Definitionen von Volk, Staat und Nation

hagen

Neues Mitglied
Für eine fruchtare Diskussion braucht man zunächst eine Begriffsbestimmung. Daher meine Frage: Was sind allgemeingültige Definitionen der Größen Volk, Staat und Nation? Am Rande von Diskussionen zu anderen Themen wurde dies bereits hier und da angesprochen, allerdings ohne eindeutiges Ergebnis.
Ich habe diese Frage bewusst in diesem Themenbereich gestellt, weil es hier ja um Nationalstaaten geht.
 
Die Kategorie "Volk" zu definieren, fällt mir schwer, deshalb hier nur ein Versuch zu den zwei anderen Begriffen.

Staat:
Der Staat ist ein politisches Gebilde, das - darüber herrscht in der heutigen Politikwissenschaft so weit ich das sehe Konsens - aus drei notwendigen Elementen besteht:
1. ein fest abgegrenztes Territorium
2. eine darauf lebende Bevölkerung
3. ein zu verbindlichen Entscheidungen fähiges Ensemble politischer Institutionen; in diesen Bereich gehören auch die sog. Erfüllungs- und Erzwingungsstäbe: Verwaltung, Diplomatie, Militär


Nation:
Eine Nation ist eine größere Gruppe von Menschen, die aufgrund von gemeinsamer Sprache, Geschichte, Traditionen, Kultur und Mythen eine Vorstellung (vgl. Andersons Diktum von den "imagined communities") der Zusammengehörigkeit entwickelt haben. In den älteren Nationen-Diskursen wurde bisweilen die Ansicht vertreten, dass Nationen jenseits konkreter historischer Situationen über eine gewissermaßen metaphysische Existenz verfügen und jeder Nation ein ihr jeweils besonderer Nationalcharakter zukommt. Diese beiden Annahmen sind aber theoretisch meiner Meinunug nach kaum zu rechtfertigen, empirisch sowieso nicht.

Zum Verhältnis von Nation und Staat ließe sich sagen, dass sie bisweilen zur Deckung kommen können - oder auch nicht. Während Deutschland im 19. Jahrhundert etwa in zahlreiche kleine Staaten gegliedert war, hingen einige Bewohner dieser Staaten einem Gefühl deutscher kulturnationaler Zusammengehörigkeit an (wieviele waren es?). Umgekehrt kann es Staaten geben, die als politische Organisationsrahmen mehrere Gruppen mit je eigenem Nationalbewusstsein umfassen, etwa das Habsburgerreich.

Wale
 
Dann beginn doch mal.
Dann mache ich mal einen Anfang:
Volk: Hier gibt es zwei Definitionsmöglichkeiten. 1. Summe aller Bürger eines Gemeinwesens mit gleichen Rechten und Pflichten (Staatsvolk). 2. Summe aller schicksalhaft verbundenen Menschen gleicher Abstammug, gemeinsamer Geschichte und Kultur (Ethnie). "Bevölkerung" hingegen umfasst alle Menschen, die in einem Gemeinwesen leben, unabhängig ihrer Rechte und Pflichten.

Staat: Klar abgrenzbares Gemeinwesen mit definierten Hoheitsrechten.

Nation: Eine Schnittmenge aus Ethnie und entsprechender Staaten unter Bezugnahme einer metaphysischen Komponente (etwa "Reichsmythos").
 
Definition Nation:

"Als Arbeitsdefiniton zur Erleichterung des Einstiegs in die Sachprolbematik und in die inzwischen schier unübersichtlich gewordene Literatur zur Nation usw. bieten sich nach wie vor lakonische Setzungen von Karl W. Deutsch an, der Volk als Personengruppe mit komplementären Kommunikationsgwohnheiten beschreibt und Nation als ein Volk, das die Kontrolle über einige Institutionen gesellschaftlichen Zwangs gewonnen hat, was schliesslich zu einem voll ausgebildeten Nationalstaat führen kann." (Wörterbuch Staat und Politik von Dieter Nohlen)

"Der Begriff Nation hat eine längere und wechselvolle Geschichte. Er verdichtete sich in der Neuzeit zu einer Idee, welche auf die sozio-kulturelle oder politisch begründete Gemeinschaft eines Volkes verwies". (Der moderne Staat von Dr. Artuhr Benz)

Die Idee der Nation und ihre Verbindung mit dem Staat entwickelte sich im 18. und 19. Jahrhundert. Der Nationalstaat war ein Produkt des Modernisierungsprozess. Mit dem Niedergang traditionaler Legitimationsgrundlagen, dem Umbruch der alten Herrschaftsordnung des Ancien Régime, der Modalisierung breiter Bevölkerungsgruppen, die Teilhabe an der staatlichen Machtausübung einforderten, und schliesslich mit dem ökonomischen uns sozialen Umwälzungen der Industrialisierung wurde den bestehenden Territorialstaaten durch Desintegration bedroht.

Schulze schrieb: "Der Staat der industriellen Massenzivilisation bedurfte einer Legitimation, die alle übrigen massenwirksamen Ideologien überwölbte, sie einband und zugleich dem Staat die Zustimmung seiner Bürger sicherte: Diese Legitimation war die Idee der Nation."

Im Nationalstaat sind nicht nur die politischen Eliten sondern auch alle Bevölkerungsgruppen in das System integriert.

Quellen:
Dieter Nohlen, Wörterbuch Staat und Politik
Artuhr Benz, Der moderne Staat
Hagen Schulze, Staat und Nation in der Europäischen Geschichte
 
bei solchen diskussionen sollte man gerade in diesem forum auch einmal ältere definitionen betrachten (alles meyers konversationslexikon von 1888):

nation
staat
der artikel zu volk ist wesentlich kürzer:
Volk (Populus), im weitern Sinn und im gewöhnlichen Sprachgebrauch s. v. w.
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Nation, d. h. ein nach Abstammung und Sprache, Sitte und Bildung zusammengehöriger Teil der Menschheit. Im Staatsrecht wird dagegen zwischen V. und
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Nation unterschieden und unter ersterm die Gesamtheit der unter einer gemeinsamen Staatsregierung vereinigten Angehörigen eines bestimmten Staatsverstanden (s.
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Nation)....
 
In der Staatsdefinition sind also räumlicher und personeller Aspekt ungefähr gleichrangig? Oder überwiegt eine Komponeten (Fläche - Bevölkerung) in der Bedeutung?
 
Das ist ja eben das Problem, das ich auch in der Diskussion häufig habe.
Die Thematik des Zusammenhanges von Nation-Fläche-Bevölkerung sah ja in der Frühzeit der neustaatlichen Entwicklung (17./18.Jh.) noch ganz anders aus, da der Zusammenhang zu dem heutigen Bild erst am Ende des 18.Jh. verdichtet wurde und wohl erst im 19.Jh. abgeschlossen wurde, um im 20. (zumindest im westlichen Europa) wieder einer Neudeffinition (Stichwort EU) zu unterlaufen.

Ich bin deswegen Hagen genz dankbar, die Frage gestellt zu haben, weil man sonst in anderen Themen nicht weiter kommt. Das impliziert aber nicht, dass ich mir etwas davon erhoffe, eben weil die Begrifflichkeiten Staat, Volk etc. für den jeweiligen Zeitschnitt völlig anderen Bewertungsmaßstäben und Betrachtungsmöglichkeiten unterworfen sind. Viele Vergleiche hinken ja deswegen, sogar wenn man schon mit "annähernden" Zeitgenossen anfängt. Ich glaube ich machte das schon mehrfach deutlich, indem ich betonte, dass Louis XIV. zum Bsp. in einem ganz anderen Zeitalter lebte als Friedrich II., trotz Überschneidungen der Lebensdaten. Die Vergleichbarkeit ist aus dem Grund für mich immer wieder fraglich...
Dennoch ist die Debatte nützlich, wenn jeder so schöne Deffinitionen beisteuern kann, wie dankbarer Weise Ursi. :respekt: Ich bin leider kein Politik- oder Staatstheoratiker, weshalb ich eher mit Vergleichen aufwarten kann.
 
Das Buch von Arthur Benz, der moderne Staat, Grundlagen der politologischen Analyse, ist auch für Geschichtsinteressierte sehr empfehlenswert. Vor allem das erste Kapitel ist von historischem Interesse, denn da geht es um die Entstehung des modernen Staates.

Der Staatsrechtslehrer Josef Isensee verfasste 1995 folgendes Zitat:

Was Staat ist, lässt sich nicht auf einen einzigen Begriff bringen oder in einer schulmässigen Definition einfangen. Das ist in der Sache selbst begründet: der Komplexität und der raum-zeitlichen Mutabilität der staatlichen Erscheinungen. Der Begriff kann die Sache nur unter einem von unabsehbar vielen Aspekten erfassen. Daraus folgt die unvermeidliche Relativität aller Staatsbegriffe. Ein annäherndes Bild des Ganzen kann sich nur aus der Vielzahl der Aspekte ergeben, die sich im Gang rund um das Objekt im Wechsel der Perspektive zeigen.
Der moderne Staat, S. 9


Ich finde das ist eine sehr passende Einschätzung und wenn man sich mit dem Staat befasst, sollte man genau diesen "Gang rund um das Objekt im Wechsel der Perspektive" anschauen. Das heisst die historische Entwicklung des modernen Staates genau anschauen. Denn der Begriff Staat wie wir in heute verwenden ist im Laufe der Zeit entstanden.
Wir sprechen vom Staat der Pharaonen, vom Stadtstaat der Antike, römischer Staat oder Staat im Mittelalter, vom Fürstenstaat, vom Ständestaat und irgendwann vom modernen Staat. Dies führt wie wir hier auch sehen zu Missverständnissen. Das Wort Staat wurde zwar bereits im 12. Jahrhundert verwendet, meinte damals aber etwas ganz anderes als das was wir heute darunter verstehen.

Interessant ist das jede wissenschaftliche Disziplin die sich mit dem Staat befasst eine eigene Definition von Staat hat. Dies erklärt, dass es praktisch unmöglich ist den Staatsbegriff in eine möglichst genaue Sprache zu packen. Deshalb bleiben alle Staatsbegriffe relativ.
 
In der Staatsdefinition sind also räumlicher und personeller Aspekt ungefähr gleichrangig? Oder überwiegt eine Komponeten (Fläche - Bevölkerung) in der Bedeutung?

In der Wissenschaft gibt es hierzu die UNterscheidung von Personenverbandsstaaten und territorialen Flächenstaaten.

Als Personenverbandsstaaten werden v.a. die politischen Gebilde der Antike und des Mittelalters charakterisiert. Hier liegt der Schwerpunkt auf der politisch zusammengeschlossenen Gruppe von Menschen, besonders hinsichtlich deren Selbstverständnis. Verständlich wird das, wenn man die antiken Staatsbezeichnungen betrachtet. So ist z.B. nicht die Rede vom "Staat Athen" oder vom "athenischen Staat", sondern man sprach vom "Staat der Athener". Oder man sagte schlicht "Die Athener", wenn man den athenischen Staat meinte. Das gleiche gilt auch für Sparta: "Die Lakedaimonier". Im antiken Rom ist es ähnlich. Die Staatsbezeichnung lautet hier senatus populusque romanus (SPQR). Das Kürzel findet man heute noch auf den römischen Gullideckeln.

In der frühen Neuzeit wandelt sich die Semantik des Staatsbegriffes dann hin zu einem stärker auf das Territorium abzielenden Verständnis.

Wale
 
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