Zitate zur Reichsgründung (1871) - wer kennt weitere? - wie sind diese zu beurteilen?

Gandolf

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Am 18.01.1871 wurde in Versailles das Deutsche Reich gegründet. Interessant ist wie die Zeitgenossen diesen Vorgang beurteilt haben:​

Die Briten beurteilten die Reichsgründung zum Teil wohlwollend, zum Teil skeptisch und einzelne Stimmen stark ablehnend:

  • James Bryce, englischer Historiker, in: „Das Heilige Römische Reich“, Vorwort zur 1873 erschienen Auflage: „dass trotz aller voreiligen und einfältigen Äußerungen eines gewissen Teiles der englischen Presse, die Erfolge, welche Deutschland in jüngster Zeit durch die Erlangung seiner staatlichen Einheit, die Wiedererwerbung lange verlorener Provinzen, die Züchtigung einer Nation und Herscherfamilie, welche die ewigen Ruhestörer des europäischen Friedens waren, errungen hat, von dem größten Teil der Engländer, deren Kenntnis der kontinentalen Geschichte der letzten vier Jahrhunderte ihrem Urteil einen besonderen Wert verleiht, mit richtiger Teilnahme und Freude verfolgt worden sind.“
  • Londoner Times, 07.09.1876, im Hinblick auf das Deutsche Reich: „Wir stehen unter dem Eindruck, dass eine ungeheure Macht, die sich zum Guten oder zum Bösen entwickeln kann, einigermaßen plötzlich in unserer Mitte aufgetaucht ist, und daher bemühen wir uns mit interessierter Aufmerksamkeit darum, ihren Charakter und ihre Absichten auszumachen.“
  • Benjamin Disraeli, führender Repräsentant der englischen Konservativen, äusserte sich allerdings sehr kritisch zur Reichsgründung. Dieser lehnte bereits im April 1848 vor dem Unterhaus die Reichsgründung mit den Worten ab, man müsse den Anfängen der Befreiungspolitik der Deutschen – „that dreamy and dangerous nonsense called >German nationality<“ im Interesse des europäischen Friedens widerstehen. Am 09.02.1871 äusserte er sich vor dem Unterhaus zur Reichsgründung wie folgt: Der Ausgang des deutsch-französischen Krieges und die Entstehung des neuen Nationalstaates, „die deutsche Revolution, (ist) ein größeres politisches Ereignis als die französische Revolution des vergangenen Jahrhunderts“. „Das Gleichgewicht der Macht (ist) völlig zerstört und das Land, welches am meisten darunter leidet und die Wirkungen dieser großen Veränderungen am meisten spürt, (ist) England.“
Die Deutschen taumelten zwischen Glück und Extase:

  • Heinrich von Sybel, Historiker, Brief vom 27.01.1871 an seinen Freund Hermann Baumgarten: „Woher soll man in meinen Lebensjahren noch einen neuen Inhalt für das weitere Leben nehmen?“
  • Deutscher Reichstag, gab seiner Empfindung „der Zufriedenheit Deutschlands" zum Ausdruck, "der Sicherheit Europas“ habe „die Einheit des deutschen Reiches gefehlt“.
  • Joseph Edmund Jörg, konservativer Publizist und Begründer der bayerischen Patriotenpartei: Deutschland könne sich „als noch unvollendeter Nationalstaat seiner Natur nach keinerlei Grenzen ziehen lassen durch bindende Verträge. Es muss sich vielmehr vorbehalten, bei nächster Gelegenheit auch noch die außen stehenden Teile deutscher Nationalität in seinen Rahmen einzubeziehen.“
Friedrich Nietzsche sagte einmal, dass „ein goßer Sieg...(bedeutet)... eine große Gefahr“ und die „menschliche Natur ... ihn schwerer als eine Niederlage“ erträgt. Auch sagte er die „Exstirpation des deutschen Geistes zugunsten des >deutschen Reiches<“ voraus.​

Wer kennt weitere Zitate?

Wie sind diese Empfindungen, Einschätzungen, Beurteilungen aus heutiger Sicht zu bewerten?
 
Johannes Brahms: "Die beiden größten Ereignisse meines Lebens waren die Gründung des Deutschen Kaiserreichs und die endliche Vollendung der Arbeit der Bachgesellschaft (an der Gesamtausgabe der Werke J.S.Bachs)."

(ohne Bewertung)
 
Er hat ja auch mit dem Kaiser Wilhelm I. gewidmeten Triumphlied op. 55 eine schöne Komposition abgeliefert.
Der Widmungsträger bezeichnete übrigens den pompösen Proklamationstag als den unglücklichsten Tag seines Lebens.
 
Gandolf schrieb:
Benjamin Disraeli, führender Repräsentant der englischen Konservativen, äusserte sich allerdings sehr kritisch zur Reichsgründung. Dieser lehnte bereits im April 1848 vor dem Unterhaus die Reichsgründung mit den Worten ab, man müsse den Anfängen der Befreiungspolitik der Deutschen – „that dreamy and dangerous nonsense called >German nationality<“ im Interesse des europäischen Friedens widerstehen. Am 09.02.1871 äusserte er sich vor dem Unterhaus zur Reichsgründung wie folgt: Der Ausgang des deutsch-französischen Krieges und die Entstehung des neuen Nationalstaates, „die deutsche Revolution, (ist) ein größeres politisches Ereignis als die französische Revolution des vergangenen Jahrhunderts“. „Das Gleichgewicht der Macht (ist) völlig zerstört und das Land, welches am meisten darunter leidet und die Wirkungen dieser großen Veränderungen am meisten spürt, (ist) England.“
Interessant ist, dass der Gegner der deutschen Einigung Disraeli während seiner Amtszeit als britischer Premierminister (1876-1880) Bismarcks Politik schätzen lernte. Zwischen den beiden stimmte die "Chemie". Auf dem Berliner Kongreß (1878) - also bevor es zum Zweibund kam - unterbreitete Bismarck Disraeli ein Bündnisangebot.

"Der überraschte Disraeli sagte, dass er dem Plan gewogen sei, aber Zeit benötige, um das Parlament und die britische öffentliche Meinung vorzubereiten. Nach seiner Rückkehr nach London diskutierte Disraeli die Angelegenheit mit dem Grafen Münster, dem deutschen Botschafter, der daraufhin an Bismarck schrieb; >> Ich bin überzeugt, dass er aufrichtig ist.<<" (zitiert nach Robert K. Massie, Die Schalen des Zorns, 1998, S. 112).

Die Bündnisverhandlungen scheiterten erst, als Disraeli 1880 die Unterhauswahl verlor und der liberale Politiker Gladstone an die Macht kam. Bismarck verabscheute Gladstone.
 
Das gilt auch für Lord Salisbury, der zunächst auch kein Freund der deutschen Einheit war. Von ihm ist, nach Bismarcks Entlassung, die Aussage überliefert, das er den Scharfsinn des alte Mannes vermisse.
 
Gandolf schrieb:
Benjamin Disraeli, führender Repräsentant der englischen Konservativen, äusserte sich allerdings sehr kritisch zur Reichsgründung. Dieser lehnte bereits im April 1848 vor dem Unterhaus die Reichsgründung mit den Worten ab, man müsse den Anfängen der Befreiungspolitik der Deutschen – „that dreamy and dangerous nonsense called >German nationality<“ im Interesse des europäischen Friedens widerstehen. Am 09.02.1871 äusserte er sich vor dem Unterhaus zur Reichsgründung wie folgt: Der Ausgang des deutsch-französischen Krieges und die Entstehung des neuen Nationalstaates, „die deutsche Revolution, (ist) ein größeres politisches Ereignis als die französische Revolution des vergangenen Jahrhunderts“. „Das Gleichgewicht der Macht (ist) völlig zerstört und das Land, welches am meisten darunter leidet und die Wirkungen dieser großen Veränderungen am meisten spürt, (ist) England.“

Diese Rede von Disraeli, der spätere Lord Beaconsfield, war innenpolitisch motivierte und darf deshalb auch nicht so ernstgenommen werden. Disraeli ging es in erster Linie darum dem Premier Gladstone außenpolitischen Inkompetenz vorzuwerfen.
 
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