Van der Lubbe - Reichstagsbrand

iamNex

Aktives Mitglied
Marinus van der Lubbe ? Wikipedia

Am 27.2.33 brannte in Berlin der Reichstag.
Vor Ort festgenommen wurde der politisch linksorientierte Marinus van der Lubbe.
Die Nazis nutzen den Reichstagsbrand zur Verordnung des Reichspräsidenten zum Schutz von Volk und Staat.

Folgen sind ja bekannt.
Mich interessiert aber mehr: War ers oder nicht?
Laut dem Wikipedia-Artikel nehmen ja die meisten Historiker an, dass van der Lubbe es tatächlich getan hat, aber endgültig geklärt wurde es bisher nicht.
Was gilt am wahrscheinlichsten?

Und was mich noch interessiert:

Was wäre, wenn der Reichstag nie gebrannt hätte?
Liegen da vllt. Geheimakten der Nazis vor, wie sie dann mit der Ausschaltung des Rechtsstaates vorgegangen wären?
 
Mich interessiert aber mehr: War ers oder nicht?

Wenn wir dir hier eine allgemein gültige Antwort geben könnten, dann wären wir den Historikern weit voraus. Wir können nur den aktuellen Forschungsstand aufzählen, alles andere ist Spekulation.

Fritz Tobias legte Anfang der sechziger Jahre Belege vor, welche die These von der Alleintäterschaft untermauerte. Damit löste er eine bis heute andauernde Kontroverse aus. Einige seiner Kritiker schreckten selbst vor Fälschungen nicht zurück, um diese These der Alleintäterschaft zu widerlegen. Die bisher vorliegenden Forschungsergebnisse lassen jedoch kaum einen anderen Schluss zu als den, dass Marinus van der Lubbe mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit als Einzeltäter handelte.

Quelle: Wolfgang Benz, Legenden, Lügen, Vorurteile.


Hier noch ein Zitat aus shoa.de

Die ungelöste Täterfrage in Sachen Reichstagsbrand führt in den 1950ern zur Wiederaufnahme des Verfahrens gegen Marinus van der Lubbe. Dessen Bruder, Johannes Marcus van der Lubbe, beauftragt den bekannten Strafverteidiger aus Weimarer Zeit, Arthur Brand, mit der Verteidigung vor dem Berliner Landgericht. Am 21. April 1967 wandelt man die Todesstrafe in eine 8-jährige Haft wegen menschengefährdender Brandstiftung und versuchter einfacher Brandstiftung um, die Aberkennung der bürgerlichen Ehrenrechte wird aufgehoben. Den Antrag auf Aufhebung des Reichsgerichtsurteils weisen die Richter ab. Drei Jahre später unternimmt van der Lubbe mit Unterstützung von Robert Kempner, stellvertretender Hauptankläger der Nürnberger Prozesse, einen zweiten Versuch. Erst 1979, als endlich die Frage der Zuständigkeit geklärt ist, stellt dieser erneut Wiederaufnahmeantrag beim Landgericht Berlin. Im Jahr darauf wird das Urteil von 1967 unter Freisprechung van der Lubbes aufgehoben. Der Vorwurf der Rechtsbeugung durch das Reichsgericht von 1933, mit dem diese Entscheidung u.a. begründet wird, hat jedoch einen jahrelangen Rechtsstreit zur Folge, der 1983 mit der Aufhebung des Freispruchs und der endgültigen Abweisung des Wiederaufnahmeantrags durch den Bundesgerichtshof endet. Die Richter sehen keine ausreichenden Beweise für eine Unschuld Marinus van der Lubbes. Die gibt es bis heute nicht. Ebenso wenig für seine alleinige Schuld. Während sich die Historiker der Neuzeit in zwei Gruppen aufteilen – diejenigen, die von einer Alleintäterschaft ausgehen, und diejenigen, die Beweise für eine Mittäterschaft der Nationalsozialisten zusammentragen – ist man sich nur in einem Punkt einig: Von einer Beteiligung der damals pauschal angeklagten Kommunisten will heute kein Fachmann mehr etwas wissen.


Und was mich noch interessiert:

Was wäre, wenn der Reichstag nie gebrannt hätte?

Dann hätte Hitler im Reichstag seine Reden gehalten.


Liegen da vllt. Geheimakten der Nazis vor, wie sie dann mit der Ausschaltung des Rechtsstaates vorgegangen wären?

Verschwörungen lassen grüssen.


Hier findest du noch die Alleintäterthese von Tobias:

Reichstagsbrand - Artikel - SPIEGEL WISSEN - Lexikon, Wikipedia und SPIEGEL-Archiv
 
Zuletzt bearbeitet:
In meiner Abwesenheit ist eine von iamNex ausgelöste (Meta-)Diskussion über http://www.geschichtsforum.de/f55/argumentieren-gegen-revisionisten-37129 geführt worden. Dabei fiel der Name Fritz Tobias, und zwar bezogen auf

An sich hätte ich keinen Grund, mich hier einzubringen - wäre mir nicht vor einiger Zeit an der hiesigen Uni den Name des Chemikers Prof. Schneider begegnet. Der nämlich ist ein Sohn von Hans Schneider, und dieser [1] ist jener Historiker gewesen, der 1960 vom Münchener Institut für Zeitgeschichte (IfZ) beauftragt wurde, die Arbeit von Tobias einer wissenschaftlichen Prüfung zu unterziehen - deren Ergebnis jedoch erst erst 2004 publiziert wurde [2].

Puh, ein langer Vorspann! Der schien mir aber angebracht, weil man in gewisser Weise von einem "Wissenschaftskrimi" sprechen kann

  • Was geschah um 1960 im IfZ mit der Arbeit Schneiders?
  • Welche Auseinandersetzungen wurden in der Folgezeit bis heute geführt?
  • Welche Rolle hat dabei das Magazin DER SPIEGEL gespielt?
und weil nach meiner Kenntnis der Stand der Forschung keineswegs so eindeutig ist, wie er hier skizziert wird.

Ich möchte gern ein paar Informationen dazu geben, sobald ich dazu komme, und auch auf die Frage "Was wäre, wenn der Reichstag nie gebrannt hätte?" im hiesigen Eingangsbeitrag eingehen.


[1] Nicht zu verwechseln mit dem Ahnenerbe-Schneider/Schwerte (http://www.geschichtsforum.de/f75/schneider-schwerte-6003/)!
[2] Neues vom Reichstagsbrand? Eine Dokumentation. Berlin 2004 (mit ergänzenden Beiträgen).
 
In meiner Abwesenheit ist eine von iamNex ausgelöste (Meta-)Diskussion über http://www.geschichtsforum.de/f55/argumentieren-gegen-revisionisten-37129 geführt worden. Dabei fiel der Name Fritz Tobias, und zwar bezogen auf

An sich hätte ich keinen Grund, mich hier einzubringen - wäre mir nicht vor einiger Zeit an der hiesigen Uni den Name des Chemikers Prof. Schneider begegnet. Der nämlich ist ein Sohn von Hans Schneider, und dieser [1] ist jener Historiker gewesen, der 1960 vom Münchener Institut für Zeitgeschichte (IfZ) beauftragt wurde, die Arbeit von Tobias einer wissenschaftlichen Prüfung zu unterziehen - deren Ergebnis jedoch erst erst 2004 publiziert wurde [2].

Puh, ein langer Vorspann! Der schien mir aber angebracht, weil man in gewisser Weise von einem "Wissenschaftskrimi" sprechen kann

  • Was geschah um 1960 im IfZ mit der Arbeit Schneiders?
  • Welche Auseinandersetzungen wurden in der Folgezeit bis heute geführt?
  • Welche Rolle hat dabei das Magazin DER SPIEGEL gespielt?
und weil nach meiner Kenntnis der Stand der Forschung keineswegs so eindeutig ist, wie er hier skizziert wird.

Ich möchte gern ein paar Informationen dazu geben, sobald ich dazu komme, und auch auf die Frage "Was wäre, wenn der Reichstag nie gebrannt hätte?" im hiesigen Eingangsbeitrag eingehen.


[1] Nicht zu verwechseln mit dem Ahnenerbe-Schneider/Schwerte (http://www.geschichtsforum.de/f75/schneider-schwerte-6003/)!
[2] Neues vom Reichstagsbrand? Eine Dokumentation. Berlin 2004 (mit ergänzenden Beiträgen).


Ich weiß nicht ob dies
schon in die Diskussion eingeflossen ist.
 
Was wäre, wenn der Reichstag nie gebrannt hätte? Liegen da vllt. Geheimakten der Nazis vor, wie sie dann mit der Ausschaltung des Rechtsstaates vorgegangen wären?
Der Führungszirkel der NS-"Bewegung" war eine "Verschwörung", darauf gerichtet, einen Zivilisationsbruch nie gekannten Ausmaßes vorzunehmen. [1]

Von daher kann über das "Ohne-Reichstagsbrand-Szenario" kaum ein Zweifel bestehen: Die Verschwörer haben die Möglichkeit, die einmal errungene Macht wieder herzugeben, niemals in Betracht gezogen. Hitler hat das noch im Februar, d.h. vor dem Brand, in mindestens zwei öffentlichen Reden klargestellt, und zwar vor dem Hintergrund der angesetzten Reichstags-Neuwahl [2]:

  • Berlin 10.02.: "Wenn dieses deutsche Volk uns in dieser Stunde verlässt, dann soll uns das nicht hindern. Wir werden den Weg gehen, der nötig ist, dass Deutschland nicht verkommt."
  • Stuttgart 15.02.: "Aber ich bin entschlossen, mit meinen Verbündeten unter keinen Umständen Deutschland wieder in der vergangene Regiment zurückfallen zu lassen."
Variabel war nur die Wahl der Instrumente, die zur Vernichtung der politischen Gegner eingesetzt wurden, denn hier musste man z.T. Rücksicht auf Hindenburg nehmen und auf die Reste verbliebener Rechtstaatlichkeit. Hermann Graml hat das so zusammengefasst: [3]
"Im Februar 1933 war ein dynamischer Prozess der Machteroberung in vollem Gange, und es lag in der Logik dieses Prozesses, dass so etwas wie die Reichtstagsbrandverordnung und so etwas wie ein umfassender Schlag gegen die Kader der Linksparteien mit irgendeiner Begründung ohnehin verkündet bzw. inszeniert worden wäre."
[1] Das ist jedenfalls die Auffassung der "Intentionalisten", die ich mir hier versuchsweise zu eigen mache.
[2] Zitiert nach Max Domarus: Hitler. Reden und Proklamationen 1932-1945. Würzburg 1962, Bd. 1, S. 207, 211.
[3] in: Deiseroth (Hg.): Der Reichstagsbrand und der Prozess vor dem Reichsgericht. Berlin 2006, S. 31
 
...Der nämlich ist ein Sohn von Hans Schneider, und dieser [1] ist jener Historiker gewesen, der 1960 vom Münchener Institut für Zeitgeschichte (IfZ) beauftragt wurde, die Arbeit von Tobias einer wissenschaftlichen Prüfung zu unterziehen - deren Ergebnis jedoch erst erst 2004 publiziert wurde [2].

Puh, ein langer Vorspann! Der schien mir aber angebracht, weil man in gewisser Weise von einem "Wissenschaftskrimi" sprechen kann

  • Was geschah um 1960 im IfZ mit der Arbeit Schneiders?
  • Welche Auseinandersetzungen wurden in der Folgezeit bis heute geführt?


  • Ein Hinweis am Rande, da der Publikationsvorlauf von 44 Jahren doch seltsam anmutet: einen Zwischen stand hat das IfZ mittelbar durch die Publikation 1988 von Ulrich von Hehl "bekanntgegeben" (Die Kontroverse um den Reichstagsbrand, VfZ 1988, S. 259 - download 8,4 MB). Darin wird auch der "Dokumentenkrimi" von Hofer etc. geschildert.
 
Ein Hinweis am Rande, da der Publikationsvorlauf von 44 Jahren doch seltsam anmutet: einen Zwischen stand hat das IfZ mittelbar durch die Publikation 1988 von Ulrich von Hehl "bekanntgegeben" (Die Kontroverse um den Reichstagsbrand, VfZ 1988, S. 259 - download 8,4 MB). Darin wird auch der "Dokumentenkrimi" von Hofer etc. geschildert.

Mit "seltsam" hast Du wahrlich recht. Seltsam ist z.B. auch, dass Hehl den Namen von Hans Schneider überhaupt nicht kennt/nennt. Er geht auf den "Dokumentenkrimi" ein - aber der ist nicht identisch mit dem, was ich als "Wissenschaftskrimi" bezeichnet habe und demnächst in diesem Theater zum Besten geben werde. :winke:
 
[Der] "Wissenschaftskrimi"...
...fand unter weitgehendem Ausschluß der Öffentlichkeit statt und kam erst nach 2000 ans Licht. Ich konzentriere mich der Regeln wegen auf den älteren Teil und beginne mit dem "Vorlauf".

1.
Die nach 1945 herrschende Meinung zum Reichstagsbrand ergab sich aus dem "Cui bono": die einzigen Nutznießer waren die Nazis, also mussten sie die Brandstifter gewesen sein. Sehr deutlich kam das beim Schweizer Historiker Walther Hofer zum Ausdruck [1]:
"So manches an dieser mysteriöser und hochpolitischen Brandstiftung auch noch ungeklärt sein mag, so ist doch geschichtlich erwiesen, daß es Nationalsozialisten waren, die den Brand organisiert hatten. Hauptbeteiligte waren Goebbels und Göring, die wahrscheinlich, aber nicht erwiesenermaßen, mit Wissen Hitlers handelten. Der später als Brandstifter hingerichtete geistesschwache holländische Kommunist van der Lubbe spielte nur die Rolle eines vorgeschobenen Statisten."
Juristisch verwertbare Beweise konnte jedoch niemand anbieten. Hofer zitierte lediglich eine Aussage von Halder, in seinem Beisein hätte Göring gesagt, "Ich habe ihn [den Reichstag] ja angezündet". [2]

2.
Aber es gab bald nach dem Krieg auch andere Wahrheitssucher. Gestapo-Chef Rudolf Diels ? Wikipedia betonte in einer "Spiegel"-Serie von 1949 [3], als Täter käme nur van der Lubbe allein in Frage; im Übrigen wären "ehemalige Mitarbeiter an der Arbeit, um Klarheit in diese Sache zu bringen". Einige von diesen hatten sich auch bereits zu Wort gemeldet: Gestapo-Abteilungsleiter Heinrich Schnitzler im Januar 1949 in der Schweizer Zeitschrift "Neue Politk", und SS-Hauptsturmführer Bernhard Wehner, der 1949 gemeinsam mit Rudolf Augstein eine 30-teilige "Spiegel"-Serie publizierte, in der die "Elite" des Reichspolizeiamtes unter Arthur Nebe ? Wikipedia fachmännisch gewürdigt wurde. [4] Besonderes Engagement entwickelte Paul Karl Schmidt (alias "Carrell"), der 1957 im "Spiegel" [5] van der Lubbes Alleintäterschaft andeutete, dies 1958 in der "Welt" fortsetzte und kurz darauf im Berliner "Kurier" neue Forschungsergebnisse "eines Regierungsbeamten in Hannover" ankündigte.


[1] Der Nationalsozialismus. Dokumente 1933-1945. Frankfurt 1957, S. 43 - mein erstes Buch überhaupt zu dieser Epoche.
[2] Der Nürnberger Prozeß. Amtliche Textausgabe. Band 9, S. 484. - Göring bestritt das.
[3] Der Reichstagsbrand wurde in DER SPIEGEL*23/1949 und DER SPIEGEL*24/1949 behandelt
[4] Beginnend mit DER SPIEGEL*40/1949.
[5] Siehe DER SPIEGEL*3/1957.
 
Zuletzt bearbeitet:
3.
Der eigentliche Paradigmenwechsel kam anderthalb Jahre später: Von Heft 43/1959 [1] bis 1-2/1960 druckte der "Spiegel" die Serie "Stehen Sie auf, van der Lubbe". Es war ein Gemeinschaftswerk, wie Augstein etwas später schrieb: "Gestützt auf jahrelange Forschungen des Oberregierungsrats Fritz Tobias, Hannover, widerlegte der SPIEGEL [...] die schon 1933 von deutschen Kommunisten propagierte, durch seriöse Historiker verbreitete und in die Schulbücher aufgenommene Legende, die Nationalsozialisten hätten den Reichstagsbrand inszeniert, um ihn den Kommunisten anlasten zu können" [2].

Eiin Werk für die Ewigkeit, wie Augstein ausführte: "Wir konnten beweisen, daß van der Lubbe der Alleintäter war [...] Nein, es hat sich kein Meinungsstreit über die Thesen des Herrn Tobias und des SPIEGEL erhoben. Es konnte keiner aufkommen. Das vorgelegte Material ist in keinem sachlichen Punkt angegriffen worden. Wenn nicht William S. Schlamm auf die Idee kommt, seine Eskapaden und Harlekinaden um eine Anti-Tobias-Attacke zu bereichern, dann wird das Thema hiermit aus und vergessen sein [3]."

4.
Schlamm kam nicht auf die Idee, aber stattdessen schlug nun, wenngleich leise, die Stunde der Geschichtswissenschaft. Das Münchener Institut für Zeitgeschichte (IfZ) mit seinem Direktor Helmut Krausnick beauftragte im März 1960 einen Historiker, die in der "Spiegel"-Serie genannten Fakten zu überprüfen; das Ergebnis sollte in den Vierteljahresheften (VfZ) des Instituts veröffentlicht werden.

Dieser Historiker war der baden-württembergische Oberstudienrat Hans Schneider. Der begab sich sehr engagiert an die Arbeit, kam jedoch langsamer voran als geplant, u.a. aus folgenden Gründen: (a) Die Quellenlage war unübersichtlich, viele wichtige Akten nicht zugänglich. (b) Wichtige Zeitzeugen waren nicht aussagebereit bzw. nur gegenüber Tobias. (c) Schneider ging sehr akribisch zu Werke und arbeitete, wie bei Auftragsvergabe bekannt, nebenamtlich.

Gleichzeitig war jedoch Tobias daran gegangen, sein Material aufzubereiten und in Buchform zu bringen; es wuchs bis zur Publikation Ende 1961 auf über 700 Seiten an [4]. Schneider sah sich genötigt, dieses Werk in seinem Gutachten mit zu berücksichtigen.

5.
Mitte 1962 hatten Schneiders gutachterliche Äußerungen einen Umfang von 56 Seiten erreicht [5]. Darin unterzog er die Arbeit von Tobias einer insgesamt vernichtenden Kritik, indem er auf eine große Zahl von Entstellungen, Verkürzungen - kurz: handwerklichen Fehlern - verwies und eine starke Voreingenommenheit konstatierte.

Zu einer ähnlichen Einschätzung war inzwischen der Historiker Hermann Graml gekommen. In dem Gutachten für einen Zivilprozess bezeichnete er das Tobias-Buch als tendenziös, unwissenschaftlich und unseriös [6].

[1] DER SPIEGEL*43/1959 - STEHEN SIE AUF VAN DER LUBBE!
[2] DER SPIEGEL*5/1961 - Der letzte Zeuge
[3] DER SPIEGEL*3/1960 - Lieber Spiegel-Leser
[4] Der Reichstagsbrand. Legende und Wirklichkeit. Rastatt 1962
[5] Abgedruckt in: Hans Schneider, Neues vom Reichstagsbrand, Berlin 2004, S. 53-179
[6] So Alexander Bahar in: Dieter Deiseroth (Hrsg.), Der Reichstagsbrand und der Prozeß vor dem Reichsgericht. Berlin 2006, S. 164
 
6.
Bereits während der Arbeit Schneiders zeichnete sich ein tiefgreifender Dissens mit dem IfZ ab, wie aus einem Vermerk des IfZ-Mitarbeiters Hans Mommsen vom 24.7.1961 über eine Besprechung mit Schneider hervorgeht:
"Längere Zeit wird darüber gesprochen, ob es es sich um eine Infragestellung, eine Erschütterung oder eine Widerlegung der Tobias-Spiegel-These handeln soll. Während Herr Schneider eine Widerlegung im Auge hatte, wurde unsererseits übereinstimmend betont, daß aus taktischen Gründen eine Infragestellung bzw. Erschütterung durchaus genügen würde. Eine Widerlegung würde den positiven Nachweis der 'eigentlichen' Täter voraussetzen, wozu man aber nach dem Stand der Unterlagen - wenn überhaupt - bis auf weiteres nicht in der Lage ist." [1]
Am 5.5.1962 schrieb Schneider dem IfZ: "Es ist erwiesen bzw. wird erwiesen werden, dass die Zeugenaussagen eine Alleintäterschaft Marinus van der Lubbe ausschließen und dass der entgegenstehende Eindruck von Tobias nur durch eine Art der Argumentation und Dokumentation gewonnen und glaubhaft gemacht werden konnte, die in der Wissenschaft ohne Beispiel ist und vom arglosen Leser nicht für möglich gehalten wird."

7.
Mit dem im Herbst 1962 vorgelegten Zwischenergebnis Schneiders zeigte sich der Auftraggeber nicht zufrieden. Direktor Krausnick führte am 9./11.11.1962 - laut Aktennotiz [2] - drei Besprechungen mit Schneider, worin er ihm mitteilte, das Werk wäre nicht publikationsreif und das IfZ könnte sich die Ergebnisse auch nicht zu eigen machen. Daher wäre beabsichtigt, einen IfZ-Mitarbeiter ersatzweise mit der Ausarbeitung eines Beitrags zu beauftragen; Schneider sollte dafür sein Manuskript und das gesammelte Material zur Verfügung stellen und 2000 DM dafür bekommen. Schneider lehnte das ab.

Das IfZ arbeitete nunmehr an einer Strategie, wie man den Widerstand Schneiders überwinden könnte. Mommsen fasste das Ergebnis einer Besprechung in einer Aktennotiz zusammen. Auszüge [4]:

  • "Das Institut hat ein Interesse, die Publikation des Manuskripts von Herrn Schneider zu verhindern, weil [...] b) aus allgemeinpolitischen Gründen eine derartige Publikation unerwünscht zu sein scheint [...].
  • Gegenüber Schneider wäre "trotz der ungünstigen Rechtslage das Recht auf eine selbständige Publikation vorsorglich und unverzüglich zu bestreiten. Es wäre indessen vielleicht angezeigt, durch Druck auf Schneider vermittels des Stuttgarter Ministeriums [= Dienstherr von S.] ihn zur Nachgiebigkeit zu bewegen."
  • Das Verhinderung einer Publikation von S. wäre rechtlich aussichtslos. "Andererseits ist es angezeigt, in den Verhandlungen mit diesem von Herrn Schneider auf Grund mangelnder juristischer Beratung offensichtlich ernst genommenen Argument diesen zu einem Vergleich zu bewegen."
8.
Abschließend teilte Krausnick mit Schreiben vom 30.11.1962 Schneider die Aufhebung des Vertrages von 1960 mit [5], weil "weder ein wissenschaftlich haltbares noch ein formal publikationsfähiges Manuskript erwartet werden kann." Das vorliegende Manuskript könnte "von uns nicht zur Veröffentlichung freigegeben werden". Für den Fall, dass Schneider seine Ergebnisse anderswo publizieren wollte, müsste das IfZ erhebliche "Regreßansprüche" für Materialbeschaffung und andere Dienstleistungen geltend machen. Überdies müsse Schneider dann "mit einer scharfen Kritik des Instituts in der Öffentlichkeit rechnen", und es wäre "wenig wahrscheinlich", daß sich ernsthafte Befürworter Ihrer These finden werden [...]."


[1] Zitiert nach dem Abdruck in Schneider, a.a.O., S. 225 ff.
[2] Abdruck a.a.O., S. 228 ff.
[3] Zitiert nach Hersch Fischler in: a.a.O., S. 244
[4] Abdruck a.a.O., S. 231 ff.
[5] Abdruck a.a.O., S. 235 ff.
 
9.
Schneider widersetzte sich der Vertragsaufhebung nicht. Jedoch meldete er sich bei zwei Anlässen nochmals zu Wort, nämlich 1963 beim Rechtsstreit zwischen dem SA-Mann Gewehr und dem Publizisten Gisevius und 1966 beim Wiederaufnahmeverfahrens, das der Bruder des hingerichteten Marinus van der Lubbe angestrengt hatte.

In dem Argumentationspapier "Nach dreißig Jahren. Feststellungen zur Beweislage im Reichstagsbrandproblem", fasste er nochmals den Extrakt seiner Forschungen zusammen [1]. Wie sehr ihn die Sache noch beschäftigte, zeigte die letzte Fußnote: "Die von mir unternommene Gegenüberstellung von 'Schein und Wirklichkeit' bei Tobias steht, ohne vollständig zu sein, bei 330 Seiten."

10.
Den inzwischen überfälligen Aufsatz für die VfZ zu schreiben, übernahm Hans Mommsen; sein Ergebnis wurde im Oktober 1964 publiziert [2]. Was die Brandstiftung selbst betrifft, gab Mommsen an, sich "auf die detaillierte Untersuchung von Tobias" zu stützen, mit dem er "bis auf kleine Abweichungen übereinstimme" (Fn. 22). Den größeren Teil seiner Arbeit (S. 382 ff.) widmete Mommsen ohnehin den "politischen Folgen".

Auf die Arbeit Schneiders ging Mommsen ganz am Rande ein (Fn. 17): "Ich kann mich - bei Anerkenntnis einer Reihe von durchweg unwesentlichen Zitier- und Übersetzungsfehlern bei Tobias - nicht der mir unbegreiflichen Ansicht Schneiders anschließen, Tobias habe eine 'objektive Verfälschung des Tatbestandes' vorgenommen. Es bleibt abzuwarten, ob Schneider seine mir im Manuskript bekannte Gegendarstellung herausbringt."

11.
Die Buchveröffentlichung von Tobias zog eine ausgedehnte Diskussion nach sich, auf die ich hier nicht weiter eingehe. Bezüglich des Falles sei erwähnt, dass nach der "Wende" die vollständigen Prozeßakten zugänglich gemacht wurden, was den Versuchen, Tobias zu widerlegen, neuen Auftrieb gab.

12. (und Schluss)
Hans Schneider starb 1994. Zwei Jahre zuvor hatte Hersch Fischler im IfZ-Archiv den ungedruckten Beitrag entdeckt, aber erst im Jahre 2000 dessen Stellenwert erkannt. Sein besonderes Interesse galt der Behandlung Schneiders durch das IfZ und insbesondere der Rolle Mommsens; beides rügte er in verschiedenen Beiträgen.

Die Leitung des IfZ veröffentlichte daraufhin im Juli-Heft 2001 der VfZ [3] eine Notiz "Zur Kontroverse über den Reichstagsbrand", worin es hieß: Die "Äußerungen von Hans Mommsen [siehe oben Ziffer 7] sind unter wissenschaftlichen Gesichtspunkten völlig inakzeptabel." Zu seiner eigenen Rolle und der seines damaligen Direktors äußerte sich das Institut nicht, auch nicht - wie mir der Sohn auf Anfrage bestätigte - gegenüber Schneider direkt; letzteres gilt auch für Mommsen.


[1] Abdruck in Schneider, a.a.O., S. 183-191
[2] http://www.ifz-muenchen.de/heftarchiv/1964_4.pdf, S. 351 ff.
[3] http://www.ifz-muenchen.de/heftarchiv/2001_3.pdf, S. 555
 
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