Lebensniveau im Kaiserreich

Ruthenus

Mitglied
Wenn wir den Zeitabschnitt unmittelbar vor der Entfesselung des 1. Weltkriegs betrachten, kann man mir eine inhaltreiche Antwort geben, ob die damalige Bevölkerung des Kaiserreichs

1) an der Spitze der derzeitigen technologischen, kulturellen und wirtschaftlichen Entwicklung war? Oder gab es damals andere europäische Staaten, die Deutschland in diesem Sinne übertrafen, in jedem einzelnen von diesen Bereichen?

2) im Vergleich zu heutigem Deutschland, höherer/wenigerer Vermögens- und Einkommensungleichheit ausgesetzt wurde? Das heißt, war die Spanne zwischen den reichsten 10% und den ärmsten 10% größer als jetzt, oder nicht?

3) in ihrer gesellschaftlichen Struktur besonder verschieden von England und Frankreich war? Ich vergleiche nicht mit Russland oder Habsburgmonarchie, denn es ist klar, dass dort der Anteil von Bauern beträchtlich höher war.

Wenn man mir einen guten Link für die jeweilige soziologische bzw wirtschaftliche Statistik empfiehlt, wäre ich besonders dankbar.
 
1) an der Spitze der derzeitigen technologischen, kulturellen und wirtschaftlichen Entwicklung war? Oder gab es damals andere europäische Staaten, die Deutschland in diesem Sinne übertrafen, in jedem einzelnen von diesen Bereichen?

2) im Vergleich zu heutigem Deutschland, höherer/wenigerer Vermögens- und Einkommensungleichheit ausgesetzt wurde? Das heißt, war die Spanne zwischen den reichsten 10% und den ärmsten 10% größer als jetzt, oder nicht?

3) in ihrer gesellschaftlichen Struktur besonder verschieden von England und Frankreich war? Ich vergleiche nicht mit Russland oder Habsburgmonarchie, denn es ist klar, dass dort der Anteil von Bauern beträchtlich höher war.

Zu 1. welche technologisch-wirtschaftlichen Parameter sollen das abbilden? Nimmt man einige Spitzentechnologien bzgl. Innovationen, Investitionen und Wertschöpfung, ist das Bild zwischen den Industriestaaten fallweise unterschiedlich oder ausgeglichen. Zur "kulturellen" Messung werden evt. andere antworten.

Zu 2. auch da stecken Probleme in Fragestellung: welche Bedeutung misst Du der Spanne bei? Warum nicht 30%? Einkommensmessung über Besteuerung ist abhängig von der Definition der Bemessungsgrundlage? Bedeutung des gesamten Wirtschaftsvolumens für die Spannbreite, Bedeutung von Wachstumsraten?

zu 3. sind Schichtenbetrachtungen der Bevölkerung gemeint?
 
Wenn wir den Zeitabschnitt unmittelbar vor der Entfesselung des 1. Weltkriegs betrachten, kann man mir eine inhaltreiche Antwort geben, ob die damalige Bevölkerung des Kaiserreichs

1) an der Spitze der derzeitigen technologischen, kulturellen und wirtschaftlichen Entwicklung war? Oder gab es damals andere europäische Staaten, die Deutschland in diesem Sinne übertrafen, in jedem einzelnen von diesen Bereichen?

2) im Vergleich zu heutigem Deutschland, höherer/wenigerer Vermögens- und Einkommensungleichheit ausgesetzt wurde? Das heißt, war die Spanne zwischen den reichsten 10% und den ärmsten 10% größer als jetzt, oder nicht?

3) in ihrer gesellschaftlichen Struktur besonder verschieden von England und Frankreich war? Ich vergleiche nicht mit Russland oder Habsburgmonarchie, denn es ist klar, dass dort der Anteil von Bauern beträchtlich höher war.

Wenn man mir einen guten Link für die jeweilige soziologische bzw wirtschaftliche Statistik empfiehlt, wäre ich besonders dankbar.

@Ruthenus

Das sind sehr komplexe Fragen, auf die Du in einem Forum keine präzise, umfassende und valide Antwort, jenseits von "Kaffeesatzleserei", finden wirst. silesia deutete das in #2 schon an, zumal Deine Fragen gewisse ökonomische, soziologische und historische "Unschärfen" aufweisen, aber das ist ja nicht weiter schlimm.

Deswegen, da die Fragen auch sehr interessant sind, versuche ich sie gar nicht erst zu beantworten, sondern erlaube mir einige Anregungen zu einer möglichen Annäherung an die Fragestellung zu geben.

ad 1)

Hier würde ich in einem ersten Schritt, w./Spitzenstellung, die Liste der Nobelpreisträger kurz statistisch auswerten, ohne Friedensnobelpreis.

Wirtschaftliche Entwicklung:

Anteil des Sektors II und III der VW am BIP, der Vergleichsvolkswirtschaften im Uz.

Höhe des BIP pro Kopf der Vergleichsvolkswirtschaften im Uz.

Kulturelle Entwicklung:

Dazu fielen mir kaum meßbaren Indikatoren ein. Der Literaturnobelpreis ist da schon sehr weit hergeholt.

Was bliebe, z.B. die Alphabetisierungsrate, Schulpflichtzeiten, das Verhältnis Gymnastiasten zu "Volksschülern", der Anteil der universitär Ausgebildeten im Verhältnis zur Gesamtbevölkerung, Auswanderungsrate.

Eventuell noch Geburtenrate und die Mortalitätsrate bei Neugeborenen, sowie durchschnittliche Lebenserwartung.

ad 2)

Noch schwerer machbar. Da die Einkommenssteuer, Vermögenssteuer und Erbschaftssteuer im Uz vollkommen uneinheitlich war, so es sie überhaupt gab, zumal mit dann auch noch unterschiedlichen Bemessungsgrundlagen.

silesia führte es schon an, wie kommst Du auf den statistischen Grenzwert von 10%?

ad 3)

Rechtshistorischer Vergleich.

Soziologischer Vergleich.


Abschließend, solche links hätte ich auch sehr gerne. :winke:


M.
 
Einen sehr guten Einsteig in die komplexe Fragestellung bieten beispielsweise die Arbeiten von Wehler:

Das Deutsche Kaiserreich 1871-1918 - Hans-Ulrich Wehler - Google Bücher

Eine komparative Betrachtung europäischer Länder muss weiche und harte Faktoren betrachten.

Weiche Faktoren wären beispielweise die Frage der politischen Organisation und der Beteiligung - auch der demokratischen - des Volkes an der Regierung.

Modernisierung eines Staates und somit seine komparative Leistungsfähigkeit drückt sich nicht nur im GDP/BSP oder anderen Indices aus.

http://www.wcurrlin.de/links/basiswissen/basiswissen_kaiserreich_innen_und_aussenpolitik.htm
 
Zuletzt bearbeitet:
Tipp:

In jeder gut sortierten Bibliothek:

Deutsche Geschichte 1800 - 1918,
1. Band: 1800-1866. Bürgerwelt und starker Staat
2. Band: 1866-1918
- Bd. 2/1: Arbeitswelt und Bürgergeist
- Bd. 2/2: Machtstaat vor der Demokratie

von Thomas Nipperdey
 
In Ergänzung zu thanepowers Tipp:

Hans Ulrich Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte 1849-1914

aber auch

Wolfgang Mommsen, Das Ringen um den nationalen Staat 1850-1890
Wolfgang Mommsen, Bürgerstolz und Weltmachtstreben 1890-1918
 
Vielen Dank ))

silesia, soweit ich weiß, der 10%-Vergleich ist in Makroökonomie eine gewisse Annäherung für den Gini-Koeffizient.
 
silesia, soweit ich weiß, der 10%-Vergleich ist in Makroökonomie eine gewisse Annäherung für den Gini-Koeffizient.

Das ist eher beliebig, und Ergebnisse dieser Annäherung können sich drastisch verschieben, wenn Du zB 20%, 5% oder 30% als Grundlage nimmst. Das hängt vom Kurvenverlauf der Einkommens- bzw. Vermögensverteilung ab.

Es gibt Statistiken zum Pareto-α-Koeffizienten (Vorsicht: in der Zuverlässigkeit abhängig von den Rahmenbedingungen der Besteuerung). Danach ergeben sich regionale Unterschiede im Kaiserreich nach den Ländern, nimmt man Preußen als Vorgabe:
Preußen 1880: 1,77, sinkend bis 1914 auf 1,46 (-> Anstieg der Ungleichverteiliung)
Deutsches Reich 1922/33: Anstieg von 1,77 auf 1,91
BRD 1950 Anstieg auf 2,06
Daten nach Hoffmann, Das Wachstum der Deutschen Wirtschaft seit der Mitte des 19. Jahrhunderts, S. 510ff.
siehe auch hier, Kehrwerte als Beta-Koeffizienten S. 128:
http://books.google.de/books?id=VFo...onepage&q=grumbach pareto-koeffizient&f=false
 
Zuletzt bearbeitet:
@Ruthenus

in meinem Beitrag #3 habe ich Deine Fragestellung 3) sehr kurz abgehandelt. Auch jetzt in der Ergänzung, keine Antworten sondern nur Anregungen.

Rechtshistorischer Vergleich:

Vergleich der Wahlrechtssysteme der zu vergleichenden Staaten im Uz.
Arbeiterschutzgesetzgebung.
Kinderschutz (z.B. Kinderarbeit etc.).
"Armengesetzgebung", also Wohlfahrtsrecht usw.

Soziologischer Vergleich

Mit der Einkommens- und Vermögensverteilung hast Du Dich ja schon statistisch befasst (quantitative Sichtweise), kämen also die qualitativen Faktoren hinzu:

Soziale Mobilität, Stichwort: "Schichtdurchlässigkeit", also Aufstiegschancen. In der marxistischen Literatur gibt da einen Begriff, "Arbeiteraristokratie", könnte ein Ansatz hierfür sein.

Gab es Zugangsbeschränkungen für bestimmte Berufe bzw. Ämter, z.B. konnte jeder Offizier in jedem Regiment werden, ausnahmsweise mal eine Antwort für das DR: nein.

Gab es vererbbare "Vorrechte", in den drei zu vergleichenden Staaten im Uz, auch hier ausnahmsweise eine kurze Antwort für das DR und UK, ja, Stichpunkte HoL, Standesherrschaften, Fideikommiß.

Frauenrechte?

War die juristische Gleichstellung auch von sozialer Akzeptanz getragen? (z.B.: der Juden).

Wie Du siehst, viele Fragen, wenig Antworten.

Good luck!


M.
 
2) im Vergleich zu heutigem Deutschland, höherer/wenigerer Vermögens- und Einkommensungleichheit ausgesetzt wurde? Das heißt, war die Spanne zwischen den reichsten 10% und den ärmsten 10% größer als jetzt, oder nicht?

Im Nachgang zur angesprochenen "Spanne", bzw. zum Pareto-Koeffizienten, noch ein Gedanke:

Wichtig ist für die Wertung nicht nur der Unterschied bzw. die Spannbreite, sondern auch die mit dem (quantitativ bestimmbaren) Vermögens- und Einkommensniveau verbundenen Lebensumstände der so definierten unteren Schichten im Kaiserreich.

Platt gesagt: das Niveau im unteren Kurvenverlauf kann schon aufgrund von sozialstaatlichen Absicherungen stark divergieren, was allein durch den "Abstand" und Kurvenverlauf nicht zum Ausdruck gebracht wird.
 
Platt gesagt: das Niveau im unteren Kurvenverlauf kann schon aufgrund von sozialstaatlichen Absicherungen stark divergieren, was allein durch den "Abstand" und Kurvenverlauf nicht zum Ausdruck gebracht wird.

Danke. Nachdem ich das oben empfohlene Buch Wehlers (den dritten Band seiner Epopöe) durchgelesen habe, hat sich ein großer Zweifel bei mir daran verankert, wie man sich überhaupt auf Zahlen in Gesellschaftsgeschichte verlassen kann :rofl:
 
Ohne wird es deskriptiv kaum gehen.

Die Interpretation solcher aggregierten Zahlen ist von Auswahl und Methodik abhängig (s.o.), von der Datenqualität hinsichtlich Vollständigkeit, Relevanz und Sicherheit (s.o.), den Prämissen (s.o.), usw. Die Reihe lässt sich vermutlich noch verlängern. Von stupide verwendeten Koeffizienten halte ich jedenfalls auch nicht viel.:winke:
 
Danke. Nachdem ich das oben empfohlene Buch Wehlers (den dritten Band seiner Epopöe) durchgelesen habe, hat sich ein großer Zweifel bei mir daran verankert, wie man sich überhaupt auf Zahlen in Gesellschaftsgeschichte verlassen kann :rofl:

Das ist eine sehr methodische Fragestellung. Dein Zweifel ist m.E. berechtigt. Statistische Zahlenangaben, z.B. "Lange Reihen" sind für Wirtschaftshistoriker etwas wunderbares, insbesondere dann, wenn der Wirtschaftshistoriker davon ausgeht, daß die Statistik lege artis aufbereitet wurde und z.B. statistische Kategorien wie das "BIP" historisch-statistisch exakt extrapoliert wurde. Nur das ist die halbe Wahrheit. Ohne historische Kontextualisierung sind Zahlenangaben nur begrenzt aussagefähig, insbesondere bezogen auf Deine Ausgangsfragestellung "Lebensniveau". Dieser Begriff weist ja schon per se historische, soziologische und natürlich auch statistische Unschärfen auf.

Müßte ich über das Thema arbeiten, würde ich ersteinmal die Kategorie "Lebensniveau" versuchen zu fassen. Dann käme die Schicht- bzw. Klassenbetrachtung.

Nur so, als Anregung.

M.
 
Melchior, danke für deine Auflklärung. Ich stimme zu, dass die Kategorie mindestens gefasst werden soll. Im Moment bin ich geneigt, eine von der Klassebene unabhängige Bestimmung aufzunehmen, die auch die Mobilität zwischen den Klassen als einen positiven Hebel einbegreift.

Die Schwäche der Zahlen ist mir augenfällig, weil es z.B. die Statistikmethoden in verschiedenen Zeitältern nicht einheitlich waren. Wehler hat zumindest versucht, die Angaben im Einklang zu bringen.
 
1) an der Spitze der derzeitigen technologischen, kulturellen und wirtschaftlichen Entwicklung war? Oder gab es damals andere europäische Staaten, die Deutschland in diesem Sinne übertrafen, in jedem einzelnen von diesen Bereichen?

Ich erwische mich immer wieder dabei, die USA mit Deutschland zu vergleichen. Das mag absurd erscheinen, aber ich werde dieses Gefühl nicht los.
Als Beispiel, die Atombombe. Sie wurde zuerst in den USA entwickelt und gebaut. Die Ursprünge sind aber deutschsprachig und noch vor dem Ersten Weltkrieg zu suchen.
Viel besser und menschenfreundlicher ist jedoch das Beispiel Steinway & Sons.
Okay, das Geräusch einer Atombombe ist lauter. Wobei ... Das lauteste Geräusch seit Menschengedenken war die Explosion des Krakatau, am 27. August 1883.
 
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