Korruption/Patronage

Schattenpanda

Neues Mitglied
Hallo erstmal :)

Leider kenne ich mich noch nicht sehr gut mit russischer Geschichte aus, finde sie aber bis jetzt schon recht interessant. Ich schreibe im Moment an einer Hausarbeit über Patronage und Korruption im 19. Jahrhundert und bin etwas verwirrt, was die verschiedenen Gruppen betrifft.
Ich habe noch nicht so ganz raus, wer mit wem überhaupt das Patronagespiel spielt bzw. Das Bestechungsnetzwerk am Leben hält. Dass die Beamten einen großen Teil beitragen ist ja eigentlich klar, und die Bauern sind mit Gabentausch auch recht vertraut...

Es wäre nett, wenn ihr mir mit ein paar Denkanstößen helfen könntet. Bitte versteht mich nicht falsch, ich möchte nicht abschreiben oder Lösungen bekommen :) Ein kleiner Schlag mit der flachen Hand vor die Stirn tut s auch ;) Ich verstehe einfach nicht, wer mit wem wie agiert, denn es kommt mir so vor, als wären irgendwie alle beteiligt gewesen. Sowohl die Bauern, als auch die Beamten, als auch der Adel, der ja eine ganze Zeit lang auch Beamte stellte oder es auch im 19. Jahrhundert noch tat.

Tut mir Leid, dass ich mich so unklar ausdrücke, ich sitze schon etwas länger ohne Nahrung in der Bibliothek ;)

Vielen Dank fürs Lesen,
Grüße
der große böse Schattenpanda^^
 
Patronage spielte im gesamten europäischen Adel eine große Rolle.

Im Prinzip ist es ganz einfach. Die Beziehungen bei der Patronage sind ungefähr folgende:
Ein Adeliger mit großem Vermögen scharte um sich viele ärmere Adelige, unbedeutendere Adelige, die z.T. mehr oder weniger dauerhaft auch bei ihm wohnen konnten. Das waren entweder Familienangehörige oder Adelige, welche seit langem, auch über Generationen, in einer Verbindung zur Familie des reichen Patrons standen. Auf der einen Seite förderte der Patron die abhängigen Adeligen bei deren Wünschen z.B. im Hof oder im Staat voran zu kommen. Ein Patron konnte beispielsweise einem befreundeten Minister oder General empfehlen, dass der Adelige X seines Vertrauens für den Posten Y geeignet war.
Zwar existierte eine stille Übereinkunft, dass dafür der Patron von dem protegierten Adeligen dafür auch sowas wie Treue zu erwarten hatte. Doch war solch eine Verpflichtung andererseits nichts, was man wirklich aussprach bzw. worauf man öffentlich pochen durfte, ohne sich selbst zu blamieren. Man könnte von einer stillschweigenden gemeinsamen Übereinkunft sprechen.

Am sinnvollsten wäre es für Dich, vielleicht einfach nach konkreten Beispielen zu suchen. In der Hinsicht kann ich Dir aber leider nicht helfen, da das dann doch wieder einigen Aufwand bedeuten würde, den Du Dir schon selber machen musst.

Ganz interessant dazu fand ich das Buch von Ronald Asch.* Aber das passt natürlich für Deine Belange nicht ganz haargenau, auch wenn darin ein Patronagenetzwerk aufgezeigt wird, was sicherlich auch im 19.Jh. noch voll aktiv war.

R. Asch: "Europäischer Adel in der Frühen Neuzeit" Böhlau, Köln-Weimar-Wien, 2008
 
@Schattenpanda

Ehrlich, ich bin über das Thema der Hausarbeit sehr erstaunt. Patronage und Korruption im Rußland des 19. Jh.!

Ersteinmal solltest Du die Kategorien Patronage und Korruption per Definition trennen, und zwar sozialhistorisch und rechtshistorisch. Patronage war und ist keine strafbare Handlung, Korruption schon. Natürlich gibt es da "Grauzonen".

Also was Korruption angeht, schau in die russischen Gesetzbücher des 19. Jh, Frage, wie wurde seinerzeit Korruption definiert und eventuelle Kollision mit heutigen Definitionen. Vllt. findest Du auch russische Kriminalstatistiken aus dem 19. Jh. Dabei könnten auch rechtshistorische Aufsätze und juristische Dissertationen aus Rußland helfen, eventuell, wenn Du Glück hast, findest Du eine vergleichende Untersuchung/Arbeit zu dem Thema Korruption "Rußland <=> Deutschland oder ein anderes Land" in Bezug auf das 19.Jh. Such Dir die "korruptionsrelevanten" §§ des Reichsstrafgesetzbuches und versuche über diese durch rechtshistorische Recherche an russische Literatur heranzukommen (Stichwort: "vergleichende Untersuchungen zu den einzelnen §§", auch "Kollisionsrecht"). Schau auch in die ÖU-Literatur.

"Patronage" ist noch komplizierter. Das wäre m.E. im wesentlichen Sozialgeschichte. Fragestellung: Wer "hievte" wen, warum, in welche soziale hierarchiesche Stellung, welche sozialen Gruppen/Schichten reproduzierten sich, wie war die soziale "Durchlässigkeit" etc. Das Adelssystem in Rußland war anders als im DR. Es gab m.E. im 19. Jh. in Rußland noch "Gildensysteme". Die Leibeigenschaft wurde auch erst 1861 aufgehoben, war aber durch die Ablösungsfrage auch späterhin virulent.

"Informelle" Verflechtungen spielten dabei eine Rolle: z.B. "In welchem Regiment haben Sie gedient"?

Sind so ein paar Denkanstöße.


M.
 
Zuletzt bearbeitet:
Ehrlich, ich bin über das Thema der Hausarbeit sehr erstaunt. Patronage und Korruption im Rußland des 19. Jh.!

Ersteinmal solltest Du die Kategorien Patronage und Korruption per Definition trennen, und zwar sozialhistorisch und rechtshistorisch. Patronage war und ist keine strafbare Handlung, Korruption schon. Natürlich gibt es da "Grauzonen".

Hier stellt sich aber auch die Frage, ob der Fokus der Hausarbeit nicht durch das Bindewort "und" definiert wird, also es nicht in Wirklichkeit darum geht, zu untersuchen, welchen Einfluss Patronagesysteme auf Entstehung, Ausmass und Sanktionierung bzw. Nichtsanktionierung von Korruption hatten.

Mir wurde z.B. Ende der 1990er in einem Nachfolgestaat der Sowietunion, der bereits im 19. Jh. Teil Russlands war, berichtet, dass ein Posten in der Zollverwaltung 5.000 USD kostete, und solche Posten jährlich neu vergeben wurden. Der frischgebackene Zöllner hatte also ein Jahr Zeit, seine Investition von 5.000 Dollar über Schmiergelder wieder 'hereinzuholen', wobei er selbstverständlich einen Teil der eingenommenen Schmiergelder an die direkten Vorgesetzten bzw. die Behördenchefs weiterleiten musste.
[Einen guten Überblick über das Thema Zoll und Korruption gibt folgende Publikation der OECD aus dem Jahr 2001 http://www.oecd.org/dataoecd/60/28/1899689.pdf]

Andere Ämter, in denen Korruption heute noch vorkommt, und die vernutlich auch schon im 19. Jahrhundert gute Pfründe boten, sind Beschaffungsstellen (Militär, öffentliche Bauverwaltung, etc.), Polizei / Strafvollzug, Feuerwehr (insbesondere die feuerpolizeiliche Überwachung), Vergabe von Lizenzen aller Art (Baugenehmigungen, Schürfrechte, Marktbeschickung, Schankkonzessionen etc.), und natürlich die Steuerverwaltung.

Richtig lohnen kann es dann, wenn man mehrere solcher Diensstellen kontrolliert, und nicht nur seinen "Anteil" an den von Untergebenen empfangenen Schmiergeldern einfordern, sondern auch noch Geld für die Postenbesetzung empfangen kann, also z.B. als Bürgermeister oder als Gouverneur. Patronage hat in solchen Kontexten eine doppelte Funktion - zum einen kann man kurzfristig für die Postenvergabe kassieren, zum zweiten sichert man sich mittelfristig eine loyale Untergebenenstruktur, die sicherstellt, dass in der Korruptionspyramide auch angemessen Geld bis ganz nach oben durchgereicht wird, und nicht auf der mittleren Ebene hängenbleibt. Der 'Patronierte' (kann man das so sagen?) kann, bei dokumentierter "Loyalität" und "Treue" (d.h. zuverlässigem Weiterreichen eines Teils der empfangenen Schmiergelder), damit rechnen, vom Patron auf dessen Karriereweg mitgenommen zu werden, und so selbst Schritt für Schritt in höhere Positionen aufzusteigen (in der ehemaligen DDR hiess das, glaube ich, "Seilschaften").

Der Effekt solcher Systeme auf die Effektivität und Effizienz der öffentlichen Verwaltung iist offensichtlich - Besetzungen erfolgen v.a. aufgrund erwiesener Loyalität und nicht aufgrund von Sachkunde, und wenn es einmal zu unvorhergesehenen Herausforderungen kommt, zeigt sich die Verwaltung als unfähig. Sofern es also keine direkten Untersuchungen/Belege für Patronagesysteme im Russland des 19. Jh. gibt, könnte man versuchen, anhand von Beispielen zur Verwaltungseffektivität zu rekonstruieren, wie weit Sachkunde bei Stellenbesetzungen eine Rolle spielte (falls nicht, lässt sich daraus auf Patronage schliessen). In diesem Zusammenhang könnte man sich mal Literatur, eventuell (so Du des Russischen mächtig bist), auch Zeitungsartikel zum Verwaltungshandeln bei Katastrophen (Überschwemmungen, Feuersbrünste, Hungersnöte etc.) im 19 Jh. ansehen. Ein Blick auf öffentliche Haushalte sowie staatliche Großprojekte kann auch nicht schaden - gibt es Anzeichen für Ineffizienz, 'Sickerverluste' etc.? Was berichtet die (verfasste?) Kaufmannsschaft über die Zoll- und Finanzverwaltung ? Was hielt die preussische bzw, deutsche Regierung vom russischen Zoll?

Regionale Differenzierung könnte nötig/ sinnvoll sein: Spielt die Entfernung zu Petersburg eine Rolle? Wie weit haben lokale Gegebenheiten (hanseatische bzw. schwedische Tradition im Baltikum, höhere Autonomie der Kosaken in der Ukraine aufgrund ihrer Wehrbauernfunktion, starke Stellung des georgischen Adels in der dortigen Verwaltung, etc.) zu regionalen Sondereffekten geführt ?

Also was Korruption angeht, schau in die russischen Gesetzbücher des 19. Jh, Frage, wie wurde seinerzeit Korruption definiert und eventuelle Kollision mit heutigen Definitionen. Vllt. findest Du auch russische Kriminalstatistiken aus dem 19. Jh. Dabei könnten auch rechtshistorische Aufsätze und juristische Dissertationen aus Rußland helfen, eventuell, wenn Du Glück hast, findest Du eine vergleichende Untersuchung/Arbeit zu dem Thema Korruption "Rußland <=> Deutschland oder ein anderes Land" in Bezug auf das 19.Jh. Such Dir die "korruptionsrelevanten" §§ des Reichsstrafgesetzbuches und versuche über diese durch rechtshistorische Recherche an russische Literatur heranzukommen (Stichwort: "vergleichende Untersuchungen zu den einzelnen §§", auch "Kollisionsrecht"). Schau auch in die ÖU-Literatur.

Es ist sicherlich nicht falsch, das Korruptionsverständnis der damaligen Zeit zu rekonstruieren. Daneben würde ich aber auch aktuelle Bewertungen einbeziehen. Die erste Quelle hierzu ist natürlich Transparency International, deren Global Corruption Barometer 2010 einen guten Überblick über das Thema und Facetten von Korruption gibt:http://www.transparency.de/fileadmin/pdfs/Wissen/Korruptionsindices/GCB_2010.pdf

Sofern es noch nicht bekannt ist: Russland liegt im aktuellen Corruption Perception Index von Transparency International auf Rang 154 (von 174 Ländern). TI-Deutschland: Tabellarisches Ranking. Wenn man mal unterstellt, dass Korruption nicht von heute auf morgen entsteht, sondern auf historischen Traditionen beruht, ist das Thema der Hausarbeit hochinteressant und -relevant.
 
Man sollte das Phänomen der "Patronage" nicht a priori negativ belegen.

Zunächst ist sie ein Mechanismus, der eine Führungsstruktur schafft, indem eine personelle Elite herangebildet wird. Es ist schwierig, sich ein alternatives System vorzustellen, dass "objektiver", "gerechter" oder "altruistischer" ist und trotzdem funktioniert.

Interessant wäre dann die Frage, unter welchen Umständen ein solches System effizient für den Staat ist, und wann es ineffizient - oder gar strukturell ineffizient - werden kann.

Wir stoßen hier auf dieselben Fragestellungen wie im Thread "Kleptokratie", nämlich, wann der Vorteil des Individuums eine Dynamik im Dienste des Staates entfaltet und wann es zu einem destruktiven "Management Rip-Off" kommen kann.
 
Man sollte das Phänomen der "Patronage" nicht a priori negativ belegen.

Zunächst ist sie ein Mechanismus, der eine Führungsstruktur schafft, indem eine personelle Elite herangebildet wird. Es ist schwierig, sich ein alternatives System vorzustellen, dass "objektiver", "gerechter" oder "altruistischer" ist und trotzdem funktioniert.

Interessant wäre dann die Frage, unter welchen Umständen ein solches System effizient für den Staat ist, und wann es ineffizient - oder gar strukturell ineffizient - werden kann.

Wir stoßen hier auf dieselben Fragestellungen wie im Thread "Kleptokratie", nämlich, wann der Vorteil des Individuums eine Dynamik im Dienste des Staates entfaltet und wann es zu einem destruktiven "Management Rip-Off" kommen kann.

Grundsätzlich gebe ich Dir Recht: Patronage ist nicht an sich von Übel, und kann sogar, wenn sie an informelle Netzwerke (z.B., wie von Melchior erwähnt, das Militär) anknüpft, soziale Mobilität fördern und Personen mit à priori falschem Hintergrund (z.B. "Bürgerlichen") bei guter fachlicher Qualifikation Karrierechancen eröffnen (Brasilien in den 1960ern bis 1980ern ist ein exzellentes Beispiel für den Aufstieg von "Modernisierern" ohne Großgrundbesitzerhintergrund über die Armee in hohe Verwaltungspositionen).

Meine Ausführungen basierten jedoch auf der - zu verifizierenden - Prämisse, dass die Hausarbeit die beiden Phänomene "Patronage" und "Korruption" nicht separat abarbeiten, sondern die Relevanz der Patronage für Korruption herausarbeiten soll. Wie weit verbreitet Korruption im Russland des 19. Jh überhaupt war, und ob Patronage hierbei eine katalysierende / verstärkende Funktion hatte, ist mir unbekannt. Da solche Strukturen allerdinmgs zu UdSSR-Zeiten und in der Nach-UdSSR weit verbreitet waren, teilweise immer noch sind, liegt für mich der Verdacht nahe, dass auf frühere Traditionen aufgebaut wurde, also Patronage/ Korruptionspyramiden bereits im 19. Jh vorhanden waren. Dieser Verdacht mag falsch sein - er scheint mir allerdings eine gute Leitfrage / Ausgangshypothese für Schattenpandas Arbeit zu sein.
 
Wow! Ich danke euch für die vielen Antworten! Denkanstöße sind da wirklich in großem Umfang dabei :)
Das Thema der Hausarbeit knüpft so ein bisschen an die Diskussion im Kurs an, da ging es darum, dass der negativ belegte Begriff "Korruption" zu pauschal auf das damalige Russland angewendet wird und durch die einseitige Betrachtung aus westeuropäischer Sicht ein Bild entsteht, dass der russischen Gesellschaft eventuell nicht ganz gerecht wird. Wie gesagt, noch kenne ich mich kaum mit russischer Geschichte aus, daher ist das für mich umso interessanter :) Die Hausarbeit soll weder ein Tadel sein, noch allzu apologetisch wirken, aber sie soll klar machen, dass es in diesem Fall nicht so einfach ist, das Verhalten der Beteiligten als entweder nur "korrupt" oder nur "patrimonial" zu bezeichnen (so sehe ich das jedenfalls, zum Beispiel würden wir es heutzutage als korrupt empfinden, wenn uns ein Beamter von der Stadtverwaltung sagen würde "Ja, ihren Personalausweis bekommen sie dann in 3 Monaten...es sei denn, sie hätten da was für mich" - was, laut einer Quelle von Leroy-Beaulieu damals in Russland fast schon normal gewesen sein soll - OK, das hat mit Patronage dann auch eher weniger zu tun, eher mit der Frage nach Korruption). Ich finde es besonders interessant, dass es auf die Perspektive ankommt. Vielen Dank übrigens für den Literaturhinweis, @ Brissotin und auch für die Aufdröselung des Adels :) Dann liege ich ja doch gar nicht so falsch, wenn ich der Ansicht bin, dass im Prinzip jeder, der etwas anbieten kann (einen hohen Status hat und als typischer 'Patron' taugt) und jeder, der es haben möchte und eine Gegenleistung bringen kann, in eine patrimoniale Bindung eintreten kann... Natürlich kommt es dabei auch wieder darauf an, inwieweit diese Bindung persönlicher Natur ist, oder ob es sich dabei um ein reines Arbeitsverhältnis handelt, aber ein solches wäre ja dann nicht mehr Gegenstand der Diskussion :)

Ich werde mir alle antworten noch ein paar Mal durchlesen, leider war der Tag sehr anstrengend und auch aufgrund mangelnden Wissens kann ich nicht auf alles einzeln antworten, ich bin nur unglaublich dankbar, dass ich ein paar neue Impulse bekomme :) Außerdem bin ich beeindruckt von diesem Forum! Schön, dass es so etwas gibt!

Ich wünsche euch allen noch einen schönen Abend, ich werde mich dann mal wieder an die Arbeit machen! Bis später :)

Grüße
Schattenpanda
 
Die Hausarbeit soll weder ein Tadel sein, noch allzu apologetisch wirken, aber sie soll klar machen, dass es in diesem Fall nicht so einfach ist, das Verhalten der Beteiligten als entweder nur "korrupt" oder nur "patrimonial" zu bezeichnen (so sehe ich das jedenfalls, zum Beispiel würden wir es heutzutage als korrupt empfinden, wenn uns ein Beamter von der Stadtverwaltung sagen würde "Ja, ihren Personalausweis bekommen sie dann in 3 Monaten...es sei denn, sie hätten da was für mich" - was, laut einer Quelle von Leroy-Beaulieu damals in Russland fast schon normal gewesen sein soll - OK, das hat mit Patronage dann auch eher weniger zu tun, eher mit der Frage nach Korruption). Ich finde es besonders interessant, dass es auf die Perspektive ankommt.

In der aktuellen Korruptionsforschung wird das Thema unter verscheidenen Aspekten untersucht:

Zunächst einmal ist es wichtig, zwischen wirklich vorhandener Korruption (engl. "corruption occurence" oder 'payment") und Korruptionsperzeption (engl. "corruption perception") zu unterscheiden. Die effektive Korruptionshäufigkeit ist schwer messbar. Von Schmiergeldempfängern kann man sowieso nur unter extremen Sonderbedingungen zutreffende Aussagen erwarten - selbst bei weitgehender gesellschaftlicher Akzeptanz von Korruption kann eine Angabe, man selbst hätte Schmiergelder empfangen, immer noch dazu führen, dass andere (die "Chefs") daraufhin 'ihren Anteil' einfordern. Schmiergeldgeber neigen ebenfalls dazu, eigene Schmiergeldzahlungen nicht oder nur zum Teil anzugeben, weil sie durch die Schmiergeldzahlung ja häufig einen Wettbewerbsvorteil erhalten haben. Insofern ist bei allen direkten Aussagen zur Korruptionshäufigkeit mit erheblicher Unterschätzung des wirklichen Ausmasses zu rechnen.

Ergänzend benötigt man also indirekte Abschätzungsmöglichkeiten, z.B. über die Analyse von Korruptionsfolgen (siehe u.a. meinen längeren Beitrag weiter oben).
Ein wesentliches indirektes Abschätzungsinstrument ist die Messung der Korruptionsperzeption. Dies geschieht typischerweise über Fragen wie: "Stimmen sie folgender Aussage zu: In meiner Branche ist es üblich. Schmiergelder für xyz an Institution ABC zu zahlen". Ergänzend dazu wird gerne gefragt: "Sind von Ihnen schon einmal Schmiergelder für xyz von Institution ABC verlangt worden". Analytisch werden dann sowohl die Ergebnisse für jede Einzelfrage, als auch das Antwortverhältnis untersucht. Letzteres gibt einen Eindruck zur Korruptionsakzeptanz, der durch weitere Fragen (z.B. "Ist Korruption ein wesentliches Problem für ihre wirtschaftliche Tätigkeit?") untermauert werden kann.
Einen guiten Überblcik über verwendete Instrumente, mit vielen Länderbeispielen, bietet die folgende Publikation der Weltbank WBI Governance & Anti-Corruption - Governance Diagnostic Surveys (Step-by-Step Guide). Kapitel 2.1 enthält auch schöne Beispiele zur Messung / Verbreitung von Postenkauf ("Patronage"?), z.B. 60% beim albanischen Zoll, 48% beim georgischen Zoll (leider fehlt die Angabe des Jahres der entsprechenden Messung).

Vermutlich wird man für das Russland des 19. Jh. keine systematischen Umfragen zum Thema Korruption finden, sondern eher anekdotische Evidenz. Dennoch solltest Du versuchen, analytisch zwischen berichtetem Korruptionsausmaß, Korruptionsperzeption und Korruptionsakzeptanz zu unterscheiden, entsprechende Quellenbefunde sauber den einzelnen Indikatoren zuweisen, und in der Analyse dann auf die Aussagekraft, aber auch die Grenzen der Befunde eingehen.

Zweitens hat die aktuelle Korruptionsforschung gezeigt, dass es bei Korruption auch innerhalb eines Landes starke Unterschiede zwischen einzelnen Institutionen geben kann. Beispielsweise berichteten im Weltbank/EBRD "Coutries in Transition Survey" für Russland 2006(http://www.ebrd.com/downloads/research/economics/lits.pdf, S.73) 33% der befragten Haushalte von Schmiergeldzahlungen an die Verkehrspolizei, aber nur 18% von Schmiergeldzahlungen an Polizisten im Zusammenhang mit anderen, nicht verkehrsbezogenen Aufgaben. Ich selbst habe in einer Untersuchung in einem spezifischen Regierungsbezirk eines Nachfolgestaats der ehemaligen UdSSR Unterschiede in der Korruptionsperzeption bei Unternehmen zwischen 49% Schmiergeldannahme (Wirtschaftspolizei - Produktfälschungen, Autoschmuggel etc.) und 22 % (Arbeitsschutz / Lebensmittelhygiene) festgestellt.

Insofern sollte man sich hüten, Aussagen zu Korruption in einzelnen Dienststellen (z.B. Ausweiserstellung) zu verallgemeinern. Erst wenn man eine belastbare Anzahl von Befunden für verschiedene Dienststellen und verschiedene Gruppen ('Normalbevölkerung', Unternehmen, Inländer vs. Ausländer etc.) hat, ist verallgemeinernde Schlussfolgerung sinnvoll und möglich.

Drittens finde ich die Unterscheidung zwischen "systemischer" und "spontaner" Korruption sinnvoll. Systemische Korruption vollzieht sich innerhalb der bereits in Vorbeiträgen beschriebenen Korruptionspyramiden, geht also typischerweise einher mit Patronage und/oder Postenkauf, und beinhaltet ein "Weiterleitungssystem" für Schmiergelder von 'unten' an die Spitze der Pyramide. Bei Korruptionsperzeption in der Größenordnung von 50%, vielleicht auch schon ab 35%, würde ich immer von systemischer Korruption ausgehen. Ein weiteres Anzeichen für systemische Korruption ist weitgehendes Fehlen lokaler/ regionaler Unterschiede in zentralstaatlichen Dienststellen (Zoll, Finanzämter, Polizei, etc.).

Im Gegensatz dazu entsteht spontane Korruption durch einzelne Amtsträger, die sich ein generell korruptionsförderndes Umfeld (hohe Korruptionsakzeptanz der Bevölkerung, schwache Sanktionierung von Korruption) zu Nutze machen, vielleicht auch einfach sich bietende Gelegenheiten ("Können Sie nicht mal ein Auge zudrücken?") ergreifen. Korruptionsperzeption unter/ bei 20%, niedrige Korruptionsapzeptanz für die fragliche Dienststelle, eventuell auch eine relativ hohe "Kundenzufriedenheit" bzw. Verwaltungseffektivität sind typische Anzeichen für spontane Korruption. Zum Beispiel bezeichneten in meiner vorerwähnten Untersuchung 91% der befragten Unternehmen die Mitarbeiter des Hygieneamtes (Arbeitsschutz/ Lebensmittelhygiene) als fachlich kompetent, bei der Wirtschaftspolizei waren dies nur 52%. Ergo: Hygieneamt = spontane Korruption, Wirtschaftspolizei = systemische Korruption. [Die Wirtschaftspolizei wurde übrigens, während die Auswertung meiner Studie noch lief, von der nationalen Regierung weitgehend entmachtet, d.h. sie verlor alle direkten Sanktionsbefugnisse wie Beschlagnahmungen etc., die stattdessen dann Gerichtsbeschluss erforderten.]

Ich hoffe, diese Hinweise sind für deine Arbeit hilfreich.
 
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