellschaftliche Schlechterstellung der Frauen. Der ganze Prozess wurde von der westeuropäischen Frauenbewegung beeinflusst. Die politischen Forderungen der Frauen war einen gleichberechtigten Zugang zu allen Bildungseinrichtungen, Berufen und Funktionen des öffentlichen Lebens. Die Regierung war zunächst aufgeschlossen und sah ein staatliches Interesse darin die Frauen zu fördern. Die Universitäten wurden von 1859 bis 1863 für Frauen geöffnet. 1863 aber wieder geschlossen weil sich viele Studentinnen an Protesten und Demonstrationen beteiligten. So kam es zum Studienverbot für Frauen. Alexander III stärkte wieder die traditionelle Rollenzuschreibung und verwehrte den Frauen die höhere Ausbildung. Erst nach 1905 war ein neuer Vorstoss für die Integration der Frauen möglich. Dazwischen wählten viele Frauen ein Studium im Ausland und kehrten mit Hochschulabschluss oder bereits als ausgezeichnete Wissenschaftlerinnen nach Russland zurück. Die Bekannteste Vertreterin ist Nadezda Suslova, die 1867 als erste Studentin in ganz Europa den Doktorgrad der Medizin erwarb und nach ihrer Rückkehr in St. Petersburg als praktizierende Ärztin, Forscherin und Schriftstellerin arbeite.

Viele Frauen wählten aber auch einen extremen Weg. So entstand der Nihilistka. Diese Bewegung wollte die Öffentlichkeit durch aussehen, Lebensform und Auftreten provozieren. Die Frauen dieser Bewegung zogen unweibliche Kleidung an, hatten einen Kurzhaarschnitt, trugen eine Brille (die war in Russland verpönt), Rauchten und hatten eine derbe Sprache. Sie lebten in Kommunen und setzten sich für eine freie Liebe ein. Diese Bewegung scheiterte an dem starken Widerstand der Gesellschaft, an finanziellen Problemen und schliesslich durch die staatlichen Sanktionen. Viele der Frauen kehrten in ihre Familien zurück, doch einige schlossen sich den Terrorgruppen oder der marxistischen Bewegungen an.

Die Frauen kämpften fast mit missionarischem Eifer für die Aufhebung der Ungleichheit und Unrecht der Gesellschaft. Im gemeinsamen Kampf mit den Gleichgesinnten Männern hofften sie auf eine Gleichberechtigung der Frauen. Sie arbeiteten in den illegalen Druckereien, fuhren als Kuriere mit Flugblättern, Waffen oder Geld durch das Land oder bereiteten Attentate vor.

Von den 18 Mitgliedern des Exekutivkomitees der Narodnaja Volja waren 1879 acht Frauen, insgesamt stellten sie nach Schätzungen einen Drittel der aktiven Mitgliedern. Zwischen 1872 und 1879 wurden ca. 400 Frauen wegen radikaler Aktivitäten verhaftet. Über Russland hinaus bekannt wurden Vera Zasulic, die 1878 ein Attentat auf den Petersburger Stadtkommandanten verübt hatte und die an den tödlichen Anschlag auf Zar Alexander II beteiligten Frauen Sophia Perovskaja und Vera Figner.

Weiterführende Literatur zum Thema:

Beate Fieseler: Ein Huhn ist kein Vogel – ein Weib ist kein Mensch. Russische Frauen (1860 – 1930) im Spiegel der historischen Forschung

Kai Thomas Dieckmann: Die Frau in der Sowjetunion

Richard Stites: The Women’s Liberation Movement in Russia. Feminism, Nihilism and Bolshevism

Im Internet zu finden:

http://www.marxists.org/archive/kollonta/

http://de.wikipedia.org/wiki/Alexandra_Kollontai

http://www.ib.hu-berlin.de/~pbruhn/gruppe07.htm

http://www.hist.net/projekte/big-o/bibliographie.pdf
 
Die Nihilistka hört sich eher an, wie russische emanzipierte Frauen, die die polysexuelle Revolution anstrebten.
Mit Alexandra Kollontai konnte man in der Früh-DDR auch nicht so recht was anfangen. Sie war zwar eine KPdSU-Vorzeige-Frau, aber ihre gesellschaftliche Ausrichtung war mit dem kommunistisch-gesellschaftlich korrektem Benehmen nicht so verträglich.
 
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