TOLERANZ in der Wilhelmischen Ära (1888-1918)

HMS63

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Guten Tag,

... ich hörte vor gut 2 Jahren mal von einem Brief Kaiser Wilhelm II der eine Reihe von antisemitischen Anspielungen enthielt. Sollte der Hinweis zutreffen müsste dieser inhaltlich sicherlich von Fachleuten gründlich analysiert worden sein.
Frage: gibt es einen derartigen Brief aus der Privatkorrespondenz des Monarchen wirklich ?

b) Die TV-DOKUS die ich kenne und auch andere Quellen zeigen ein relativ tolerantes Bild gegenüber Juden her. Das belegen auch die relativ vielen Freiwilligen Frontkämpfer judischer Herkunft im 1. Weltkrieg. Wenn man genau hinschaut dürfte es jedoch hier auch regionale Unterschiede gegeben haben. Dabei finde ich schon wissenswert ob die ausgeprägte Liberalität von BERLIN im Kaiserreich einzigartig war oder nicht. Auf jeden Fall stechen andere Landesprovinzen in der zeitgenössischen Literatur meines Wissens nicht wirklich als besonders tolerant hervor gegenüber der jüdischen Bevölkerung !
 
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Nun, die Toleranz, die man den Preußen nachsagt, gilt im Prinzip für das späte 17. und frühe 18. Jahrhundert, also etwa den "Großen Kurfürsten" Friedrich Wilhelm oder seinen Enkel, den "Soldatenkönig".

Was nun Wilhelm II. angeht, so stand der u.a. unter dem Einfluss des Hofpredigers Adolf Stoecker, der auch bekannt dafür ist, dass er die antisemitische Christlich-sociale Arbeiterpartei gründete und bei den Deutschkonservativen dem antisemitischen Flügel zur Macht verhalf.

Die Frage ist nun, wen die Antisemiten überhaupt als Juden wahrnahmen. Antisemitismus dürfte - da es sich um ein irrationales Gedankengebäude handelt - bei jedem Antisemiten anders ausgefallen sein. Antisemitismus konnte sich u.U. "nur" gegen die sogenannten "Kaftanjuden" richten, wohingegen er emanzipierte Juden, egal, ob sie als Konvertierte in die Kirche gingen, sich als Atheisten mit Glaubensdingen überhaupt nicht mehr beschäftigten oder der Synagoge treu waren, dulden oder gar ignorieren konnte, er konnte sich aber auch gegen alle Menschen jüdischer Herkunft richten - wie der nationalsozialistische Antisemitismus später. Im Prinzip basieren solche Gedankengebäude ja auf Angst durch Unkenntnis bzw. Fremdheitsgefühl, daher ist da eine ganze Bandbreite möglich.

Die vielen freiwilligen Frontkämpfer belegen nun nicht die Toleranz gegenüber den Juden, sie können sogar geradezu belegen, dass die Freiwilligkeit eine erzwungene Freiwilligkeit war. Nicht in dem Sinne, dass es von staatlicher Seite einen besonderen Druck hätte geben müssen, sondern in dem Sinne, dass die Juden sich ganz besonders der Notwendigkeit ausgesetzt sahen, ihre Staatstreue und Vaterlandsliebe unter Beweis zu stellen.
Dies müsste man aber empirisch anhand von nicht für die Öffentlichkeit gedachten erhaltenen Selbstzeugnissen überprüfen (wobei das sicher schon irgendwo geschehen ist).
 
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Die vielen freiwilligen Frontkämpfer jüdischen Glaubens resultierten aus dem antisemitischen Druck der Wilhelminischen Zeit, da hierin eine Chance zur gesellschaftlichen Akzeptanz gesehen wurde. Dazu sind von den jüdischen Gemeinden in diesem Sinne Aufrufe erfolgt.

Zu Wilhelms Antisemitismus, der sich erst nach der Absetzung wohl voll auswirkte, siehe hier:

Antisemitismus in Deutschland 1815- 1918 - Thomas Gräfe - Google Books

Dort insbesondere Kapitel "Forschungsüberblick"
 
Wie das Verhältnis Wilhelms II. zu den Juden war ist und wird wahrscheinlich nicht eindeutig geklärt. Soweit mir bekannt ist änderte sich seine hier schon erwähnte Beziehung zu dem antisemitischen Hofprediger Stoecker ziemlich abrupt nach der Thronbesteigung.
Hannah Arendt meinte dazu:

„So blieben nur die Juden übrig, der einzige Teil der Bevölkerung, der bereit war, den Nationalstaat in seinen Anfängen zu finanzieren und sein Schicksal mit der nationalstaatlichen Entwicklung im engeren Sinne zu verbinden. Der Nationalstaat seinerseits profitierte von den internationalen Verbindungen und dem internationalen Kredit, der den Juden zu einer Zeit offenstand, als noch niemand sonst von diesen Möglichkeiten eine reale Vorstellung hatte.“

Arendt Hannah: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, 14. Auflage 2011, S.: 62.

Wilhelm II. war also indirekt dazu gezwungen eventuelle antisemitische Ressentiments zurückzuhalten, da er zum Zeitpunkt der Thronbesteigung auf die Juden angewiesen war.

Aber auch danach sind noch antisemitische Zitate von ihm erhalten. So auch in einem Brief den er Mitte August 1927 an seinen amerikanischen Freund Pouitney Bigelow verfasste. Hier schrieb er: "Die Presse, die Juden und Mücken sind eine Pest, von der sich die Menschheit so oder so befreien muß - I believe the best would be gas."

Ausführlicher wurde das bei uns aber auch schon hier diskutiert. :winke:
 
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Im Ergebnis stimme ich dem Hinweis des wilhelminischen Antisemitismus zu.

Was Arendt da allerdings wirtschaftshistorisch zum Kaiserreich (Finanzierung, Profitieren, Internationale Verbindungen, Kreditmärkte, Möglichkeiten+Vorstellungen) von sich gibt, ist ziemlicher Unsinn.

In gewisser Perversität ist das selbst nicht weit vom antisemitischen Stammtischniveau entfernt.
 
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Was Arendt da allerdings wirtschaftshistorisch zum Kaiserreich (Finanzierung, Profitieren, Internationale Verbindungen, Kreditmärkte, Möglichkeiten+Vorstellungen) von sich gibt, ist ziemlicher Unsinn.

In gewisser Perversität ist selbst nicht weit vom antisemitischen Stammtischniveau entfernt.

Wieso? Jetzt wirklich in aller Unschuld.

Dass jüdische Gemeinden in Europa für Finanzierung und internationale Beziehungen benutzt wurden, hat doch einen soliden historischen Hintergrund - zumindest Teile der jüdischen Gemeinden waren doch traditionell spezialisiert auf Finanzen, weil dieses Segment lange Zeit von den Christen abgelehnt wurde und auch zumindest im Mittelalter nicht besonders relevant war. Die jüdischen Gemeinden generell waren darauf ausgelegt, mit anderen verstreute Gemeinden in aller Herren Länder zu kooperieren und Solidarität zu zeigen. Nicht zuletzt funktionierte doch spätestens das jüdische Finanzwesen der frühen Neuzeit erst über diese Voraussetzung koordinierter Gemeinden an vielen Orten. Wenn man sich die Mittelmeerkonflikte beispielsweise anschaut, ist das ist sehr gut belegt. Wenn Arendt sagt, dass da im wilhelminischen Reich ähnliche Strukturen eine Rolle spielten... wieso ist das automatisch wirtschaftshistorischer Unsinn? Wie ist es denn statt dessen?

Ich kann verstehen, wenn du sagst, dass du dich von diesem Ausschnitt, den der Korinther zitiert hat, an eine jüdische Weltverschwörung erinnert fühlst (die bösen Juden kontrollierten ja alles Geld im Hintergrund, muahaha et cetera) und die Aussage deswegen ablehnst; ich kann auch verstehen, wenn dir unwohl ist, weil Arendt einen Randaspekt zum Hauptaspekt macht, und dadurch die Verhältnisse falsch darstellt - oder wenn sie über die Juden völlig hinweggeht, die gar nicht in Gemeinden organisiert waren und darauf auch gar keine Lust hatten. Whatever, es gibt ja durchaus Gründe, über die man da reden kann. Aber ich weiß nicht, worauf sich deine doch ziemlich harsche Zurückweisung stützt, deswegen lässt mich dein Posting gerade etwas ratlos zurück.

Darf ich dich bitten, deine Ablehnung an diesem Punkt etwas genauer zu begründen und belegen? :still:
 
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Mache ich selbstverständlich, dauert aber etwas.:winke:

Vorab klarstellend, falls das verkürzt herüber gekommen ist: mein Ärger bezog sich nur auf Arendts ökonomischer Äußerung, der es an hinreichenden empirischen/ökonometrisch akzeptablen Grundlagen mangelt (wie übrigens für vieles dieser Epoche, was die Deutlichkeit noch unverständlicher macht). Ich kann mir das nur als Wahrnehmung und Wiedergabe älter Standpunkte erklären, die in dieser Schärfe mit der s.g. "Börsen- und Gründerkrise" ihren Anfang nahmen bzw. Verfestigung fanden.
 
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... Wenn Arendt sagt, dass da im wilhelminischen Reich ähnliche Strukturen eine Rolle spielten... wieso ist das automatisch wirtschaftshistorischer Unsinn? Wie ist es denn statt dessen?

...

@Dog Soup

Vorab ein polemische Frage, hatten in der Epoche von der wir sprechen z.B. Privatbankiers noch evidenten Einfluß auf die wirtschaftliche Entwicklung inkl. deren Finanzierung oder übernahmen nicht vielmehr Kapitalgesellschaften in Industrie und Finanzwesen diese Funktion?

Das "von Bleichröder-Argumentarium" mag ich nicht auf die wirtschaftshistorische Entwicklung im UZ gelten lassen.

Nächste polemische Frage, war es im UZ noch wichtig, Korrespondenzbeziehungen auf Gemeindeebene zu führen, ich meine nein.

Ich möchte und kann keine "Statistikschlacht" führen, also z.B. Religionszugehörigkeit in Korrelation zur Berufsgruppe etc., zumal diese statistischen Werte sowieso angreifbar sind, da sie über Netzwerke nichts aussagen können.

Bleiben wir also im Detail.

Die Deutsche Bank, deren wirtschaftshistorischer Einfluß im UZ kaum strittig sein dürfte, war durchaus nicht von Vorstandsmitgliedern dominiert, die der jüdischen Religion angehörten.

Vergl.: Lothar Gall et all, Die Deutsche Bank, C.H. Beck 1995, S. 1011ff.

Vielmehr war die Machtpartizipation unabhängig innerhalb der Bank von der Religionszugehörigkeit.

Vergl.:

Georg Solmssen ? Wikipedia

Zurück. Natürlich gab es Antisemitismus im UZ z.B. nahmen bestimmte Regimenter keine Offiziersaspiranten auf, die eine jüdische Religionszugehörigkeit hatten, aber dieses gleichsam auf alle soziologischen Schichten zu extrapolieren, ist m.E. nicht korrekt.

M. :winke:
 
Vorab ein polemische Frage, hatten in der Epoche von der wir sprechen z.B. Privatbankiers noch evidenten Einfluß auf die wirtschaftliche Entwicklung inkl. deren Finanzierung oder übernahmen nicht vielmehr Kapitalgesellschaften in Industrie und Finanzwesen diese Funktion?

Das ist natürlich wirklich ein guter Punkt, der mir einleuchtet. Was ich von jüdischen Finanznetzwerken weiß, bezieht sich tatsächlich vor allem auf Netzwerke, die ihren grundsätzlichen Charakter vom Mittelalter geerbt haben. Aber du hast recht, spätestens seit dem 19. Jahrhundert war die Blütezeit der Privatbankiers ja zugunsten von Kapitalgesellschaften vorbei. Dass dieser Übergang in der wilhelminischen Zeit sogar stark gefördert worden ist, kann ich mir auch vorstellen. Immerhin war die Kapitalgesellschaft ein Konstrukt, das sich direkt aus dem Kolonialismus ergab - England war großer Vorreiter. Und Wilhelm II war ja nicht nur England-Fan sondern auch derjenige, der den deutschen Kolonialismus vorangetrieben hat. Gut möglich, dass sich das auch im Wirtschaftssystem widergespiegelt haben könnte.
 
b) Die TV-DOKUS die ich kenne und auch andere Quellen zeigen ein relativ tolerantes Bild gegenüber Juden her. Das belegen auch die relativ vielen Freiwilligen Frontkämpfer judischer Herkunft im 1. Weltkrieg. Wenn man genau hinschaut dürfte es jedoch hier auch regionale Unterschiede gegeben haben. Dabei finde ich schon wissenswert ob die ausgeprägte Liberalität von BERLIN im Kaiserreich einzigartig war oder nicht. Auf jeden Fall stechen andere Landesprovinzen in der zeitgenössischen Literatur meines Wissens nicht wirklich als besonders tolerant hervor gegenüber der jüdischen Bevölkerung !

Eine regional spezifische Spielart des Antisemtismus war der "Bäder-Antisemitismus". Bereits Ende des 19. Jahrhunderts erkärten sich einige deutsche Seebäder für "judenfrei".

Bäder-Antisemitismus ? Wikipedia

Die große Zahl der jüdischen Kriegsfreiwilligen im Ersten Weltkrieg läßt sich natürlich durch das Bemühen erklären, durch besonders patriotisches Verhalten das antisemitische Vorurteil vom "wurzellosen" Juden zu widerlegen. Auch auf Seiten der Sozialdemokraten glaubte man ja, mit der Unterstützung des Krieges das Odium der "vaterlandslosen Gesellen" ablegen zu können. Um so niederschmetternder für die jüdischen Freiwilligen war deshalb auch die im Herbst 1916 angeordnete "Judenzählung" im deutschen Heer:

Judenzählung ? Wikipedia
 
Das ist natürlich wirklich ein guter Punkt, der mir einleuchtet. Was ich von jüdischen Finanznetzwerken weiß, bezieht sich tatsächlich vor allem auf Netzwerke, die ihren grundsätzlichen Charakter vom Mittelalter geerbt haben. Aber du hast recht, spätestens seit dem 19. Jahrhundert war die Blütezeit der Privatbankiers ja zugunsten von Kapitalgesellschaften vorbei. Dass dieser Übergang in der wilhelminischen Zeit sogar stark gefördert worden ist, kann ich mir auch vorstellen. Immerhin war die Kapitalgesellschaft ein Konstrukt, das sich direkt aus dem Kolonialismus ergab - England war großer Vorreiter. Und Wilhelm II war ja nicht nur England-Fan sondern auch derjenige, der den deutschen Kolonialismus vorangetrieben hat. Gut möglich, dass sich das auch im Wirtschaftssystem widergespiegelt haben könnte.

Hallo DogSoup,

deswegen hatte ich oben den Hinweis auf die Börsenkrise gegeben. Im Nachgang schwappte der Antisemistismus genau mit diesem Klischee hoch. Wenn Du Literatur zu Wirtschaftskrisen 1890/1914 liest, wird der Zusammenhang hergestellt (der in keiner Fachpublikation empirisch nachgewiesen ist).
 
Hallo DogSoup,

deswegen hatte ich oben den Hinweis auf die Börsenkrise gegeben. Im Nachgang schwappte der Antisemistismus genau mit diesem Klischee hoch. Wenn Du Literatur zu Wirtschaftskrisen 1890/1914 liest, wird der Zusammenhang hergestellt (der in keiner Fachpublikation empirisch nachgewiesen ist).

Irgendwie muss ich momentan etwas langsam sein... welches Klischee genau? Dass die Juden sich bereichern? Aber woran genau, am Zusammenbruch der Börse?

Ich verstehe schon, dass der Einfluss von Privatbankiers zugunsten von Kapitalgesellschaften runtergegangen ist. Aber mir ist noch nicht ganz klar, wo genau das Klischee einen parallelen Zusammenhang herstellt.
 
Die Gründer - und Börsenkrise wurde selbst in Forschungsarbeiten, vermutlich aufgrund von einzelnen Fällen, auch auf angebliche jüdische Finanzmacht und Spekulantentum zurückgeführt. Das ist mir aus dem Lesen der älteren "Krisenliteratur" bekannt.

Wie oben schon ausgeführt, gibt es keine seriöse empirische Studie über angeblich "jüdisches Kapital" im Deutschen Reich, oder über entsprechende Anteile an Inlandsinvestitionen, Refinanzierung de Staatsausgaben, Anteile an der Marktkapitalisierung einerseits und Fremdfinanzierung andererseits von Sektoren wie Banken, Versicherungen, Eisenbahn, Chemie, Werften, Stahl, Kohle, Maschinenbau, etc. etc.

Das ist auf Basis der verfügbaren empirischen Daten auch überhaupt nicht darstellbar, selbst man entsprechend "beherrschte" Unternehmen "einsortieren" könnte. Insbesondere bei den Kapitalmarkt- und Kreditmarktdaten ist es äußerst dünn.

Abgesehen davon wies Melchior richtig darauf hin, dass eine Einsortierung von Kapitalmarktunternehmen nach Mitgliedern jüdischen Glaubens in den Führungsorganen bzw. ihrem Anteil am Organ insgesamt wenig seriös ist. Tatsächlich lassen sich solche Perzeptionen allerdings zeitgenössisch finden (ebenso wie zB beim "Einsortieren" von Zeitungen). Arendts Mutmaßungen sind vermutlich auf diese Perzeptionen zurückzuführen, jedenfalls nicht auf seriöse Studien.

In der Auseinandersetzung mit der Gründer- und Börsenkrise (wieder bzgl. der Perzeptionen etwa 1890 bis 1933 - die reale Krise ist in neuerer Literatur durchaus nicht unumstritten in der Betrachtung) liegt mE ein erster scharfer Anstieg des Antisemitismus im Deutschen Reich. Man fand Sündenböcke.

P.S. Noch ein Hinweis zu den Kapitalgesellschaften: deren Entwicklung würde ich nicht unbedingt nur zum Kolonialismus in Verbindung setzen, sondern zum investitionsbedingten Kapitalbedarf im Zuge der Industrialisierung.
 
...

(der in keiner Fachpublikation empirisch nachgewiesen ist).

@silesia

Genau das ist das Problem. Das es Antisemitismus gab ist m.E. unbestreitbar, Beispiele dafür können noch und nöcher aufgelistet werden, michaell hat zwei ausdrucksstarke Beispiele für das Ende des UZ angeführt.

Juristisch war die Emanzipation der Angehörigen der jüdischen Religion abgeschlossen. Nur waren sie gesellschaftlich emanzipiert, dieses Faktum entzieht sich der genauen empirischen Analyse. Es gab keine "judenfeindlichen" Gesetze, wohl aber "judenfeindliche" gesellschaftliche Konventionen. Was dann bleibt sind Beispielaufzählungen und vage statistische Korrelationen und Verweise auf literarischen, philosophischen, politischen oder journalistischen Antisemitismus.

Beispiel: Theoretisch konnte jeder Abiturient Offizier in jedem Regiment werden, tatsächlich wird man eine Unterrepräsentanz von jüdischen Offizieren in Garderegimentern konstatieren müssen, weil sie sich als Offiziersaspirant nicht bewarben (?) oder weil sie sich einer offenen Ablehnung bei einer Bewerbung nicht aussetzen wollten? Das ist m.E. eine empirische Grauzone, die kaum erhellbar ist.

M.
 
Beispielaufzählungen und vage statistische Korrelationen und Verweise auf literarischen, philosophischen, politischen oder journalistischen Antisemitismus.

... und vulgärökonomische Hypothesen (Lieblingszitat eines akademischen Lehrers :devil: ) über den Umfang angeblich "jüdischer Anteile" an Finanzmärkten, Krisen, usw., hier bezogen auf das Kaiserreich :winke:

Ich bin da ganz bei Dir, davon die zeitgenössischen Wahrnehmungen sauber zu trennen. Das habe ich auch mehrfach angeführt.
 
Der Hinweis auf den mit der Börsen- und Gründerkrise verbundenen Antisemitismus muss in einen weiteren Kontext gestellt werden.

Der "akademische Illiberalismus" des Kaiserreichs entstand mit gravierenden gesellschaftlichen Umschichtungen. Parallel zum starken Bevölkerungsanstieg des 19. Jahrhunderts in Deutschland entwickelten sich auch die Universitäten und damit die Studentenzahlen. Bei schichtsweise Betrachtungen wird auf die Speisung dieses Anstiegs aus dem Bürgertum, insbesondere auch aus den unteren bürgerlichen Schichten verwiesen. Zugespitzt entwickelte sich eine Krise der akademischen Bildung vor dem Hintergrund der gestiegenen sozialen Mobilität. Das Tempo der Akademisierung überstieg in der zweiten Hälfte des 19. Jhdts. schließlich auch das Bevölkerungswachstum. Aus dem marginalen "Stand der Gebildeten" entwickelte sich ein Bildungsbürgertum.

Das "Kleinbürgertum" spielte dabei eine besondere Rolle, bei der Speisung des Akademikerwachstums kam ihm die Rolle einer "Reservearmee" zu. Die Arbeiterschaft nahm an dieser Entwicklung nur geringfügig teil.

Diese gesellschaftlichen Entwicklungen im Bildungsbereich änderten zunächst kaum etwas am sozialen Prestige der Gebildeten. Gleichzeitig fand aber eine Radikalisierung statt, die mit dem Schlagwort oben "Akademische Illiberalität" verbunden werden kann, und die auf weitere zeitgenössische Strömungen wie die Kapitalismuskritik traf. Die erste große Wirtschaftskrise des Kaiserreichs wirkte sich hierauf aus, es tauchten Begriffe wie "akademisches Proletariat" auf. Für den akademischen Arbeitsmarkt sind entsprechende Krisen analysiert worden, neu war hierbei die massive Wirkung aufgrund der gestiegenen Akademikerzahlen. Die verschlechterten Aussichten im Freiberuflertum und den staatlichen Stellen verbanden sich mit einem Andrang zu den wissenschaftlichen Laufbahnen. Dieses Generationenschicksal wurde sehr deutlich in den Studentenschaften wahrgenommen, und kann sicher im Kontext mit der steigenden Illiberalität gesehen werden.

Älterer Antisemitismus traf nun mit Statusängsten und Mentalitätswandel zusammen, was sich zB in scharfen Angriffen auf jüdische Studenten zeigte. Das ist eigentlich nur eine Ausprägung des schichtweisen Bildungsprotektionismus, wobei akademikerseitig ebenso scharfe Angriffe auf das "Bildungsproletariat des Kleinbürgertums" gefahren wurden. Der ansteigende deutschbezogene=antisemitische Wirtschaftsprotektionismus fand ein Ventil in zahlreichen Schriften, in denen die krisenhaften wirtschaftlichen Entwicklungen jüdischen Kreisen zugeschoben wurde. Natürlich fanden sich dafür auch "wissenschaftliche" Schriften, die diese "Krisenursachen" belegten. Die behauptete "jüdische Konkurrenz" erstreckte sich so von der Akademikerfrage, über die wissenschaftlichen Laufbahnen und Freiberufler-Arbeitsplätze, und wurde auf die gesamte Binnenwirtschaft übertragen.

Dabei verschwammen ökonomische Realitäten mit antisemitischen Phobien und verzerrten Prognosen. Belegen läßt sich das bis in die spätere imperialistische Hochkonjunktur des Kaiserreichs hinein für die Analyse des Akademikerbereiches, bei dem die Anteile mit jüdischem Glauben an den Gesamtzahlen sogar sanken - sich das "Problem" in dem Sinne also relativierte (gleichwohl zB Akademikeranteile innerhalb der Bevölkerungsgruppe jüdischen Glaubens relativ stiegen). An den allgemeinen Wahrnehmungen änderte das freilich nichts. Eine parallele sinkende Entwicklung - Anteile an der Binnenwirtschaft, an den Binnen-Finanzmärkten des Kaiserreichs mit wie immer unterstelltem "jüdischen Einfluss" - kann man vermutlich unterstellen, bzw. ist dieses aufgrund des Wachstums der deutschen Wirtschaft bis 1914 nahezu evident.

Im wirtschaftlichen Bereich wurden nun der "jüdische finanzielle Einfluss" auf das Kaiserreich verschärft beklagt, mit dem bezeichneten protektionistischen und ängstebezogenen Hintergrund. "Entartungen wie der Gründerwahn", Spekulationswut, "Wucher- und Schieberkniffe" des angeblich "jüdischen Finanzkapitals" wurden zunächst eng mit der Depression verknüpft, sie sollten die Entstehung dieser Krise des neuen, "starken" Deutschlands erkären, und sie erwiesen sich dann zementiert als Faktenwissen in der Phase der imperialen/imperialistischen Hochkonjunktur. Diese Hochkonjunktur brachte also keine Entspannung des Antisemitismus. Das Konstrukt der Krisenerklärung überlebte so die Krise selbst, und verselbständigte und verfestigte sich darüber hinaus.

Der "akademische" und der "ökonomische" Antisemitismus im Kaiserreich sind nach meiner Auffassung eng miteinander verknüpft. Vielleicht wird so besser deutlich, weshalb ich die Übernahme solcher ökonomischen Legenden (die Ausprägungen eines akademischen Illiberalismus darstellen, und eher einer Gerüchteküche und Vorurteilen entsprangen) durch Arendt scharf ablehne.
 
Der nun noch offengebliebene Punkt betrifft den wirtschaftshistorischen Streit um das s.g. "Finanzkapital" (-> z.B. Hilferdings Thesen), die "Macht der Banken" im Kaiserreich, die Verknüpfung der Kapitalismusdebatte der klassischen Nationalökonomie bis Marx mit antisemitischen Tendenzen, den selbst anhand markanter Konstellationen wie zB Mannesmann/Deutsche Bank nicht bislang geführten empirischen Nachweis der Beherrschung bzw. Monopolisierung bzw. Kartellisierung durch das "Finanzkapital" im Sinne Hilferdings.

Hier liegt ein Schlüsselproblem, dass in Verbindung mit den aufgezeigten antisemitischen Tendenzen in Bildungsbürgertum und Wissenschaft die Wahrnehmung des angeblichen Einflusses von Unternehmern jüdischen Glaubens beförderte.
 
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Ich möchte hinsichtlich der Toleranz- und Antisemitismusdebatte zu Wilhelm II. auch mal ein paar Worte verlieren:


Den Bau der Synagoge in der Fasanenstr. in Berlin förderte der Kaiser persönlich, er ließ für den Innenraum sogar Kunstwerke in seiner Majolika-Manufaktor in Cadinen fertigen. Bei der Eröffnung 1912 nahm er als Ehrengast teil. Leider ist dieses Puzzleteil heutzutage nahezu vergessen, ebenso das es in der kaiserl. Armee während des 1. Weltkriegs Feldrabbiner gab, also jüdische Militärseelsorger.


Anlässlich eines dem Kronprinzen zugesandten Verfassungsentwurfs mit starken antisemitischen Tendenzen und der Vorstellung, die Juden sollten aus dem Deutschen Reich vertrieben werden, äußerte der Kaiser mit Verachtung: „Wir würden unserem Nationalwohlstand und Erwerbsleben einen Schlag versetzen, der uns auf den Zustand vor 100 Jahren zurückwerfen und zugleich aus der Reihe der Kulturnationen ausscheiden würde.“ Aus: Tyler Whittle: Kaiser Wilhelm II., S. 297

Im Sommer 1916 ging Wilhelm II. entschlossen gegen die sogenannte "Judenzählung" in Teilen des deutschen Heeres vor, mit der die angebliche "jüdische Drückebergerei" nachgwiesen werden sollte.
Als Reaktion Wilhelms II. auf die Reichspogromnacht am 9. November 1938 sprach er von „Schande“, von „Gangstertum“ und erklärte, „die alten Offiziere und alle anständigen Deutschen müssten dagegen protestieren“. Er resümierte „zum ersten Mal in meinem Leben habe ich mich geschämt, ein Deutscher zu sein“. Aus: Christian von Krockow: Kaiser Wilhelm II. und seine Zeit, S. 263

Flügeladjutant Sigurd von Ilsemann hielt diesen Kommentar des Kaisers zur Reichspogromnacht fest:
„Es ist ja eine Schande, was da jetzt zu Hause vor sich geht. Jetzt wird es höchste Zeit, dass die Armee eingreift, viel hat sie sich gefallen lassen, dies darf sie unter keinen Umständen mitmachen, da müssen die alten Offiziere und alle anständigen Deutschen protestieren. Aber alle sahen dieses Morden und Brennen – und rührten keinen Finger.“
Aus: Sigurd von Ilsemann - Der Kaiser in Holland

Folgendes habe ich in der Chronik des Ortes Wallerfangen im Saarland gefunden: Es war etwas Besonderes, als am 24. Februar 1893 für die jüdische Gemeinde in Wallerfangen bei Saarlouis eine von Christen errichtete Synagoge „im Schutz seiner Majestät Kaiser Wilhelm II.“ eingeweiht wurde. Der Porzellanhersteller Villeroy & Boch hatte den Bau des Gotteshauses angeboten, um im Gegenzug das Terrain der bisherigen Synagoge zur Firmenerweiterung verwenden zu können. Die alte Synagoge war bereits leicht baufällig und so willigte man gerne in das Angebot des Weltunternehmens ein. Der Wallerfanger Bürgermeister René von Boch-Galhau eröffnete die Synagoge und überbrachte der Gemeinde dabei auch die Segenswünsche des Kaisers. Die Christen aus der Ortschaft verschönerten den Festtag mit Fahnenschmuck, Fackelzügen und einem beeindruckenden Feuerwerk.

1907 machte der Kaiser den Juden Bernhard Dernburg (1865-1937), den Leiter der Darmstädter Bank, zum Direktor des Kolonialamtes. Der Kaiser mochte den energischen Mann, der es verstand, eine von Aktenstaub freie Luft in das Amt zu bringen, auch wenn dieser sich in höfischer Sitte bisweilen unerfahren zeigte. Diese Ernennung empfanden weite Kreise in Deutschland als einen Affront, auch bei seinem ersten Auftritt vor dem Reichstag stieß Dernburg auf heftige Opposition. Er aber verstand es, durch seine Leistung nach kurzer Zeit allgemeine Achtung zu gewinnen.
 
Und was sollen diese Passagen, darunter Einzelangaben aus dem engen persönlichen Umfeld des Monarchen oder nachträgliche Berichterstattungen, belegen?

ElQ hat oben die treffende Frage angemerkt, wer überhaupt im Feindbild des breiten Antisemitismus wahrgenommen wurde. Die Grundhaltung schließt Ausnahmen, auch im persönlichen Umfeld, nicht aus.
 
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