Neue Biographie über den 99-Tage-Kaiser

Mitleid ist keine Kategorie, die in der Geschichtswissenschaft zählt, aber beim Lesen des Buches ging es mir manchmal durch den Kopf: Der arme Kerl...

Frank Lorenz Müller hat ein gut lesbares Buch geschrieben. Er macht deutlich, dass der Kronprinz zwar mit den Liberalen sympathisierte, aber es nicht zum Bruch mit Bismarck kommen lassen wollte. Müller meint, das Verhalten Friedrichs hätte ein wenig an "Bigamie" erinnert (S. 226).

Letztlich hätte auch Friedrich - so Müller - nicht den Weg in eine parlamentarische Monarchie eingeschlagen; Bismarck soll er dies 1886 oder 1887 zugesichert haben.

Müller steht Friedrich nicht ohne eine gewisse Sympathie gegenüber, aber dennoch macht er deutlich, dass der Kronprinz keine Führungsnatur war. Politisch teilweise isoliert, fehlte es ihm wohl auch am Willen zur Macht. Einem Mann wie Bismarck, intelligent und skrupellos, war er nicht gewachsen. Und wie nicht wenige Liberale hatte er für die soziale Frage wenig Verständnis.
 
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Dankeschön für diese Einschätzung. Bei mir liegt Buch auch bereits auf dem Regal und wartet noch darauf gelesen zu werden.

Albrecht Stosch hat sich gegenüber seinen Freund Gustav Freytag so über den Kronprinzen geäußert: "Solche Öde des Geistes und solcher Mangel an Tatkraft ist mir lange nicht mehr entgegengetreten wie in diesem Herrn und man muss Angst vor der Zukunft haben." Zwei Jahre später:" Der Mann hat so gut wie keinen eigenen Willen [...] Unser Thronfolger wäre kaum im Stande, zielbewusst zu sprechen und zu hören. Ichschäme mich, wenn ich an die Unterhaltung des Kronprinzen mit dem Papst denke. Unser junger Herr empfindet die Leere seine Thuns sehr wohl, aber der Wille dies zu ändern fehlt."

Roggenbach äußerte sich Stosch gegenüber folgendermaßen: "Daß der lähmende Pessimums sich nicht gemildert hat, bestätigen alle Personen." Später ging Roggenbach im vertrauten Kreise sogar so weit, die Trennung des Kronprinzen von seiner Gemahlin zu verlangen.

Kaiser Friedrich III. Tagebücher 1866-188, S.26-29 herausgegeben von Winfried Baumgart
 
Seine Ehefrau war selbstbewusster und aktiver. Sie unterstützte ihn, wo es nur ging.

Mehr als symbolische Gesten blieben Friedrich nicht; so lud das Kronprinzenpaar Stosch zu einem Abendessen, was am Hofe aber schon als Zeichen von Opposition galt.

Friedrich war als Truppenführer in der Lage, Entscheidungen zu treffen. Möglicherweise - eine Vermutung von mir - war er ein depressiv veranlagter Mensch, der gegen die Kraftnatur seines Vaters und den Obermachiavellisten Bismarck nicht ankam.

Ob das lesenswerte Buch nun eine Legende entzaubert, weiß ich nicht. Denn auch früher schon äußerten sich Historiker kritisch, was die Einschätzung von Friedrich als "verpasster Chance" angeht.

Er stand dem gemäßigten Flügel der Nationalliberalen nahe. Die wollten keine parlamentarische Monarchie; die Linksliberalen auch nicht.


Eine Frage konnte mir auch das Buch von Müller nicht beantworten (oder ich habe es überlesen): Warum hat Friedrich zugelassen, dass seine Ehefrau den späteren Wilhelm II als Kind so demütigte?

Wilhelm bekam ständig zu hören, wie dumm er eigentlich sei (sein verstorbener Bruder hätte sich anders verhalten). Das Kronprinzenpar bestimmte diesen Griesgram Hinzpeter zum Erzieher, der mit seiner pedantischen Art dem intelligenten, aber sprunghaften und unausgereiften Wilhelm nicht gut tat.

War der "liebe Fritz" wirklich so ein Menschenfreund? Und hat er sich in der Öffentlichkeit nicht selbst abfällig über seinen Sohn geäußert? Da war Wilhelm schon nassforsch-schneidig und fühlte sich in Uniform endlich als Mensch. Was er bei seinen Eltern wohl nicht sein konnte.
 
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Eine Bitte, da der Literaturstand und die Frage neuer Erkenntisse angesprochen war:

Könntet Ihr ein paar Empfehlungen über Frank Müller hinaus abgeben, die den Forschungsstand zur "verpassten Chance"/Friedrich III. abbilden?:winke:
 
Eine Bitte, da der Literaturstand und die Frage neuer Erkenntisse angesprochen war:

Könntet Ihr ein paar Empfehlungen über Frank Müller hinaus abgeben, die den Forschungsstand zur "verpassten Chance"/Friedrich III. abbilden?:winke:


Ich weiß nicht, ob man in Zusammenhang mit Friedrich III. überhaupt von verpassten Chancen sprechen kann. Aus seinem Tagebuch gehen merkwürdig wenig Informationen hinsichtlich seiner liberalen Gedanken und Ideen hervor.
Insgesamt darf die Regierungsfähigkeit Friedrichs III. in frage gestellt werden, zumindest wenn man die Zeitzeugen so hört.
Auch hatte er sich ja 1885 mit Bismarck engagiert gehabt und es war reichlich unwahrscheinlich das beispielsweise ein Lasker oder Roggenbach unter Bismarck im Kabinett saßen.

Leider kann ich über Müller und den jüngst erschienen und noch nicht publizierten Tagebüchern, die von Baumgart herausgegeben worden sind, keine weitere aktuelle Literaturempfehlung abgeben.
 
Meiner Meinung nach ist das Buch von James Sheehan über den deutschen Liberalismus immer noch unerreicht (soweit ich den Forschungsstand über den deutschen Liberalismus kenne).

Denn die "verpassten Chancen" hätten ja eine politische Kraft vorausgesetzt, die ein liberaler Monarch im Parlament gebraucht hätte. Es gab zu Beginn der achtziger Jahre noch einmal Versuche, die Spaltung des Liberalismus zu überwinden. Aber selbst wenn diese vereinte liberale Partei zustande gekommen wäre, hätte sie zwischen den Konservativen und der erstarkenden SPD wählen müssen. Die Liberalen hätten in einer parlamentarischen Monarchie einen Koalitionspartner gebraucht. Denn das Zentrum schied für sie als politischer Partner aus. Friedrich III war sogar dagegen, das Bismarck einige Gesetze aus der Zeit des "Kirchenkampfes" revidierte.

Viele Liberale standen den Konservativen näher als einer SPD, die sich unter dem Druck des Sozialistengesetzes radikalisiert hatte, ehe nach der Jahrhundertwende der Revisionismus allmählich die Partei veränderte.

Noh 1912, als sich die Sozialdemokraten bereits in der Praxis zu einer Partei der sozialen Reform entwickelt hatten, folgte nur ein Teil der linksliberalen Wähler den Stichwahlempfehlungen der Fortschrittlichen Volkspartei. Die Nationalliberalen standen der SPD eindeutig distanziert gegenüber.

Ich glaube, es bedurfte mehr als nur eines liberalen Kaisers, damit Deutschland sich zu einer parlamentarischen Monarchie entwickelt hätte.

Aber eines ist sicher: Es wäre ein Segen für Deutschland gewesen, wenn Friedrich III eher und vor allem als gesunder Mann den Thron bestiegen hätte.
 
Vor Jahren hatte ich mal die Biographie von Franz Herre "quer gelesen", aber ich meine, dass auch Herre sich da sehr zurückhaltend geäußert hat.

Meinem letzten Beitrag möchte ich etwas hinzufügen: Wilhelm I wollte ja 1862 zurücktreten, doch Bismarck, der als neuer Ministerpräsident vorgesehen war, überzeugte ihn davon, dass man die Militärreform gegen die linksliberale Parlamentsmehrheit durchsetzen könne.

Auch Friedrich unterstützte als Kronprinz die Neuorganisation der preußischen Armee. Ich würde dennoch die These formulieren, dass ein König Friedrich mit dem Parlament anders umgegangen wäre. Die Liberalen waren ja nicht im Prinzip gegen die Vergrößerung der Streitkräfte.

Möglicherweise hätte sich daraus eine andere Verfassungskultur als unter Bismarck entwickelt. Der zum Teil skrupellose Umgang Bismarcks mit den Parteien bis 1890, der den Parlamentarismus im Kaiserreich nachhaltig prägen sollte, wäre vielleicht nicht möglich gewesen.

Friedrich stand der Sozialdemokratie ziemlich verständnislos gegenüber. Aber er hätte wohl dazu tendiert, die SPD politisch zu bekämpfen und die Sozialdemokraten nicht zu kriminalisieren.

Aber hätte, wäre, wenn - kontrafaktisches Denken in der Geschichte hat seinen Reiz, aber auch seine Gefahren.
 
Aber eines ist sicher: Es wäre ein Segen für Deutschland gewesen, wenn Friedrich III eher und vor allem als gesunder Mann den Thron bestiegen hätte.

Warum ist das sicher? Glaubst du, das Friedrich das Reich liberalisiert und eine Stärkung des Reichstages zugelassen hätte? Ich habe da so meine Zweifel.

Friedrich stand unter der Kuratel seiner britischen Ehefrau Victoria und da sind dann schon durchaus Zweifel hinsichtlich der außenpolitischen Ausrichtung des Reiches unter einem Kaiser Friedrich angebracht, denn die britischen Interessen, waren nicht die des Deutschen Reiches. Großbritannien war ein Weltreich und das Deutsche Reich befand sich in direkten Nachbarschaft von drei europäischen Großmächten.

Das einzig Positive wäre gewesen, das ein Wilhelm II. möglichst lange verhindert worden wäre. Aber bei dessen Erziehung haben die Eltern ja auch nicht gerade überzeugt.
 
@Turgot

Wie ist es eigentlich mit Friedrich III. als Vater. In allen Bereichen wird er gefeiert, aber ohne dass ich bisher (leider) eine direkte Biographie gelesen habe, stufe ich ihn als Vater ein, welcher nicht imstande ist, jene Rolle gut auszuüben.
Wie wird also Friedrich III. in der Forschung (vllt. auch in seiner neuen Biographie) als Vater eingestuft?
 
Hab gerade das Büchlein über Wilhelm II. aus der Reihe C.H.Beck Wissen von John C.G.Röhl gelesen. Der lässt ja kein gutes Haar an Wilhelm II. Auch scheint seiner Meinung nach Wilhelm III. als Vater versagt zu haben, da die Erziehung seines Thronerbens weitestgehend seine Frau dominiert habe.
 
Die Erziehung ist eigentlich genaugenommen durch Victoria und Hinzpeter bestimmt worden. Der Kronprinz befand sich, wie fast immer, in Übereinstimmung mit seiner Ehefrau.

Die neue Biographie habe ich zwar schon, habe sie aber noch nicht gelesen.
 
Friedrich und Victoria machten aus ihrer Geringschätzung für den jungen Wilhelm keinen Hehl. Der Prinz entwickelte keine liberalen Anschauungen, sondern orientierte sich eher am konservativen Großvater.

Auch die Wahl des Erziehers sollte sich als schwerer Fehler erweisen. Dr. Georg Hinzpeter war ein staubtrockener Calvinist, der Lob wohl als pädagogischen Fehler betrachtete. Der junge Prinz musste ein umfangreiches Pensum absolvieren und machte auf einem Gymnasium in Kassel das Abitur - ganz so dumm, wie seine Eltern meinten, kann er also nicht gewesen sein.
 
Friedrich und Victoria machten aus ihrer Geringschätzung für den jungen Wilhelm keinen Hehl. Der Prinz entwickelte keine liberalen Anschauungen, sondern orientierte sich eher am konservativen Großvater.

Da hat ja auch Augusta ihr Finger mit im Spiel gehabt. nach dem diese nämlich erkennen musste, dass das Kronprinzenpaar für sie keine Verbündeten mehr waren, trug sie ihr Scherflein zur Entfremdung zwischen König und Kronprinz mit bei und gleichzeitig die Favorisierung von Prinz Wilhelm.
 
Die Chance, die Friedrich III darstellte, lag in seiner Person nicht in seiner Persönlichkeit, denke ich. Ob er als beeinflußbarer Charakter nun von seiner Frau oder doch eher von Bismarck (oder einem Dritten) beherrscht worden wäre, können wir nicht wissen.

Was wir wissen ist, dass die Politik und die gesellschaftliche Entwicklung unter Wilhelm II einen höhst unglücklichen Weg nahmen. Bei einer längeren Herrschaft Friedrich III hätte die Geschichte zwar nicht den gleichen Weg genommen, aber ob der Ausgang ein anderer gewesen wäre?

An der Grundproblematik, dass sich da in Mitteleuropa auf engen Raum, die damals militärisch und wirtschaftlich mächtigsten Staaten gegenüberlagen, die alle massive innere (bevölkerungspolitische, soziale, wirtschaftliche) Probleme hatten, hätte sich ja nichts geändert.
 
Eine versöhnlicher eingestellte, weniger geltungsbedürftige Persönlichkeit auf dem Thron hätte durchaus etwas ausmachen können und zur Deeskalation beitragen können. Darüber hinaus mag ich nicht gehen, das wäre mir zu spekulativ.
 
Ich habe die Biographie noch nicht gelesen und "kenne " Friedrich nur aus den Biographien anderer Familienmitglieder. Aber mein Eindruck von ihm war dabei immer, dass eben der Mangel an eigenständiger Persönlichkeit sein Problem war - bzw. das Problem, das andere mit ihm hatten.

Die Frage ist, in wie weit jemand, der von außen sehr beeinflußbar ist, einen Unterschied machen kann? Bei solchen Leuten kommt es immer darauf an, wer hinter ihnen steht. Und die Macht hinter dem Thron hätte, spätestens nach dem Tod Victorias (oder Bismarcks) durchaus von jemanden ausgeübt werden können, der ebenso militaristisch/nationalistisch gesinnt war wie Wilhelm II (wenn auch kaum so unklug und undiplomatisch).

Es ist ja schließlich nicht so, dass Wilhelm II mit seinen Ansichten in Preußen oder Deutschland allein da stand. Und wie gesagt: Die Grundproblematik, dass die führenden Militär- und Wirtschaftsmächte ihre Probleme und Diffenrenzen aus alter Gewohnheit meinten nur militärisch lösen zu können, hätte auch die Meinung/Erkenntnis, dass da auf dem deutschen Kaiserthron ein netter, umgänglicher Kerl sitzt nicht geändert.

Um das Deutsche Kaiserreich durch die politischen Untiefen dieser Zeit zu steuern, hätte es eine sehr kluge Persönlichkeit von Format gebraucht, bei der Zurückhaltung und Bescheidenheit eben auf diesen Eigenschaften hätten beruhen müssen und nicht auf Mittelmaß und Beeinflußbarkeit.
 
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