3.
Der eigentliche Paradigmenwechsel kam anderthalb Jahre später: Von Heft 43/1959 [1] bis 1-2/1960 druckte der "Spiegel" die Serie "Stehen Sie auf, van der Lubbe". Es war ein Gemeinschaftswerk, wie Augstein etwas später schrieb: "Gestützt auf jahrelange Forschungen des Oberregierungsrats Fritz Tobias, Hannover, widerlegte der SPIEGEL [...] die schon 1933 von deutschen Kommunisten propagierte, durch seriöse Historiker verbreitete und in die Schulbücher aufgenommene Legende, die Nationalsozialisten hätten den Reichstagsbrand inszeniert, um ihn den Kommunisten anlasten zu können" [2].
Eiin Werk für die Ewigkeit, wie Augstein ausführte: "Wir konnten beweisen, daß van der Lubbe der Alleintäter war [...] Nein, es hat sich kein Meinungsstreit über die Thesen des Herrn Tobias und des SPIEGEL erhoben. Es konnte keiner aufkommen. Das vorgelegte Material ist in keinem sachlichen Punkt angegriffen worden. Wenn nicht William S. Schlamm auf die Idee kommt, seine Eskapaden und Harlekinaden um eine Anti-Tobias-Attacke zu bereichern, dann wird das Thema hiermit aus und vergessen sein [3]."
4.
Schlamm kam nicht auf die Idee, aber stattdessen schlug nun, wenngleich leise, die Stunde der Geschichtswissenschaft. Das Münchener Institut für Zeitgeschichte (IfZ) mit seinem Direktor Helmut Krausnick beauftragte im März 1960 einen Historiker, die in der "Spiegel"-Serie genannten Fakten zu überprüfen; das Ergebnis sollte in den Vierteljahresheften (VfZ) des Instituts veröffentlicht werden.
Dieser Historiker war der baden-württembergische Oberstudienrat Hans Schneider. Der begab sich sehr engagiert an die Arbeit, kam jedoch langsamer voran als geplant, u.a. aus folgenden Gründen: (a) Die Quellenlage war unübersichtlich, viele wichtige Akten nicht zugänglich. (b) Wichtige Zeitzeugen waren nicht aussagebereit bzw. nur gegenüber Tobias. (c) Schneider ging sehr akribisch zu Werke und arbeitete, wie bei Auftragsvergabe bekannt, nebenamtlich.
Gleichzeitig war jedoch Tobias daran gegangen, sein Material aufzubereiten und in Buchform zu bringen; es wuchs bis zur Publikation Ende 1961 auf über 700 Seiten an [4]. Schneider sah sich genötigt, dieses Werk in seinem Gutachten mit zu berücksichtigen.
5.
Mitte 1962 hatten Schneiders gutachterliche Äußerungen einen Umfang von 56 Seiten erreicht [5]. Darin unterzog er die Arbeit von Tobias einer insgesamt vernichtenden Kritik, indem er auf eine große Zahl von Entstellungen, Verkürzungen - kurz: handwerklichen Fehlern - verwies und eine starke Voreingenommenheit konstatierte.
Zu einer ähnlichen Einschätzung war inzwischen der Historiker Hermann Graml gekommen. In dem Gutachten für einen Zivilprozess bezeichnete er das Tobias-Buch als tendenziös, unwissenschaftlich und unseriös [6].
[1]
DER SPIEGEL*43/1959 - STEHEN SIE AUF VAN DER LUBBE!
[2]
DER SPIEGEL*5/1961 - Der letzte Zeuge
[3]
DER SPIEGEL*3/1960 - Lieber Spiegel-Leser
[4] Der Reichstagsbrand. Legende und Wirklichkeit. Rastatt 1962
[5] Abgedruckt in: Hans Schneider, Neues vom Reichstagsbrand, Berlin 2004, S. 53-179
[6] So Alexander Bahar in: Dieter Deiseroth (Hrsg.), Der Reichstagsbrand und der Prozeß vor dem Reichsgericht. Berlin 2006, S. 164