Toleranzrhetorik in den 1930er Jahren

iamNex

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Hey, ich schaffs endlich mal wieder ein Thema zu eröffnen. Mehr Aktivität schaff ich momentan zeitbedingt einfach nicht.
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In dem Buch "Das war Dachau" von Stanislav Zámečnik bin ich auf zwei interessante Aussagen gestoßen.
Beide stammen aus der unmittelbaren Zeit nach der Machtergreifung, und, da bin ich mir sicher, sind vor dem Kontext dieser Frühphase (Konsolidierungsphase) der NS-Herrschaft zu sehen.


13. März 1933, Heinrich Himmler über Massenverhaftungen: "Ich habe mich zu dieser Maßnahme genötigt gesehen, da in der Stadt [gemeint ist München, nex] an vielen Stellen eine große Erregung war und es mir unmöglich war, die einzelnen Persönlichkeiten, die den Anlaß zur Erregung gaben, so zu schützen, daß ich die Sicherheit für Leben und Gesundheit übernehmen kann. Eines muß ich ausdrücklich betonen: Für uns ist der Staatsbürger jüdischen Glaubens genau so Staatsbürger wie der nichtjüdischen Glaubens und sein Leben und sein Eigentum werden genauso geschützt. Da kennen wir keinen Unterschied. Aus diesen Gründen ist die Schutzhaft zu verstehen." (Das war Dachau, S. 21.)

25. März 1933, Hermann Göring vor Vertretern der Auslandspresse:
"Die Regierung würde niemals dulden, daß ein Mensch nur deshalb irgendwelchen Verfolgungen ausgesetzt werde, weil er Jude sei." (Ebd.)

Klar, beide Aussagen sind Alibis. Einmal um Schutzhaft zu rechtfertigen und einmal um eventuellen Beunruhigungen im Ausland vorzubeugen.
Aber interessant finde ich die hier gebrauchte Rhetorik trotzdem.

1) Zámečnik merkt an, dass das Himmler-Zitat in gekürzter Fassung auch im Völkischen Beobachter abgedruckt war. Das heißt, man kann davon ausgehen, dass die Aussage und die benutzten Worte von einer Vielzahl an NSDAP-Wählern und überzeugten Nazis gelesen wurde.
Das Göring-Zitat wurde vor Pressevertretern verlesen, auch hier kann man eine einigermaßen große Leser-/Hörerschaft annehmen.

Diese Aussagen stehen, abgedruckt, ja ersteinmal für sich und isoliert. Beim radikaleren (und evlt. sogar durchschnittlichem?) NSDAP-Mitglied dürften diese Aussagen doch Befremdung hervorgerufen haben.

Dem tiefer nachdenkendem NS-Leser dürfte aufgefallen sein: Pragmatismus ist "uns" anscheinend wichtiger als Ideologie.

Dem weniger nachdenkendem NS-Leser dürfte das so vorgekommen sein: "Was soll das?" [auch WTF?! genannt] - eben jene, oben angesprochene, Befremdung.

- gibt es mehr solche Beschwichtigungsaussagen von NS-Funktionären aus den Anfangsmonaten?
-gibt es Reaktionen auf diese Aussagen?

2)
Himmler: "Für uns ist der Staatsbürger jüdischen Glaubens genau so Staatsbürger wie der nichtjüdischen Glaubens und sein Leben und sein Eigentum werden genauso geschützt. Da kennen wir keinen Unterschied"

Himmler spricht hier ganz deutlich von Glauben und nicht von Rasse. Auch diese Unterscheidung in eine Bevölkerungsgruppe jüdischen Glaubens, und eine nichtjüdischen Glaubens, finde ich auffallend.

Gibt es mehrere Aussagen, die dezidiert von GLAUBEN und nicht von RASSE sprechen?

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Der Threadtitel ist misslungen...yep.
 
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Himmler spricht hier ganz deutlich von Glauben und nicht von Rasse. Auch diese Unterscheidung in eine Bevölkerungsgruppe jüdischen Glaubens, und eine nichtjüdischen Glaubens, finde ich auffallend.

Gibt es mehrere Aussagen, die dezidiert von GLAUBEN und nicht von RASSE sprechen? ...

Mit Sicherheit finden sich derartige Aussagen in den Zeitungen, da müßte man sich die Mühe machen, die Zeitungsarchive zu durchforsten. Die "Gleichschaltung" steckte in der zweiten Märzhälfte 1933 noch in den Kinderschuhen. Goebbels beklagt dieses selbst (Tagebucheintragung ab 14. März 1933 [Vereidigung] ff.). Auch die Terminologie in der Rhetorik war noch nicht "gleichgeschaltet". Der Terminus "mosaischer Glauben" geisterte noch m.E. eine ganze Zeit herum. In der zweiten Märzhälfte war die Nazi-Führung nicht nur mit der Beruhigung des Auslandes beschäftigt, Du führtest Göring an, sondern auch mit der Vorbereitung des sog. "Judenboykottes".

Spätestens mit dem Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums vom 7. April 1933, vergl. §3 (1), wird auf "Abstammung" abgestellt, also auf den "Rassebegriff". Das öffentliche Rhetorik und Ideologie nicht immer ganz übereinstimmen, mag dem Zeitpunkt, dem Redner oder auch dem Kalkül geschuldet sein.

documentArchiv.de - Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums (07.04.1933)

M.
 
Sehr interessanter Beitrag Melchior!
D.h., die gängige Rhetorik der NSDAP bildete sich über den Zeitraum von 1920 bis 1933 nicht vollends aus, sondern änderte sich in einer kurzen Phase ab Februar 1933 noch einmal entscheidend?

Ich finde den Punkt "Abstammung" <-> "Glaubenszugehörigkeit" schon entscheidend, will man das Verhältnis von Ideologie und Pragamtismus der NSDAP beschreiben.
 
Aus dem Artikel Sprache unterm Hakenkreuz:

Metaphern aus Technik, Medizin und Religion

Schließlich ist die Tendenz zu nennen, Ausdrücke, die ursprünglich (u.a.) der technischen/medizinisch-biologischen/sakralen Fachsprache entstammen, in einem übertragenen (metaphorischen) Sinn nun auch vermehrt in der Gemeinsprache zu verwenden. Sinn solcher Metaphern ist nicht nur eine anschauliche Ausdrucksweise, sondern oft auch eine Vereinfachung der Sachverhalte. Werden nur einzelne Begriffe aus medizinischen oder biologischen Bereichen in fachfremde Texte entlehnt, so können letztere einen scheinbar wissenschaftlichen Anstrich erhalten und auf diese Weise an Glaubwürdigkeit gewinnen.


Unsterblicher Glaube und ewige Hoffnung

Bestimmte Wörter und Phrasen, die der Sakralsprache entstammen, fanden schon vor den Nationalsozialisten Eingang in den profanen Sprachgebrauch. Doch erst der vermehrte Gebrauch solcher religiösen Vokabeln und Ausdrücke wie ewig, heilig, Glaube, Vorsehung, Mission, Opfer, Treue oder unsterblich stellt ein Merkmal nationalsozialistischen Sprachgebrauchs dar. Folgendes Beispiel setzt Hitler sogar implizit mit Christus gleich, der durch seine Heilsbotschaft, nämlich „das nationalsozialistische Glaubensbekenntnis“ Erlösung bringt:



„[...] Fest fußend auf den Lehren dieses politischen Glaubensbekenntnisses, das im Nationalsozialismus späte Gestalt fand, stehen wir heute, in einer festen Gemeinschaft zusammengeschlossen, um den Führer geschart. [...] An ihn denken [...], unsere Mütter, wenn sie durch Schnee, Regen und Kälte auf Einkauf ausgehen, vor den Geschäften stehen und warten, manchmal das werdende Leben unseres Volkes unter dem Herzen tragend, vielleicht von dem geliebten Mann, der in einem einsamen Soldatengrab in Polen oder verweht von den Wogen auf dem Grunde des Meeres ruht. Um eines Tages mit seinem Volke neu aufzuerstehen. Denn die, die für das Reich fallen, sind nicht tot, sie schlafen nur. [...] Haben sie nicht ein Recht, von uns zu fordern, dass wir unsere Herzen täglich in beide Hände nehmen und gläubig gehorchen und dienen, auf dass das Reich bleibe und wachse und niemals vergehe! [...]“ (aus: Goebbels, J. Die Zeit ohne Beispiel. München 1941. Darin: Gelobt sei, was hart macht. Rede auf der Großkundgebung in Münster i. W., 271).

Der Sinn dieser religiösen Ausdrücke und Bilder liegt in ihrer emotionalen Wertung. Leser oder Hörer (Rezipienten) sollen hier nicht rational überzeugt, sondern durch einen Appell an ihre Gefühle irrational angesprochen werden (Glauben statt Wissen).

http://www.zukunft-braucht-erinnerung.de/drittes-reich/propaganda/202.html
 
Sehr interessanter Beitrag Melchior!
D.h., die gängige Rhetorik der NSDAP bildete sich über den Zeitraum von 1920 bis 1933 nicht vollends aus, sondern änderte sich in einer kurzen Phase ab Februar 1933 noch einmal entscheidend?

Die Rhetorik der NSDAP passte sich dem politischen Umfeld an.

Der Einfluss von Goebbels in die Rhetorik der NSDAP darf man nicht unterschätzen.

Ich suche dazu noch was raus.
 
Am 21. März trat der am 5. März gewählte Reichstag erstmals zusammen. Am 23. März fand die Abstimmung über das Ermächtigungsgesetz statt, und dafür brauchten die Nazis die Stimmen der bürgerlichen Parteien. Es war also Kreidefressen angezeigt.
 
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Ich finde den Punkt "Abstammung" <-> "Glaubenszugehörigkeit" schon entscheidend, will man das Verhältnis von Ideologie und Pragamtismus der NSDAP beschreiben.

@Nex

Dieser von Dir angeführte Unterschied ist auch evident. Aber war Ende März 1933 schon regimeeinheitlich ausgemacht, wer Jude ist? Die Nürnbergergesetze liegen noch in weiter Ferne. Wahrscheinlich hatte das RFM zu diesem Zeitraum darüber den besten Überblick, aber keinen "rassebiologischen".

Bleiben wir einmal bei dem Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums. Der Referent der diesen Gesetzestext entwarf, war sich mit Sicherheit bewußt, daß dieses Gesetz gegen positives und überpositives Recht verstößt. Und er hatte ein Problem, das Regime dem er diente, hatte die Kategorie "Jude" noch nicht verbindlich definiert, sondern vielmehr haben führende Vertreter des Regimes gegen die "Juden" sich geäußert, ohne staatsrechtlich zu definieren, wer ein Jude ist. Du hast das Problem ex post in Deinem Eingangsbeitrag behandelt.

Das Wort "Abstammung" §3 (1) ist rechtshistorisch dem deutschen Staatsbürgerschaftsrecht geschuldet, aber an sich schwammig. Entschuldige bitte die krude Argumentation, aber wenn man sich mit Tätern beschäftigt, kommt man um Täterlogik nicht umhin.

Wären also die Abkömmlinge eines protestantischen und arischen Vaters und einer katholischen und arischen Mutter die gemeinsam zum Judentum konvertierten (ich weiß, das ist schwierig) Juden? "Rassebiologisch" nein, fiskalisch ja.

All das war in 1933 noch nicht verbindlich geklärt und somit ist auch die Rhetorik der führenden Vertreter des Nationalsozialismus noch nicht "gleichgeschaltet".

M.

P.S.:
Willst Du darüber arbeiten?
 
All das war in 1933 noch nicht verbindlich geklärt und somit ist auch die Rhetorik der führenden Vertreter des Nationalsozialismus noch nicht "gleichgeschaltet".

Macht Sinn, dacht ich mir auch schon.
Trotzdem stechen diese Aussagen ja ziemlich heraus, betrachtet man die auf Juden bezogene Rhetorik der NS-Führer, auch 1933.
Wird wohl mit der Beschwichtigungstaktik zu erklären sein. ;)

P.S.:
Willst Du darüber arbeiten?

Nein, der Thread entstand nur aus Interesse.
 
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