Deutschland als Einwandererland um 1880?

hermes

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"Die Erwartung, dass deutsche Auswanderer in den deutschen Kolonien siedeln würden, um ihre fortwährende "Entdeutschung" zu verhindern, erfüllte sich schon deshalb nicht, weil Deutschland ab den achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts von einem Auswanderer- zu einem Einwandererland wurde. "
Deutschland in Afrika - Der Kolonialismus und seine Nachwirkungen - Dossier Afrika

Das höre ich zum ersten mal, dass Deutschland in dieser Zeit ein Einwanderungsland war. Es sind doch tausende ausgewandert vor allem nach Amerika. Sollte dieses Zitat richtig sein, kann mir dann auch einer erklären warum und woher diese Einwanderer kamen?
Vielen Dank für alle Antworten
 
Hallo :winke:

Das die Auswanderungsrate zurück gegangen ist, ist verständlich, die Wirtschaft wuchs und man hatte endlich ein Deutschland, aber das Deutschland ein Land der Einwanderung wurde kann ich mir nciht vorstellen. Zwar nahm die Bevölkerung von 1880-1890 um 10 Millionen zu, aber das Bevölkerungswachstum ist auf die Industrialiserung zurück zu führen.
Ich könnte mir ledeglich vorstellen, dass ab 1871 frühere ausgewanderte Deutsche wieder nach Deutschland eingewandert sind. Gründe wären für mich, wie oben schon genannt, die florierende Wirtschaft und das einige Deutschland.

Grüße
 
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Es ist ja nun nichts besonderes, daß ein Land gleichzeitig Einwanderungs- wie Auswanderungsland ist.
Genau diese Situation haben wir doch derzeit in Deutschland - nichts Neues unter der Sonne.

Konkrete Zahlen über die damalige Einwanderung habe ich nicht, aber ich habe schon gelesen, daß es damals eine wahrnehmbare (und natürlich auch von vielen kritisierte) Präsenz von Italienern in Süddeutschland gab.

Schon damals war Frankfurt am Main besonders attraktiv für Einwanderer. Diese dominierten in einigen Stadtvierteln so stark, daß es zu Klagen der Alteingesessenen kam (ich rede hier über 1900, nicht über heute!).
Mir ist dazu der Spruch von OB Adickes (Nationalliberale) in Erinnerung. Als ihm im Stadtparlament die Deutschnationalen vorwarfen, er würde nicht gegen die Einwanderer vorgehen und die Deutschen vernachlässigen, sagte er: "Deutsch ist, wer deutsch arbeitet".
Inoffiziell ist das wohl bis heute das Frankfurter Motto im Umgang mit Einwanderung ...
 
Es ist ja nun nichts besonderes, daß ein Land gleichzeitig Einwanderungs- wie Auswanderungsland ist.

Richtig R.A., Menschen wandern wohl ständig rgendwo ein und aus. Was ist ein Ein- oder Auswanderungsland, was ein "weder-noch"? Haben wir ein "Einwanderungsland, wenn in einer Stadt ein paar Fremde auftauchen? Muß die Zahl der Zu- die der Abwanderer übersteigen? Sollten mehr Einwanderer pro 1000 Bewohner vorhanden sein, als Neugeborene, um die Einwanderungslandkriterien zu erfüllen?

Erstmal definieren, wovon gesprochen wird, sonst reden noch alle aneinander vorbei. Denk ich mal. :fs:
 
Mein Ururgroßvater kam aus Norditalien (den Namen des Dorfes habe ich vergessen, liegt beim Lago Maggiore) nach Telgte, um dort das Zinngießerhandwerk auszuüben, hat sich dann aber nach Hessen verheiratet.

Dazu habe ich folgende Literatur gefunden: Walz, Markus: "An ordentlichen und geschickten Zinngießern fehlt es überall." Wirtschaftliche Lage, Rekrutierung und obrigkeitliche Beeinflussung eines Spezialhandwerks in Lippe 1600 - 1900. In: Lippische Mitteilungen aus Geschichte und Landeskunde,66 (1997).

Ich habe diesen Titel von Walz ausgewählt [der auch ein Buch zum Thema verfasst hat], weil er etwas deutlich macht: Es wurden gezielt Spezialisten gesucht und angeworben.
 
Wenn ich von meinem Schreibtisch aufschaue, sehe ich hoch auf einem Fels einen Aussichtsturm.
Erbaut 1895 von einer italienischen Maurerkolonne, im Auftrag des hiesigen Verschönerungsvereins. Es war wohl ein reiner Familienbetrieb. Es hat ihnen gefallen, bei den Schwaben, Nachkommen leben heute noch hier. Nur die Baufirma ist in den 60ern eingegangen.

Die Eisenbahnstrecke durchs Donautal zw. Tuttlingen und Sigmaringen wurde zur selben Zeit von überwiegend ital. Arbeitern erbaut. Auch da sind etliche hängengeblieben. In den Dörfern beiderseits der Donau anhand der Namen bis heute festzustellen.
 
Mir wäre neu, dass Dtld. um 1880 ein "Einwanderungsland" war, wobei Tekker naütlrich recht hat, dass man dafür zuerst die Begriffe definieren müsste.

Allerdings war damals die innerdeutsche Migration sehr stark; die Landflucht ließ Millionen Menschen in die Städte strömen, aus den eher ländlichen Gebieten in die industriellen Zentren. Millionen Menschen polnischer Sprache verschlug es ins Ruhrgebiet (ich glaub in erster Linie aus Preußen, vielleicht aber auch aus den polnischen gebieten Rußland und Österreichs), in Großraum Berlin gab es Menschen jeder europäischen Nationalität. Migration muss ja nicht immer grenzüberschreitend sein.
 
Was ist ein Ein- oder Auswanderungsland, ...
Das ist eine sehr gute Frage!
Und man wird dabei zwei verschiedene Definitionen bekommen, und ein Land kann Einwanderungsland sein, oder Auswanderungsland, oder beides, oder nichts davon.

Zentral scheint mir die Betrachtung zu sein, daß es nicht um vereinzelte individuelle Zufälle geht, wo plötzlich ein Fremder in einem Land "hängen bleibt".
Sondern da muß es um eine Reihe von Leuten gehen (obwohl sich wohl weder absolute noch relative Grenzen angeben lassen), die aus ähnlichen Gründen eine ähnliche Entscheidung treffen, für längere Zeit ihren Lebensmittelpunkt in ein fremdes Land zu verlegen.
Es müssen auf jeden Fall genug Leute sein, daß dies in Herkunfts- und Zielland als Trend wahrgenommen wird, daß im Herkunftsland andere Leute gezielt dem Vorbild der Auswanderer folgen, und daß im Zielland die Einwanderer ähnlicher Herkunft als Gruppe wahrgenommen werden und sich auch so verstehen.

Meine Urgroßmutter väterlicherseits kommt z. B. aus England. Sie ist als Internatsschülerin nach Deutschland gekommen (war im 19. Jahrhundert sehr populär), hat dort meinen Urgroßvater kennengelernt und ist dann verheiratet in Deutschland geblieben.
So ein Fall ist m. E. keine echte "Auswanderung", war auch nicht so geplant, und obwohl bestimmt über Deutschland verstreut tausende von Engländern gelebt haben werden, hat es da nie einen Trend gegeben, das waren alles individuelle Zufälle.

Umgekehrt haben wir dagegen meine andere Urgroßmutter, die wie Quijotes Urgroßvater ganz gezielt aus Italien nach Deutschland kam um hier bessere Erwerbschancen zu haben.
Siehe auch Repos Beispiele: Italien war in dieser Zeit ganz klar Auswanderungsland (nicht nur in Richtung Deutschland), Deutschland war AUCH Einwanderungsland (obwohl zahlenmäßig die Auswanderung wohl größer war).
 
Was z.T. auch in die Zeit fällt, sind die Bergarbeiter an der Ruhr. Sehr viele Polen darunter.
Die haben z. T. noch über die Nazi-Zeit hinaus polnische Vereine gehabt.

In der deutschen Fussballgeschichte fand dies einen sehr großen Niederschlag. Szepan, Kuzorra, Sawitzki, Szymaniak, ....... lauter große Namen.


OT: Wie war das mit Horst Szymaniak und der viertel Million, die ihm AC Milan (oder wars Inter?) geboten hat? Er soll abgelehnt haben, unter einer achtel Million spielt er nicht.
 
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Siehe auch Repos Beispiele: Italien war in dieser Zeit ganz klar Auswanderungsland (nicht nur in Richtung Deutschland), Deutschland war AUCH Einwanderungsland (obwohl zahlenmäßig die Auswanderung wohl größer war).

So habe ich auch oben im link die Statistik interpretiert: als Nettogröße bzw. Saldo der Einwanderungs- und Auswanderungsraten.

Wobei sich natürlich die Frage stellt, wie so etwas zuverlässig erfaßt wurde. Eigentlich kann es sich nur um Schätzungen handeln. Bei den Auswanderern in die USA habe ich in Erinnerung, dass es umfangreiche Registrierungen in Hamburg gegeben hat, aufgrund des Schiffstransfers.
 
So habe ich auch oben im link die Statistik interpretiert: als Nettogröße bzw. Saldo der Einwanderungs- und Auswanderungsraten.

Wobei sich natürlich die Frage stellt, wie so etwas zuverlässig erfaßt wurde. Eigentlich kann es sich nur um Schätzungen handeln. Bei den Auswanderern in die USA habe ich in Erinnerung, dass es umfangreiche Registrierungen in Hamburg gegeben hat, aufgrund des Schiffstransfers.

Das glaube ich aber nicht, dass das bei der altdeutschen Bürokratie ein Erfassungs-Problem gab. Das Meldewesen ist doch älter als das 2. Reich.
 
"Die Erwartung, dass deutsche Auswanderer in den deutschen Kolonien siedeln würden, um ihre fortwährende "Entdeutschung" zu verhindern, erfüllte sich schon deshalb nicht, weil Deutschland ab den achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts von einem Auswanderer- zu einem Einwandererland wurde. "
Deutschland in Afrika - Der Kolonialismus und seine Nachwirkungen - Dossier Afrika

Das höre ich zum ersten mal, dass Deutschland in dieser Zeit ein Einwanderungsland war. Es sind doch tausende ausgewandert vor allem nach Amerika. Sollte dieses Zitat richtig sein, kann mir dann auch einer erklären warum und woher diese Einwanderer kamen?
"Mit dem Ende der Auswanderung wird seit den 90er Jahren die Zuwanderung von ausländischen Arbeitskräften zu einem Massephänomen. Deutschland wird - in Maßen - zu einem Einwanderungsland. Bis dahin fehlten Arbeitsplätze, so mangelte es jetzt an Arbeitskräften" (Thomas Nipperdey, Deutsche Geschichte 1866-1918, Band 1, 1993, S. 33).

Bis 1871 hatten nur 207.000 Ausländer im Dt. Reich gelebt, 1910 waren es 1.260.000. Diese Zählung war eine Winterzählung. Es fehlen die Saisonarbeiter des Sommers (Unterschied zw. winterlichem Tief und sommerlichen Hoch: ca. 500.000) und die illegal Zugewanderten, die nach 1910 auf mehr als 1.000.000 geschätzt werden. Am wichtigsten waren die Auslandspolen (Kongreß-Polen oder österreichische Teile Polens), mit Abstand folgten Italiener und Slowenen. Alle Zahlen aus Nipperdey, aaO.

Die offizielle Politik stand einer Integration dieser Zuwanderer entgegen. Man wollte aus nationalen Gründen einer fortschreitenden "Polonisierung" einen Riegel vorschieben und ging deshalb zu Zwangsabschiebungen und einer genau kontrollierten Saisonarbeiteranwerbung über.

Literaturtip: Bade, Europa in Bewegung, 2002. - Das Buch ist leider ausgliehen. Ansonsten könnte ich mit mehr statistischem Material aufwarten.

Hier gibt es Migrationsraten:
http://www.uni-muenster.de/Geschichte/hist-sem/SW-G/materialien/weltwirt2/S05_Folien.pdf

Demnach hat die Auswanderungsrate nach dem Höhepunkt 1881-1890 tatsächlich abgenommen, ohne jedoch in eine "Einwanderung" zu kippen.
Deine Statistik berücksichtigt lediglich die transatlantische Migration, d.h. die Migration über den Atlantik, nicht die innereuropäische Migration, insb. die Zuwanderung aus Ost- und Südeuropa.;)
 
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Die Soziologie hat dafür Begriffe gefunden, die gemeinhin als Push- und Pullfaktoren bezeichnet werden. Manche Soziologen lehnen eine Übersetzung ins Deutsche ab, andere schreiben von Sog- und Schubfaktoren. Die Push/Schubfaktoren sind die Gründe, die Leute dazu veranlassen, ihre Heimat zu verlassen (politische Unterdrückung, Arbeitslosigkeit, lebensfeindl. Umwelt), Sog/Pullfaktoren sind die Gründe, weshalb Leute sich für ein bestimmtes Land entscheiden (ausreichend Arbeit, gutes soziales Netz, das ganze Jahr sommerliche Temperaturen [dieser Sogfaktor ist relativ jung und echter Luxus], politische Freiheit). Ich denke, wenn man einige der genannten Pull/Sogfaktoren auf Deutschland um 1880 anwenden kann und zeigen kann, dass das bestimmte Zuwanderergruppen genauso sahen, dann kann man von D für um 1880 als Einwanderungsland sprechen.
 
Die polnischen Schnitter gehören in Mecklenburg schon zur Folklore. Es gibt da endlose Geschichten, angefangen bei Kneipenschlägereien und aufgehört beim Heiraten.
 
Was z.T. auch in die Zeit fällt, sind die Bergarbeiter an der Ruhr. Sehr viele Polen darunter.
Die waren aber nur zu einem Teil (siehe Gandolfs Beitrag) "echte" Einwanderer, d.h. kamen dem Paß nach aus dem Ausland.
Ein sehr großer Teil (die Mehrheit?) waren aus deutscher Sicht Binnenwanderer aus den Gebieten in Ostdeutschland, in denen viele Polen lebten.
 
Die waren aber nur zu einem Teil (siehe Gandolfs Beitrag) "echte" Einwanderer, d.h. kamen dem Paß nach aus dem Ausland.
Ein sehr großer Teil (die Mehrheit?) waren aus deutscher Sicht Binnenwanderer aus den Gebieten in Ostdeutschland, in denen viele Polen lebten.

In den 1880er Jahren sind jährlich ca. 130.000 ausgewandert. Das ging ab 1890 zurück und pendelte sich ab 1893 bei ca. 30.000 ein.
Als Gründe werden genannt, dass in den USA die freie Landnahme zu Ende ging, und, dass sich das wirtschaftliche Umfeld in Deutschland verbesserte.

Seit ca. 1850 war in den östlichen Provinzen Preußens kein weiterer Ausbau der Anbauflächen mehr möglich. Als wenig später die Verdienstmöglichkeiten in der Industrie erheblich anstiegen gab es eine gehörige Binnenwanderung, so sind bis 1900 ca. 2,5 millionen Menschen aus den Ostprovinzen abgewandert, eine runde Million allein nach Berlin, ca. 700.000 ins Ruhrgebiet. Im gleichen Zeitraum sind in die Ostprovinzen aber ca. 300.000 Menschen neu zugewandert. Überwiegend aus Russisch-Polen (1900!) und Rußland. Demgegenüber sind die Einwanderungszahlen aus anderen Ländern, hängengebliebene Saisonarbeiter usw. (Siehe Beispiele) gering.
Quelle: Deutschland im Zeitalter des Imperialismus

OT: Was mich in dem Zusammenhang verwundert hat, es gibt anscheinend keine Untersuchungen über die Arbeitslosigkeit im Kaiserreich. Anscheinend wurde die nicht als Problem empfunden???? Oder habe ich nur nichts gefunden?

Hat Jemand dazu infos?
 
Was mich in dem Zusammenhang verwundert hat, es gibt anscheinend keine Untersuchungen über die Arbeitslosigkeit im Kaiserreich. Anscheinend wurde die nicht als Problem empfunden????
Das liegt wohl schlicht daran, daß es keine (staatliche) Arbeitslosenversicherung gab.
Auch heute ist ja offiziell nur "arbeitslos", wer auf dem AA registriert Stütze kriegt.

Ohne diese staatliche Sondergruppierung verschmilzt "Arbeitslosigkeit" im allgemeinen Problem "Armut". Dazu gibt es schon Studien.
 
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