Berlin, 22 Juni. (Priv.-Tel.)
In Volksversammlungen, die der sozialdemokratische Abgeordnete Scheidemann in letzter Zeit in Schlesien, u. a. in Breslau abgehalten hat, hat er auch über die Kriegsziele gesprochen und soweit die vorliegenden Berichte erkennen lassen, den in dem Auslande verbreiteten Glauben zu zerstören sich bemüht, daß die Ziele, die der Reichskanzler und die sonst am Inhalt des zukünftigen Friedens Beteiligten und dafür Verantwortlichen im Sinne haben, sich decken könnten mit den Annexionsforderungen, die in verschiedenen vertraulichen Denkschriften u. a. in der berühmt gewordenen Eingabe der sechs Verbände, worunter hauptsächlich wirtschaftliche Verbände zu verstehen waren, aufgestellt sind. Diese Denkschriften oder Eingaben sind im Auslande nicht unbekannt geblieben und haben vielfach das Agitationsmaterial geliefert, mit welchem man namentlich in Frankreich und auch in Belgien den Glauben zu verbreiten suchte, daß Deutschland die nationale Existenz der Völker bedrohe, und daß es deshalb für diese gelte, den letzten Blutstropfen herzugeben. Herr Scheidemann hat dann mitgeteilt und zwar in der Form einer zum guten Zweck begangenen Indiskretion, daß der Reichskanzler vor ungefähr einem Jahre, als er Vertreter der sozialdemokratischen Fraktion empfing, geäußert hat, daß er mit den Eroberungsplänen, die in der Denkschrift der sechs Verbände ausgestellt sind, nichts zu tun haben wolle, und daß er sie wie alle ähnlichen Pläne von sich weise und mißbillige.
Wir glauben nicht, daß man diese Mitteilung des Abgeordneten Scheidemann als eine Indiskretion anzusehen braucht, denn daß die Vorstellungen des Reichskanzlers über das, was Deutschland zu seiner Sicherheit und zum Schutze vor ähnlichen Überfällen im Frieden zu erreichen hat, andere sind als die in der Eingabe der sechs Verbände enthaltenen, ist durch manche Äußerung und auch aus seinen Reden im Reichstag genügend bekannt. Man braucht nur daran zu erinnern, daß in jener Eingabe der sechs Verbände u. a verlangt wird die Annexion von Belgien und der nordfranzösischen Provinzen bis zur Somme, der Departements Nord und Pas de Calais und weitgehende Annexionen im Osten. Damit vergleiche man, was der Reichskanzler über seine Kriegs- und Friedensziele der Situation entsprechend in allgemeinen Umrissen u. a. am 6. April im Reichstage und zwar damals wohl am weitestgehenden angedeutet hat. Da sagte er, daß Deutschland nicht freiwillig die von ihm und seinen Bundesgenossen befreiten Völker bis zu der Baltischen See und den wolhynischen Sümpfen ausliefern werde, mögen sie Polen, Balten, Litauer oder Letten sein, Rußland dürfe nicht zum zweiten Male seine Heere an der ungeschützten Grenze Ost- und Westpreußens aufmarschieren lassen, nicht noch einmal mit französischem Gelde das Weichselland als Einfallstor in das ungeschützte Deutschland einrichten; und mit Bezug auf den Westen fuhr er fort: "Wird jemand glauben, daß wir die im Westen besetzten Länder, aus denen das Blut des Volkes geflossen ist, ohne völlige Sicherung für unsere Zukunft preisgeben werden? Wir werden uns reale Garantien dafür schaffen, daß Belgien nicht ein englisch-französischer Vasallenstaat, nicht militärisch oder wirtschaftlich als Vorwerk gegen Deutschland ausgebaut wird." Er schloß diese Ausführungen mit den Worten: "Wir wollen keine Nachbarn, die sich aufs neue gegen uns zusammenschließen, um uns zu erdrosseln. Wir wollen Nachbarn, die mit uns und mit denen wir zusammen arbeiten zu unserem gegenseitigen Nutzen."
So allgemein gehalten diese Friedensziele des Kanzlers übrigens sind, das eine ist klar: sie haben mit den Annexionsplänen der sechs Verbände, die sich auf ganz Belgien und den Norden Frankreichs erstreckten, sehr wenig gemein. Es ist daher nicht recht zu verstehen, daß einzelne Blätter die Mitteilung des Herrn Scheidemann wie eine Art Entdeckung behandeln. Aber es ist erklärlich, daß die "Norddeutsche Allgemeine Zeitung" heute kurz bemerkt, darüber, was der Frieden uns bringen muß, habe sich der Reichskanzler wiederholt öffentlich im Reichstage soweit ausgesprochen, wie er es für möglich halte. Aus diesen seinen positiven Erklärungen ergebe sich zugleich seine Stellung zu den bekannten, zum Teil weit darüber hinaus gehaltenen Kriegszielen der wirtschaftlichen Verbände.