Tacitus und die Rassenideologie der Nationalsozialisten

salvus

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Es gibt da eine Thematik, die mich schon länger beschäftigt. Trotz Benutzung der Suchfunktion konnte ich hier allerdings nichts näheres finden. Ich denke allerdings, daß die Thematik so neu nicht sein kann:

Die Germanen selbst sind, möchte ich meinen, Ureinwohner und von Zuwanderung und gastlicher Aufnahme fremder Völker gänzlich unberrührt.
(Tacitus, Germania, 2)

Ich selbst schließe mich der Ansicht an, daß sich die Bevölkerung Germaniens niemals durch Heiraten mit Fremdstämmen vermischt hat und so ein reiner, nur sich selbst gleicher Menschenschlag von eigener Art geblieben ist.
(Tacitus, Germania, 4)

Die "Germania" des römischen Geschichtsschreibers Tacitus ist wohl gegen Ende des 1. Jahrhunderts n. Chr. geschrieben worden. Im Mittelalter wurde der Text in der Abtei Hersfeld wiederentdeckt. Ich denke, daß man durchaus sagen kann, daß die "Germania" über Jahrhunderte hinweg - bis in das 20. Jahrhundert das Germanenbild in Deutschland geprägt hat.

Gerade Heinrich Himmler war offensichtlich für alles "germanische" sehr empfänglich. Man denke nur an die Ausgrabungen an den Externsteinen oder auch an die Nutzung von Runenzeichen.

Wenn man die oben zitierten Zeilen ließt, dann könnte man in Anbetracht des Alters dieses Textes fast auf die Idee kommen, daß die Sätze des Tacitus wie eine Art Ausgangspunkt zur Rassenideologie der Nationalsozialisten gewesen sein könnten. Gibt es hierzu genauere Untersuchungen? Inwieweit lässt, bzw. muß man hier einen Zusammenhang herstellen?
 
Mir ist kein einziger - relevanter - Vertreter von Theorien zur NS-Ideologie bekannt, der diesen militanten Rassismus kausal in den Kontext zu "Tacitus" gestellt hätte. Vgl. z.B. auf die Schnelle Nolte und "Der Faschismus in seiner Epoche", in der "Tacitus" nicht erwähnt wird.

Anders bestimmte historische Traditionsbestände, die für den italienischen Faschismus eine Rolle gespielt haben und Traditionslinien begründen.

Ein wenig anders liegt der Fall hinsichtlich der Konstruktion von pauschalen Stereotypen, die Nationalcharaktäre definieren. In diesem Fall ergibt sich wohl durchaus ein Zusammenhang der Beschreibung von Tacitus der Germanen in der Selbstwahrnehmung bzw. dem Schrifttum von Deutschen Nationalistenund der Wahrnehmung anderer Völker. Das betraf die Trennung der Germanen zu den romanischen Völkern - Italien und Frankreich - und auch zu England ("perfides Albion") Aber das wurde vor dem NS-Regime bereits historisch angelegt (Kann Dir aber leider keinen konkreten Literaturhinweis dafür nennen, am ehesten Wiegrefe u.a. "Die Erfindung der Deutschen und Schulze: Staat und Nation in der europäischen Geschichte).

Insofern ergibt sich schon eine gewissen historische Linie, die aber eher auf Ausgrenzung abzielt von Personen, die nicht den "künstlichen" Beschreibungen entsprechen, was denn angeblich einen Germanen ausmachen würde.
 
Zuletzt bearbeitet:
Bei Münkler finden sich in "Die Sittlichkeet des Hinterwäldlers" eine ausführliche Diskussion zur Bedeutung des Germanenmythos. Er schreibt" Das entscheidende Ereignis für die Selbststilisierung der Deutschen als Nachfahren der Germanen war die Wiederentdeckung der Germania des Tacitus ..."

und fährt fort

"Diese Vorstellung [eines sehr geschönten Selbstbildes] saß tief und hat das Selbstbild der Deutschen bis ins 20. Jahrhundert geprägt."

https://books.google.de/books?id=iv1sAgAAQBAJ&printsec=frontcover&hl=de&source=gbs_ge_summary_r&cad=0#v=onepage&q&f=false

Dieses Muster des guten Deutschen [Germanen] - so Münkler - war wirkungsmächtig in der Interpretation der Politik anderer Nationen und konnte als Ideologie zur Rechtfertigkeit der Politik gegenüber anderen Staaten benutzt werden. Wie beispielsweise in der Formulierung von Bismarck ersichtlich: "Nach Canossa gehen wir nicht"

In diesem Sinne gehört die Darstellung von Tacitus zum Repertoir der Gründungsmythen des deutschen Nationalismus.
 
Bei Münkler finden sich in "Die Sittlichkeet des Hinterwäldlers" eine ausführliche Diskussion zur Bedeutung des Germanenmythos. Er schreibt" Das entscheidende Ereignis für die Selbststilisierung der Deutschen als Nachfahren der Germanen war die Wiederentdeckung der Germania des Tacitus ..."

und fährt fort

"Diese Vorstellung [eines sehr geschönten Selbstbildes] saß tief und hat das Selbstbild der Deutschen bis ins 20. Jahrhundert geprägt."

https://books.google.de/books?id=iv1sAgAAQBAJ&printsec=frontcover&hl=de&source=gbs_ge_summary_r&cad=0#v=onepage&q&f=false

Dieses Muster des guten Deutschen [Germanen] - so Münkler - war wirkungsmächtig in der Interpretation der Politik anderer Nationen und konnte als Ideologie zur Rechtfertigkeit der Politik gegenüber anderen Staaten benutzt werden. Wie beispielsweise in der Formulierung von Bismarck ersichtlich: "Nach Canossa gehen wir nicht"

In diesem Sinne gehört die Darstellung von Tacitus zum Repertoir der Gründungsmythen des deutschen Nationalismus.

Tacitus ist einfach eine zu reizvolle Quelle, um der Versuchung widerstehen zu können, die Germanen als eine Art "edle Wilde der Antike" als Vorfahren der Deutschen zu reklamieren, und aus dieser Quelle haben nicht nur die Nationalisten, sondern auch Humanisten wie Ulrich von Hutten, Reformatoren wie Martin Luther und Autoren wie Heinrich von Kleist und Heinrich Heine geschöpft.

Erinnerungen an die Römerzeit lassen sich in Europa nördlich der Alpen bis ins 12. Jhd zurückverfolgen. Otto von Freising hatte in seinem Geschichtswerk die Varusschlacht erwähnt und er wusste schon, dass der 7rierer Eichelstein Drusus gewidmet war. Ende des 15. Jahrhunderts wurde in Hersfeld Tacitus Germania wiederentdeckt und wenig später 1507 in Corvey auch die Annalen des gleichen Autors. Mit der Renaissance wurde die klassische Antike zu einem Vorbild, und mit Tacitus Germania und den Annales konnten die deutschen Humanisten auf eine antike Quelle- und damit eine von hoher Autorität-zurückgreifen, die ihnen sozusagen eine Welt erschloss, die sie als deutsch/germanische Antike identifizieren konnte und deren Existenz ein Medium zur Konkurrenz und Emanzipation von Italien und Rom bot. Trotz der zeitlichen Distanz wurde die germanische Geschichte mit dem Begriff "Deutsche Nation" verbunden, und Arminius wurde zu einer Identifikationsfigur. Ulrich von Hutten rühmte ihn 1529 im Arminius Dialog als ersten Vaterlandsverteidiger und Martin Luther bedauerte in seinen Tischgesprächen, kein Poet zu sein: "Wenn ich ein Poet wär, wollt ich den zelebrieren, ich hab ihn von hertzen lib."( Luther Tischgespräche 5, 415).

Aber auch der Reformator selbst wurde von seinen Anhängern mit Arminius verglichen, in der Gegenüberstellung Arminius und Reformation auf der einen Seite und Varus und römisch-katholische Kirche auf der anderen ließ sich dabei auch die Erfolgsprognose auf die eigene Sache übertragen.

Lange, bevor Heinrich von Kleist die Hermannsschlacht schrieb, wurde Arminius in Reim und Prosa zum Helden unzähliger Werke vom Drama bis zur Oper. Wenn aber im 17. und 18. Jhd Arminius verkaufsfördernd gewesen sein muss, so war der Erfolg von Kleists Stück durchwachsen. Verfasst 1808 fiel Arminius oder besser Herrmann sofort der Schere des Zensors zum Opfer. Aus dem Nachlass 1821 veröffentlicht, dauerte es fast 20 Jahre bis Kleists Stück uraufgeführt wurde. Auf die Spielpläne deutscher Theateraufführungen kam die Hermannsschlacht von Kleist erst nach Gründung des deutschen Reichs. Bei Kriegsbeginn 1914 lief das Stück am Berliner Schillertheater, und in der Pause wurden Siegesmeldungen von der Front verkündet. Das Stück wurde für Opfergangsromantik missbraucht, und erst durch Claus Peymanns Bochumer Inszenierung um die Mitte der 80er Jahre des vergangenen Jahrhunderts wurde Kleists Stück wiederentdeckt und überhaupt wieder als spielbar betrachtet.

Unter dem Eindruck der napoleonischen Besatzung wurde die Varusschlacht zu einem Symbol der Selbstbehauptung und Befreiung von Fremdherrschaft. Die "Hermannsschlacht" zierte auch den Giebel der 1842 eingeweihten Walhalla nahe Regensburg. Wenn es Literaten und Wissenschaftlern wie Kleist oder den Brüdern Grimm noch darum ging, den Eigenwert der deutschen Kultur zu betonen unter dem Eindruck der napoleonischen Besatzung und der Germanismus-Begriff der Humanisten durchaus international und kosmopolitisch angelegt war, wurde der Ton nach den
Befreiungskriegen radikaler. Deutsche Germanenidentifizierung und Überlegensheitsdünkel mündete in Deutschtümelei und ging schon bald eine unheilige Allianz mit Rassismus und Antisemitismus ein. Nur wenige waren so scharfsinnig wie Heinrich Heine, der ironisch die Bedeutung Arminius und der Varusschlacht auf den Lauf der deutschen Geschichte beschrieb:

"Das ist der Teutoburger Wald, den Tacitus beschrieben.
Das ist der klassische Morast; wo Varus stecken geblieben.
Hier schlug ihn der Cheruskerfürst, der Hermann, der edle Recke.
Die deutsche Nationalität, sie siegte in diesem Drecke.

Wenn Hermann nicht die Schlacht gewann, mit seinen blonden Horden;
Dann gäbe es die deutsche Freiheit nicht, wir wären römisch geworden..."

Heine, Deutschland ein Wintermärchen Caput XI.
 
Mir ist kein einziger - relevanter - Vertreter von Theorien zur NS-Ideologie bekannt, der diesen militanten Rassismus kausal in den Kontext zu "Tacitus" gestellt hätte.

Die Frage ist natürlich, wer relevant ist. Der Nationalsozialismus ist ja nicht vom Himmel gefallen und völkische Vordenker wie Woltmann und Wilser (die beide die nationalsozialistische Machtübernahme nicht (mehr) erlebten, bezogen sich ganz klar auf Tacitus, insbesondere auf die Stelle des Nichtvermischens mit fremden Stämmen.
 
Zur Thematik gibt es wohl ein sehr interessantes Buch vom Altphilologen Christopher B. Krebs:

"Ein gefährliches Buch: Die "Germania" des Tacitus und die Erfindung der Deutschen."

Hier mal ein Link:

Klartext gegen den Germanenmythos (Archiv)

Klar ist, wie auch von Scorpio erwähnt, daß die deutschen Humanisten die "Germania" mit Begeistung aufgenommen haben. Das gleiche gilt dann auch wohl für die Annalen. Da gab es doch dann endlich einen "deutschen Helden", welcher drei römische Legionen vernichtet hat.

Mir liegt die "Germania" in diesem typischen gelben Reclam Büchlein vor. Im Nachwort gibt es einen Abschnitt:

Die Wirkung der "Germania".

Dort heißt es: (Zitat):

Die deutsche "Germania" Rezeption gliedert sich unverkennbar in zwei Phasen. Die erste ist ein Produkt der Humanisten; sie fällt in die erste Hälfte des 16. Jahrhunderts. Die zweite Phase erstreckt sich vom napoleonischen Zeitalter bis zum Jahre 1945; sie gipfelt in der Rassentheorie und der Ideologie des Dritten Reiches.
(Tacitus - Germania, Philipp Reclam jun. Stuttgart; Übersetzung, Erläuterungen und Nachwort von Manfred Fuhrmann)
 
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