Mythos Oktoberrevolution und die sowjetische Geschichtsschreibung

arch-angelsk

Mitglied
Es erscheint eigentlich plausibel, dass über diese siebzig Jahre lang, die sowjetischen Historiker nur eine Variante, nur eine Darstellung des Ablaufs der Ereignisse, nur eine Sinndeutung der Revolution zu geben verpflichtet waren.
Aber die sowjetische Geschichtsschreibung hatte in diesen über 70 Jahren in der Bewertung der Oktoberrevolution keine einheitliche Position. Vielmehr lässt sich die sowjetische Geschichtswissenschaft in Perioden und Etappen einteilen, welche unter folgenden Faktoren berücksichtigt werden müssen: die politischen und soziokulturellen Bedingungen sowie die geschichtsideologischen und wissenschaftspolitischen Vorgaben für die Geschichtswissenschaft. Man kann die Perioden erfassen wenn man sie nach ihren Grundrichtungen zeitlich und politisch klassifiziert. Diese Klassifizierung der Geschichtswissenschaft in Phasen erfolgt demnach besonders nach den wichtigsten politischen Veränderungen in der Sowjetunion:
1. 1917-28: Aufbau und relative Freiheit
2. 1928-53: Stalinisierung
3. 1953-69: Entstalinisierung und Dissidenz
4. 1969-86:„Period zastoja“
5. 1987-91: Perestrojka​
Ein Merkmal dieser politischen Periodisierung liegt nun eben darin, daß gewisse historische Bewertungen nicht deshalb revidiert wurden, weil neuere Forschungen zu einem anderen Ergebnis geführt haben, sondern weil totalitäre Ideologien und Systeme – und dazu kann man die Sowjetunion gewiss zählen- mit innerer Notwendigkeit darauf ausgehen müssen, die Beschäftigung mit der geschichtlichen Vergangenheit dem ideologischen Dogma zu unterwerfen und die Geschichtsdeutung auf die Bedürfnisse der Politik auszurichten.
In der Sowjetunion war es als Historiker äußerst schwierig, Zeitgeschichte zu schreiben. Es war einfacher, russische Geschichte aus dem marxistisch-leninistischen Gesichtspunkt zu schreiben. Ein Historiker, der sich mit dem Mittelalter beschäftigte, wurde durch aktuelle politische Ereignisse nicht besonders berührt. Er mußte nur alle paar Jahre eine kleine Kurskorrektur vornehmen. Die Historiker aber, die sich auf die Revolutions- und Nachrevolutionszeit spezialisiert hatten waren in einer weitaus schwierigeren Lage. Über Nacht konnte durch eine Änderung an der Parteispitze sich plötzlich auch die offizielle Parteilinie verändern. Vor allem zwei Punkte, die wir im weiteren Verlauf als Punkt eins und zwei kennzeichnen, nehmen in der Betrachtung der Unterschiede eine wichtige Position ein:
1. Die Rolle der einzelnen Personen und der Partei während der Revolution.
2. Die Stellung Rußlands in der marxistischen Geschichtsauffassung und im Kontext der Weltgeschichte, besonders der, nach der marxistischen Geschichtsauffassung, nichtklassische Charakter der proletarischen Revolution in einem im Vergleich zu Westeuropa und Nordamerika relativ rückständigen Land und die konkrete Beschaffendheit der russischen Gesellschaft zum Zeitpunkt der Machtübernahme der Bolschewiki. Des weiteren die Widersprüche in den Ziele und den Mitteln einer angestrebten sozialistischen Umwälzung in Rußland.​
Da die Historiker nicht seine eigenen Ansichten schreiben konnten, sondern die der Partei, so mussten die Geschichtswerke auch der jeweiligen Situation angepaßt werden. Besonders problematisch war dies natürlich im Falle der Parteiengeschichte der Bolschewiki und des Gründungsmythos der Sowjetunion - der Oktoberrevolution.
Die Oktoberrevolution war der zentrale Mythos der Sowjetunion, später wurde er noch durch den „Großen Vaterländischen Krieg“ ergänzt. Nach dem Selbstverständnis der Bolschewiki und der Kommunistischen Partei waren es jene Tage im Oktober 1917 die eine neue Zeitrechnung einläuteten. Ihrer Definition nach hatten sie unter der Führung Lenins den unterdrückten Klassen endlich das Joch der Tyrannei beseitigt und die Macht für das Proletariat ergriffen.
Mit den Jahren und dem zeitlichen Abstand wurde die Interpretation und der Ablauf der Revolution zusehends zum wichtigen Politikum. Im Grunde sind die gröbsten Zeitabschnitte in welchen sich die Auslegung der Oktoberrevolution veränderten in eine vorstalinistische, stalinistische und nachstalinistische Periode einzuteilen. Die erste war gekennzeichnet von der Machtkonsolidierung der Bolschewiki und den Machtkämpfen innerhalb der Partei, in welcher jeder als Legitimation die Oktoberrevolution heranzog. Dabei störten, erstens, die vorrevolutionären „bürgerlichen“ Historiker, die zuerst zum Aufbau benötigt wurden und mit welchen man am Beginn in einer Art Koexistenz lebte und später die neu ausgebildeten marxistischen Historiker, welche man zuerst als Waffe gegen die „Bürgerlichen“ und „Trotzkisten“ benützt hatte, und dann „diszipliniert“ werden mußten.
Nachdem Stalin und sein Umfeld spätestens in den dreißiger Jahren den Sieg in diesen Machtkämpfen davongetragen hatten, mußte die Oktoberrevolution neu umgeschrieben werden. So daß viele Namen der führenden Bolschewiki verschwanden. Den Mythos den Stalin um seine Person aufgebaut hatte wurde für seine Nachfolger zum Problem. So ist die nachstalinistische Periode von der Entstalinisierung geprägt, in welcher nun das Kollektiv in Form der Partei die Führungsrolle übernimmt. Dementsprechend konnte man die historische Realität, wie sie zwischen den Bolschewiki 1917 war nicht akzeptieren.
Die fast vier Jahrzehnte nach Stalins Tod in welcher die Sowjetunion existierte, kann man, trotz der oben eingeteilten Periodisierung als eine Phase betrachten, denn der Leitmythos Oktoberrevolution beinhaltete, von Chruscov bis Gorbatsov, denselben Topos: Lenin und die Partei. Einzelne Bemühungen und Strömungen, wie der „Fall Burdzalov“ und die „Neue Richtung“ waren ergebnislos und wurden schon im Keim erstickt, so daß mit der Methodologiesektion, der letzte Versuch scheiterte sich von der Parteidogmatik zu befreien. Es zeigte sich, daß die Entstalinisierung nur oberflächlich war. Ab den siebziger Jahren trat die Stagnation ein. Wie und ob Gorbatsovs Reformbemühungen sich für die Geschichtswissenschaften ausgewirkt hätten, kann nicht gesagt werden, ist sogar zu bezweifeln. Denn schon einmal, nach Stalins Tod, wurden Reformen angekündigt und man ist dann doch wieder zurückgerudert. Besonders als man anfing Fragen zum Oktober und zum Marxismus zu diskutieren. Kräfte die gegen Gorbatsovs Kurs waren gab es genug, und mit dem Putsch zeigte sich das sie bereit standen. Wenn ein Mythos der Macht dient, dann ist seine Definition und Auslegung undiskutierbar. Es mußte erst die Sowjetunion auseinanderbrechen um endlich einen freien Zugang zur Geschichtsschreibung der Oktoberrevolution zu ermöglichen.
 
Zurück
Oben