Kulturkampf und Sozialistengesetze: Forschungsproblematik und Grundgedanken

michon

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Servus!
Ich lege bald im meinem Nebenfach Geschichte meine mündliche Abschlussprüfung ab. Als Thema habe ich "Kulturkampf und Sozialistengesetze". Bei einem slebst gewählten Thema ist es natürlich schwer, im unmittelbaren Uni-Umfeld Leute zu finden, mit denen man sich ausgerechnet über dieses Thema austauschen kann und ggf. Anregungen besorgen kann. Das hoffe ich nun, hier tun zu können. Doch genug der Vorrede, zum Inhaltlichen, es geht mir um Zweierlei.

1. Kennt jemand eine aktuellere Darstellung zu Forschungsproblemen/zum Forschungsstand des Kulturkampfes als die von Morsey aus den 60er Jahren? Ich nehme an, dass sich sein genanntes Hauptproblem bezüglich der Quellenlage (etwa Unzugänglichkeit vatikanischer Akten) geändert hat.
Zum Forschungsstand generell lässt sich ja festhalten, dass es wohl noch immer keine Monografie zum Kulturkampf gibt, auch wenn einige Regionen in eben regional begrenzten Untersuchungen recht gut erforscht sind.

2. Was würdet ihr bei einem Vergleich von Kulturkampf und Sozialistengesetz als wesentliche Punkte ansehen?
Meine spontanen Gedanken nach dem ersten Auseinandersetzen mit der Materie:
-beide Gruppen wurden von Bismarck als Reichsfeinde diffamiert, bei beiden Bevölkerungsgruppen hinterließ der "Kampf" am Ende tiefe Wunden, schweißte zusammen und förderte das Milieudenken
-gegen die Katholiken wurde mit "normaler" Gesetzgebung operiert, gegen die Sozialisten hingegen mit Ausnahmegesetzen, was rechtsstaatlich ein roßer Unterschied ist (bitte korrigiert mich, falls ich da was falsch verstanden habe)
-Bismarck schloss grundsätzlich eine Zusammenarbeit jeglicher Art mit der Sozialdemokratie aus, sie war ihm metaphysisch völlig fremd; für die Kirche als konservative Ordnungsmacht hegte er sogar eine gewisse Sympathie.
 
Zum Forschungsstand kann ich nicht viel sagen. So "aus der Lammmeng" fällt mir noch das Buch von Wilfried Loth über Katholiken im Kaiserreich ein. Das hatte ich in meinem Studium zu Beginn der neunziger Jahre mal in Auszügen gelesen - ganz taufrisch ist der Tipp also auch nicht mehr.

Zu Punkt 2: Ich finde einen Vergleich von "Kulturkampf" und den Sozialistengesetzen sehr reizvoll und mir kämen da die gleichen Unterpunkte in den Sinn.

Etwas problematisch finde ich den Begriff des Ausnahmegesetzes. Ich weiß natürlich, was du meinst, aber das Sozialistengesetz wurde vom Reichstag meines Wissens formal korrekt verabschiedet. Kann man da von Ausnahmegesetz sprechen? Haben das zeitgenössische Kritiker (Teile des Linksliberalismus) genauso gesehen?

Verheerend sind in meinen Augen die Folgen der beiden innenpolitischen Ereignisse. Bismarck markierte bestimmte Bevölkerungsgruppen als reichsfeindlich und versuchte, gegen sie Mehrheiten zu organisieren. Gerade die deutsche Sozialdemokratie hat dies nachhaltig geprägt.

Was mich daran immer interessiert hat, war die Frage, warum Bismarck es geschafft hat, Leute an seine Seite zu ziehen, auch wenn sie den Weg des Reichskanzlers skeptisch betrachtet hatten.
 
Hey, welch Freude, meine Hoffnung auf eine Antwort war schon rapide gesunken :)
Nun, das mit dem Ausnahmegesetz habe ich ein wenig unglücklich ausgedrückt. Die Gesetze wurden freilich schon alle vom Reichstag verabschiedet. Das Gesetz gegen die Sozialisten halte ich sofern für ein Ausnahmegesetz, indem es gegen eine klar eingegrenzte Gruppe der Bevölkerung eingesetzt wird. Die grundlegenden Rechte der Bürger (Versammlungsfreiheit etc.) gelten als Ausnahme von der allgemeinen Gesetzgebung NICHT für Sozialisten. Bei den Katholiken hingegen handelte es sich um Maßnahmen gegen kirchliche Obrigkeit und die Kirche als Institution.damit wurden zwar im Endeffekt auch gewisse Rechte der Katholiken beschnitten, aber grundsätzlich scheint das ja eine andere Dimension gewesen zu sein.

Was du an verheerenden Folgen ansprichst für die beiden Gruppen und besonders die Sozialdemokratie, was meinst du konkret?
Ich habe bei Wehler von einer Art "Hyper-Nationalismus" gelesen; d.h., die ehemaligen "Reichsfeinde" wollten später durch Übereifer ihre eben "reichsfeindliche" Vergangenheit vergessen machen. Willst du mit deinen Aussagen auch in diese Richtung? Ich vermute, dass das auf verminderten Widerstand gegen den 1. Weltkrieg anspielt? Aber mit dieser Phase kenne ich mich leider nicht so aus...

Das ist in der Tat eine interessante Frage, wie Bismarck die Leute auf seine Seite ziehen konnte.
Man müsste mal schauen, mit welchen Mehrheiten Parlamentsbeschlüsse zustande gekommen sind. Aber ich vermute, dass er als Realpolitiker über Weltanschauungen hinweg einfach strategisch gut die Parteien für seine Ziele eingesetzt hat und sich dann auch nicht scheute, sie "wegzuwerfen".
Sicherlich kommt bei den lebhaften, emotionalen Parlamentsdebatten dieser Zeit dazu, dass Bismarck eine beeindruckende Gestalt war und auch rhetorisch sicherlich eine Wucht.
 
Innerhalb der SPD kam es zu einer Radikalisierung. Noch in den siebziger Jahren war die Partei keineswegs nur marxistisch ausgerichtet.

Im Erfurter Programm von 1891 nimmt der Marxismus einen breiteren Raum ein. Zumindest der Teil des Programms, in dem die Partei eine Analyse der Situation vornimmt, wird nun von Marx sehr stark bestimmt. Es ist Karl Kautsky, der Marxsches Gedankengut hier einfließen lässt.

Andererseits hat Eduard Bernstein den Teil des Programms mitgestaltet, in dem es um die Forderung nach demokratischen Reformen geht. Eine klassische marxistische Partei war die SPD wohl nie.

Ich meine aber auch, dass die Erfahrungen des Sozialistengesetzes innerhalb der Partei zu der Grundüberzeugung führte, dass von diesem Obrigkeitsstaat, selbst wenn er den Arbeitern einige sozialpolitische Zuckerstücke zuwerfe, nichts ersprießliches zu erwarten sei. Die SPD igelte sich in einer sozialdemokratischen Subkultur ein, was ihr einerseits eine große Stärke verlieh. Andererseits blockierte sie diese Haltung auch, denn schon bald war klar, dass sie einen Bündnispartner im bürgerlichen Lager bräuchte. Das konnten nach Lage der Dinge nur die Linksliberalen sein, und die störten sich gerade am Marxismus Kautskyanischer Prägung, obwohl Kautsky kein Anhänger der Diktatur des Proletariats war. 1917/18 sollte er zu den schärfsten marxistischen Kritikern der Bolschewiki gehören.

Die Wehlerschen Thesen vom "Hyper-Nationalismus" kenne ich nicht, obwohl mehrere Bücher von ihm in meiner 'Bibliothek' stehen. Was das Kaiserreich angeht, schätze ich die Überblicksdarstellungen von Thomas Nipperdey oder Wolfgng J. Mommsen.

Weder das Zentrum noch die SPD entwickelten sich zu allzu eifrigen Nationalisten.
Das Zentrum positionierte sich ab 1890 als Mitte-Rechts-Partei und unterstützte zusammen mit den Konservativen die Reichsregierung. Aber auch hier war das Zentrum meines Wissens eher ein moderater Befürworter der Flotten- und Kolonialpolitik.
1906 löste Kritik von Seiten des Zentrums an der Kolonialverwaltung eine Reichstagsauflösung und die sogenannten "Hottentottenwahlen" aus.
1913, in der Zabernaffäre, kritisierte auch das Zentrum scharf das Verhalten der deutschen Militärs im Elsaß. Dass die SPD nicht hypernationalistisch war, bedarf keines Kommentars.

Es gibt auch Historiker, die davon ausgehen, dass Bismarck mit den Sozialistengesetzen im Grunde die Nationalliberalen spalten und das liberale Bürgertum schwächen wollte. Ein Teil der Nationalliberalen lehnte die Sozialistengesetze ab.

Das ist aber alles schon 17 Jahre her, seitdem ich mich damit beschäftigt habe - man wird alt oder zumindest älter. Wie gesagt, ich empfehle nachdrücklich neben Wehlers Arbeiten auch Thomas Nipperdey.
 
Noch ein kurzer Nachtrag:

Thomas Nipperdey, Deutsche Geschichte 1866-1918. Band 2: Machtstaat vor der Demokratie, München 1992, S. 359 ff. Hier beschreibt N. auch die Motive des Reichskanzlers und die Folgen für die Innenpolitik.

Hans-Ulrich Wehler, Das deutsche Kaiserreich 1871-1918, 5. Auflage, Göttingen 1983, S. 96 ff.
 
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