Die Neutralität der Schweiz

donna

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Eine Frage, die mich im Zusammenhang mit dem 2. Weltkrieg immer wieder beschäftigt, ist, wie es der Schweiz gelungen ist, neutral zu bleiben und von Hitler nicht angegriffen zu werden. Und dies, obwohl bekannt war, dass dort doch viele Juden ein Asyl gefunden hatten oder die Schweiz als Ausgangspunkt für eine Ausreise z.B. nach Amerika nutzten.
Gruß Donna
 
Hallo,

nach der Niederlage Frankreichs war das durchaus in Erwägung gezogen worden - Operation "Tannenbaum". Die OKH-Pläne lagen abschließend vor, von GFM Ritter von Leeb vorbereitet (u.a. während seines "Urlaubs").

Nach 1941 ist man wohl nicht mehr zu weiteren Überlegungen gekommen und hat das Vorhaben aufgeschoben.

Empfehlung: Urner, Klaus, Die Schweiz muss noch geschluckt werden , 1990, 210 Seiten
mit den Plänen und Überlegungen.

EDIT:
Pläne waren schon frühzeitig vorhanden:
Am 21.10.1939 äußerte Hitler in einer Rede vor den Gau- und Reichsleitern, dass er beabsichtige, ein Deutschland zu schaffen, wie es früher bestanden habe, indem er sich Belgien und die Schweiz einverleiben werde.
(Müller, Das Heer und Hitler, S. 493 sowie BA-MA H 08-104/2)
 
Eine Frage, die mich im Zusammenhang mit dem 2. Weltkrieg immer wieder beschäftigt, ist, wie es der Schweiz gelungen ist, neutral zu bleiben und von Hitler nicht angegriffen zu werden. Und dies, obwohl bekannt war, dass dort doch viele Juden ein Asyl gefunden hatten oder die Schweiz als Ausgangspunkt für eine Ausreise z.B. nach Amerika nutzten.
Gruß Donna

Auf die schnelle kann man das nicht erklären. Hier der Link zum Historischen Lexikon der Schweiz und dem Artikel über den zweiten Weltkrieg, lies das mal durch ich denke da bekommst du eine Antwort auf deine Frage.

http://hls-dhs-dss.ch/textes/d/D8927.php

Und dann hier noch die Diskussion über das Angriffsziel Schweiz:

http://www.geschichtsforum.de/showthread.php?t=8977
 
Und dies, obwohl bekannt war, dass dort doch viele Juden ein Asyl gefunden hatten oder die Schweiz als Ausgangspunkt für eine Ausreise z.B. nach Amerika nutzten.
Gruß Donna

Juden galten in der Schweiz nicht als politische Flüchtlinge, auf Initative der Schweiz wurde in den Passen der deutschen Juden ab Oktober 1938 ein J eingestempelt.

1942 hat die Schweiz ihre Grenzen geschlossen und das obwohl Bern über die Judenverfolgungen in Osteuropa informiert war. Ca. 21.000 Juden fanden während des zweiten Weltkrieges aufnahme in der Schweiz, mit denen die vor 1938 in die Schweiz kamen waren es ca. 28.000.

Quelle: Historisches Lexikon der Schweiz
 
Zuletzt bearbeitet:
Hallo nochmal,

hier eine Karte:
http://kszofingen.educanet2.ch/gsc2003d/.ws_gen/11/Operation_Tannenbaum.pdf

Interessant ist, dass ein Zusammenwirken mit italienischen Truppen und eine (Interessen-?)Trennungslinie vorgesehen waren.

Das Vorhaben Ende 1940 war rein operativ durch die Vorbereitung des Rußlandfeldzuges sowie der Operation Marita undurchführbar. Zudem wäre der italienische Verbündete wegen Griechenland und Nordafrika weitgehend ausgefallen.

Zum Zeitplan: Die überschlägige Sommerplanung (aus dem Urlaub nach dem Ffrankreichfeldzug) sollte Ritter von Leeb in Klausur ab 1. Oktober 1940 in eine Operationsplanung überführen, Quelle: Tagebuch.
 
Interessant ist, dass ein Zusammenwirken mit italienischen Truppen und eine (Interessen-?)Trennungslinie vorgesehen waren...
Daß Italien mit einbezogen war, ist schon interessant, aber nicht überraschend. Die "Interessenlinie" ist dagegen schon etwas überraschender, da nicht zu 100% völkisch geprägt, wie eigentlich zu erwarten gewesen wäre.
 
So neutral war die Schweiz ja auch nicht, wusch sie immerhin Nazigold und hat auch Juden die Einreise verweigert trotz Wissen, was mit denen passiert. Viele Juden wurden im Wissen, umgebracht zu werden, zurück geschickt. Die vermögen der Nazis wurden reingewaschen trotz des Wissens um die herkunft. Hätte die Schweiz nicht als Finanzmarkt von Deutschland hergehalten, hätte der Krieg schon früher beendet werden müssen, weil schlicht das Geld gefehlt hätte, darüber sind sich einige Historiker einig. Unter Neutralität verstehe ich etwas anderes.
 
So neutral war die Schweiz ja auch nicht, ...Unter Neutralität verstehe ich etwas anderes.

Manche Betrachtungen lassen sich aus dem Schutz des zeitlichen Abstandes ganz gemütlich vertreten. Ganz nah am heißen Feuer sieht das schon anders aus:

Ohne jetzt irgendwelche Beschuldigungen zu werten, stelle ich mir mal den kleinen Nachbarstaat vor, eingekeilt zwischen dem faschistischen Italien und dem nationalsozialistischen Deutschland, als spätere Steigerung dem besiegten Frankreich im Juni 1940. Beobachter des Anschlusses von Österrreich und dem Sudetenland.

Von daher sollte man zumindest einmal unterscheiden, über welche Zeiträume man hinsichtlich welcher Handlungen und welchen Drucks man redet.

Die Schweiz hat diese Beziehungen mE auch in einer Dokumentation aufgearbeitet.


Abgesehen davon ist Tekkers Frage völlig berechtigt.
 
Unter Neutralität verstehe ich etwas anderes.

Da muss man sich fragen was ist den Neutralität?

"Neutralität eines Staates bedeutet die Nichtteilnahme an bewaffneten Konflikten und den Verzicht auf militärische Unterstützung von Kriegsführenden." dies sagte der Völkerrechtsprofessor Dietrich Schindler. Das Neutralitätsrecht wird im Völkerrecht geregelt. Es gelten die Regeln des Hagener Neutralitätsabkommen von 1907,

Die Schweiz hat eine lange Neutralitätsgeschichte, darauf gehe ich jetzt nicht ein. Nur ganz kurz, in der Bundesverfassung wird die Neutralität nicht erwähnt. Die Neutralität in der Schweiz galt als Instrument zur Sicherung der Unabhängigkeit gegenüber andern Staaten.

Im ersten und im zweiten Weltkrieg betrieb die Schweiz die bewaffnete Neutralität, d.h. sie konnten ohne das Neutralitätsrecht zu verletzten ihre Grenzen besetzten. Der zweite Weltkrieg war eine der grössten Bewährungsproben für die schw. Neutralität. Dietrich Schindler sagte dazu:
"Die Grossmächte schauten der Aggressionspolitik Hitlers lange Zeit tatenlos zu. Der Völkerbund scheiterte, weil die grossen Mächte ihre Verantwortung nicht wahrnahmen. Amerika trat erst 1941 dem Krieg bei. Für die Schweiz war während des ganzen Krieges eine Teilnahme ausgeschlossen, ausser wenn sie angegriffen worden wäre."

Allerdings deckten sich nicht alle Massnahmen der Bundesbehörde mit den Geboten des neutralen Staates.

- Waffenausfuhr nach Deutschland mit grosszügigen Krediten, widersprach dem Neutralitätsrecht

- Entgegennahme von Gold der Deutschen Reichsbank, ohne die sorgfältige Prüfung seiner Herkunft.

- Und die Schliessung der Grenzen.

Die Schliessung der Grenzen war nach damaligem Neutralitätsrecht erlaubt, verstiess aber gegen den Sinn und Geist des Völkerrechts.

Hätte die Schweiz nicht als Finanzmarkt von Deutschland hergehalten, hätte der Krieg schon früher beendet werden müssen, weil schlicht das Geld gefehlt hätte, darüber sind sich einige Historiker einig

Welche Historiker den? Soviel mir ist hat die Bergier-Kommission diese These widerlegt. Ich muss das aber noch genauer nachschauen.
 
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Welche Historiker den? Soviel mir ist hat die Bergier-Kommission diese These widerlegt. Ich muss das aber noch genauer nachschauen.

Hab es gefunden:

Krieg verlängert?

Zusammen mit der Humanität habe bei diesen Abwägungen auch die unentwegt hochgehaltene Fahne der Neutralität Schaden erlitten. So setzte man sich beim sogenannten Milliardenkredit an das "Dritte Reich", bei der Lieferung von Kriegsmaterial oder der ungenügenden Kontrolle des Zugsverkehrs Italien-Deutschland ohne Zögern über die Neutralitätsdoktrin hinweg.

Die Schweiz habe dazu beigetragen, dass NS-Deutschland 1933/35 praktisch aus dem Stand heraus in die Massenproduktion von Rüstungsgütern einsteigen konnte, so der Bericht. Beim Aussenhandel kommt die UEK anders als der 1997 veröffentlichte "Eizenstat-Bericht" der US-Regierung zum Schluss, dass "wissenschaftlich nicht überprüfbar" sei, ob die Schweiz mit ihrer Aussenwirtschaftspolitik den Zweiten Weltkrieg verlängert hat.

Quelle: Tagesberichte: ETH Life - das tägliche Webjournal
 
Waffenausfuhr nach Deutschland mit grosszügigen Krediten, widersprach dem Neutralitätsrecht
Zwischenfrage: Geht nicht auch das Leih- und Pachtgesetz in diese Richtung?

Die Schliessung der Grenzen war nach damaligem Neutralitätsrecht erlaubt, verstiess aber gegen den Sinn und Geist des Völkerrechts.
Diesen Widerspruch kann ich nicht nachvollziehen. Die Erlaubnis der Schließung der Grenzen war gem. Völkerrecht also explizit erlaubt. Über "Sinn und Zweck" des Völkerrechts können wir lange philosophieren, das kann aber nicht bedeuten, daß die Einhaltung einzelner Normen nun nicht mehr rechtens wäre.
 
Zwischenfrage: Geht nicht auch das Leih- und Pachtgesetz in diese Richtung?


Diesen Widerspruch kann ich nicht nachvollziehen. Die Erlaubnis der Schließung der Grenzen war gem. Völkerrecht also explizit erlaubt. Über "Sinn und Zweck" des Völkerrechts können wir lange philosophieren, das kann aber nicht bedeuten, daß die Einhaltung einzelner Normen nun nicht mehr rechtens wäre.

Gems. Neutralitätsrecht war es erlaubt. Gem Völkerrecht war es nicht erlaubt. Ich verstehe das so. Völkerrechtlich war es nicht erlaubt die Grenzen für Flüchtlinge zu schliessen. Das Neutralitätsrecht erlaubte diesen Schritt aber.

Kann aber sein das ich das einfach Missverstehe.

Und über Sinn und Zwech möchte ich nicht philosophieren :pfeif:

Neutralitätsrecht schrieb:
. Definition
Neutralität ist ein völkerrechtlicher definierter Status eines Staates, der an einem bewaffneten Konflikt zwischen anderen Staaten nicht teilnimmt.
Nämlich, gemäss geltendem Recht, hat ein Staat das Recht zu wählen, ob er sich auf der Seite des Opfers eines bewaffneten Angriffs beteiligen will, oder ob er neutral bleiben will. Die Beteiligung auf Seite des Angreifers ist dagegen nicht mehr erlaubt.
Die Entscheidung wird von der Staatsleitung getroffen. Wird dieses Entscheid schon in Friedenszeiten gefällt, redet man von dauernder Neutralität.
Als Folge ist vom Anfang eines bewaffneten Konfliktes, bis zu ihrem Schluss, das Neutralitätsrecht anzuwenden, das von der Neutralitätspolitik zu unterscheiden ist.
Das Neutralitätsrecht ist in verschiedenen Abkommen geregelt. Daraus folgen verschiedene Rechte und Pflichten. Auf der eine Seite steht das Recht des neutralen Staates, durch den Konflikt unberührt und unbeeinträchtigt zu bleiben. Auf der anderen Seite steht die Pflicht zur Unparteilichkeit, was insbesondere das Unterlassen von Unterstützungshandlungen zugunsten einer Konfliktpartei bedeutet.



II. Wichtige Rechtsquellen
1. Das internationale Recht

Das Neutralitätsrecht ist Teil des Gewohnheitsrechts. Zudem ist es im Völkerrecht verankert.

1.1. Die 1907 Haager Abkommen und die 1949 Genfer Abkommen

In den V und XIII Haager Abkommen vom 18. Oktober 1907, im Abkommen vom 18. Oktober 1907 betreffend die Gesetze und Gebräuche des Landkriegs (mit Ordnung), und in der Genfer Abkommen von 1949 (wie auch in den I. und II. Zusatzprotokoll von 1977) werden die Rechte und Pflichten der Neutralen im Krieg erstmals schriftlich festgehalten. Die wichtigsten Rechte und Pflichten der neutralen Staaten sind:

Nichtteilnahme an Kriegen;


im Fall, aber, dass Truppen von Konfliktparteien auf das neutrale Territorium übertreten, muss der neutrale Staat diese internieren (Art. 11,12 HA V, Art. 111 III GA)). Entflohenen Kriegsgefangenen, denen erlaubt wird, im neutralen Land zu bleiben, kann ein Aufenthaltsort aufgezwungen werden (Art. 13 HA V);


Selbstverteidigung (Art. 5 HA V, Art. 2, 9, 24 HA XIII);


Keine Söldner für die Kriegsparteien (Art. 47 ZP I);


Gleichbehandlung der Kriegführenden;


Verboten ist vor allem die Lieferung von Kriegsschiffen, Munition und sonstigem Kriegsmaterial (Art. 6 HA XIII). Gemäss Art. 7 HA V braucht ein neutraler Staat die Aus- und Durchfuhr von Kriegsmaterial durch Private zugunsten einer Konfliktpartei nicht zu verbieten;


Die Humanitäre Hilfeleistung zugunsten der Kriegsopfer ist dagegen Neutralität-kompatibel, auch wenn sie nur zugunsten der Opfer einer Seite erfolgt (Art. 14 HA V);


Keine Zurverfügungstellung des Territoriums für die Kriegsparteien (Art. 1 und 4 HA V);


Truppen und Versorgungstransporte dürfen auf neutralem Staatsgebiet nicht stattfinden (Art. 2 HA V). Der neutrale Staat kann aber den Transit von Verwundeten und Hilfsgüter erlauben (Art. 14 HA V);


Der Luftraum eines neutralen Staates ist unverletzlich (Art. 40 HLKR);


Der neutrale Staat ist verpflichtet, Verletzungen zu verhindern (vgl. Art. 42 HLKR);


Sanitätsluftfahrzeugen kann aber erlaubt werden, das Gebiet zu überfliegen und zwischenzulanden (Art. 17 HLKR, Art. 37 GA I, Art. 40 GA II, Art. 31 ZP I);


Zentrale Bedeutung hat das Recht auf Unverletzlichkeit des eigenen Territoriums. Seit der Haager Abkommen von 1907 ist es nicht zu einer umfassenden neue Kodifikation des Neutralitätsrechts gekommen. Diese Regeln sind zudem z.T. von der Praxis überholt worden.

Quelle: Neutralitätsrecht

Hier noch der Link zum Abkommen vom 18. Oktober 1907 betreffend die Gesetze und Gebräuche des Landkriegs (mit Ordnung)

http://www.admin.ch/ch/d/sr/i5/0.515.112.de.pdf
 
Zuletzt bearbeitet:
Auch für das Völkerrecht gilt das "Ultra posse nemo obligatur", d.h. keiner muß mehr leisten, als er vermag.

Und so umzingelt wie die Schweiz damals über Jahre war, bei extremer Ressourcenknappheit und einer Militärmacht gegenüber, die weit stärkere Länder mühelos besiegt hatte - da wäre es schon vermessen zu verlangen, sich mit übergenauer Interpretation von Regeln aus dem Fenster zu lehnen und die eigene Existenz zu gefährden.
 
Ich glaube, der Hinweis bezüglich der Schließung von Grenzen zielte mehr auf eine moralische Bewertung ab.

Jedem Staat ist erlaubt, seine Grenzen für die Einreise zu schließen, wenn er daraus eine bedrohliche Situation befürchtet oder sich die Bedrohung durch Nachbarn verstärkt, etc. Die Antwort kann mE hierfür auch nicht das damalige Völkerrecht geben (wenn nicht solche Zuwanderung explizit zu erlauben ist), sondern das innerstaatliche Recht.

Damit wäre man bei der schwierigen Frage, warum die Schweiz die Grenzen geschlossen bzw. die Einreise reglementiert hat. Ich unterstelle mal (ich weiss das aber nicht), dass diese Schließung auf Basis des Schweizer Rechts erfolgte.

Ein völlig andere Frage wäre, auch unter Abwägung des Drucks in der schwierigen Lage zu den Nachbarn, wie man das Verhalten ethisch-moralisch rechtfertigt.
 
Aus dem Schlussbericht der Bergier-Kommission:

Seit dem Frühjahr 1942 stieg die Zahl der Flüchtlinge, die in die Schweiz zu
gelangen versuchten: Waren im April 55 Flüchtlinge illegal über die Grenze
gelangt und von der Polizeiabteilung interniert worden, so registrierte man im
Juli 243 Personen. Insgesamt war es seit April 1942 zu rund 450 unbewilligten
Einreisen gekommen, als Robert Jezler, Rothmunds Stellvertreter, in seinem
Bericht vom 30. Juli 1942 festhielt:
«Die übereinstimmenden und zuverlässigen Berichte über die Art und
Weise, wie die Deportationen durchgeführt werden, und über die Zustände
in den Judenbezirken im Osten sind derart grässlich, dass man die verzweifelten
Versuche der Flüchtlinge, solchem Schicksal zu entrinnen, verstehen
muss und eine Rückweisung kaum mehr verantworten kann.»24
Dennoch betonte er, man dürfe in der heutigen Kriegszeit, in der auch die
Schweiz in gewissem Sinn um ihre Existenz kämpfen müsse, «nicht zimperlich»
sein, und empfahl, bei der Aufnahme von Flüchtlingen in Zukunft «grosse
Zurückhaltung» zu üben.25 Rothmund leitete den Bericht gleichentags an
Bundesrat von Steiger weiter und fragte seinen Vorgesetzten im Begleitschreiben:
«Was sollen wir tun?» Deserteure, entwichene Kriegsgefangene – falls
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diese weiterreisen könnten – sowie politische Flüchtlinge im Sinne des Bundesratsbeschlusses
von 1933 würden aufgenommen. «Dieser Beschluss ist jedoch
heute fast zur Farce geworden, denn jeder Flüchtling ist schon wegen der Flucht
in Todesgefahr. [...] Rückweisung nur der Juden? Dies drängt sich fast auf.»
Entgegen dem Bundesratsbeschluss vom 17. Oktober 1939 habe die Polizeiabteilung
«seit einiger Zeit fast keine Flüchtlinge mehr zurückgewiesen. Ohne
Sie zu fragen. Ich scheue mich nicht, die Verantwortung dafür zu tragen. Der
Bundesrat wird diese Praxis kaum desavouieren, wenn er den Bericht Dr. Jezlers
liest.» Anschliessend schlug Rothmund vor, kleine mobile Überwachungstrupps
zu schaffen und diese an verschiedenen häufig benützten Grenzübergängen
jeweils einige Tage einzusetzen und dort die Flüchtlinge konsequent
zurückzuweisen. Damit sollten die Passeure abgeschreckt und der Zustrom der
Flüchtlinge «auf ein erträgliches Mass zurückgeführt werden». Wo die Grenzbewachung
nicht verstärkt sei, würden Übertritte jedoch weiterhin zugelassen.
Das Dokument ist in seiner Widersprüchlichkeit Ausdruck der Beunruhigung
und Orientierungslosigkeit eines Chefbeamten, der seinen Vorgesetzten bat,
ihm «morgen Abend oder am Samstag Vormittag Gelegenheit zur Besprechung
zu geben».26 Ob es zu dieser Besprechung kam und was Bundesrat von Steiger
erklärte, ist nicht überliefert. Am 4. August 1942 verfasste Rothmund eine Präsidialverfügung,
die von Steiger und der Bundespräsident Etter guthiessen und
die der Gesamtbundesrat, der zwischen dem 29. Juli und dem 14. August 1942
nicht zusammentrat, im nachhinein genehmigte. Diese bundesrätliche Verfügung
schloss mit der Feststellung, dass «künftig also in vermehrtem Masse
Rückweisungen von ausländischen Zivilflüchtlingen stattfinden müssen, auch
wenn den davon betroffenen Ausländern daraus ernsthafte Nachteile (Gefahr für
Leib und Leben) erwachsen könnten».27
Das Kreisschreiben der Polizeiabteilung vom 13. August 1942 an die zivilen
und militärischen Behörden präzisierte die Massnahmen. Der Zudrang von
Flüchtlingen und «insbesondere von Juden unterschiedlichster Nationalität»
nehme Dimensionen an, die an die Flucht der Juden im Jahre 1938 erinnerten.
Angesichts der Lebensmittelversorgung im Land, des innen- und aussenpolitischen
Sicherheitsbedürfnisses sowie der Unmöglichkeit, alle zu beherbergen, zu
überwachen und ein neues Aufnahmeland für sie zu finden, sei die Rückweisung
dieser Flüchtlinge nötig: «Flüchtlinge nur aus Rassengründen, z.B. Juden,
gelten nicht als politische Flüchtlinge.» Sie waren strikt zurückzuweisen, wobei
sie beim ersten Mal schwarz über die Grenze zurückgeschoben, im Wiederholungsfall
jedoch den zuständigen Behörden auf der anderen Seite direkt übergeben
werden sollten. In der Praxis waren staatenlose Flüchtlinge diesen
Bestimmungen schutzlos ausgeliefert, während die Behörden gegenüber
Flüchtlingen aus Staaten, deren Exilregierungen sich – wie im Falle Belgiens
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oder der Niederlande – für ihre Bürger einsetzten, gelegentlich zu Konzessionen
bereit waren. Deserteure, entwichene Kriegsgefangene und andere Militärpersonen,
politische Flüchtlinge im engen Sinne und sogenannte Härtefälle
– Alte, Kranke, Kinder, schwangere Frauen – sollten nicht zurückgewiesen werden.
28 Die Behörden hielten also wider besseres Wissen an der engen Definition
des politischen Flüchtlings fest. Hatte Rothmund von einer Farce gesprochen,
so hielt eine protokollarische Notiz die Äusserungen von Steigers an der Polizeidirektorenkonferenz
vom 28. August 1942 mit folgenden Stichworten fest:
«Politischer Flüchtling. Theorie nützt nicht. Jude auch eine Art politischer
Flüchtling.»29
Aufnahme und Rückweisung von Zivilflüchtlingen 1942 bis 1945
Dass trotz der Weisungen vom 13. August 1942 in den folgenden Monaten
mehrere Tausend Flüchtlinge in die Schweiz gelangten und interniert wurden,
hatte – abgesehen von der Aufnahme in Härtefällen – im wesentlichen zwei
Gründe: Erstens gelang es nicht, die Grenze im beabsichtigten Mass zu überwachen.
Wer aber auf eigene Faust oder mit Unterstützung von Fluchthelfern
den Grenzbereich, der im Dezember 1942 als ein zehn bis zwölf Kilometer breiter
Gebietsstreifen definiert wurde, überwunden hatte und ins Landesinnere
gelangt war, wurde in der Regel nicht mehr ausgeschafft, da die örtliche Bevölkerung
wiederholt gegen derartige Ausschaffungen protestiert hatte. Zweitens
kam es infolge der Grenzschliessung im Spätsommer 1942 zu einem landesweiten
öffentlichen Protest und zu direkten Interventionen bei den Behörden
sowohl durch den Schweizerischen Israelitischen Gemeindebund als auch durch
verschiedene namhafte Persönlichkeiten. Als Folge dieser Proteste wurden die
beschlossenen Massnahmen in der Praxis gelockert. Als sich die öffentliche
Diskussion gelegt hatte, wurden die Weisungen jedoch wieder verschärft und
die Anstrengungen zur Überwachung der Grenze intensiviert. Dies drückt sich
auch in Zahlen aus: Vom 1. September bis 31. Dezember 1942 wurden 7372
Flüchtlinge aufgenommen; statistisch belegt sind für denselben Zeitraum 1264
Wegweisungen. Vom 1. Januar bis 31. August 1943 stehen 4833 aufgenommenen
Flüchtlingen 2243 registrierte Wegweisungen gegenüber.30
Im September 1943 kapitulierte Italien; Mittel- und Norditalien wurde von der
Wehrmacht besetzt; unmittelbar darauf begann die Deportation der Juden.
Nun flohen Tausende Richtung Tessin: Juden, politische Oppositionelle, Männer,
die sich dem Militärdienst entziehen wollten, sowie weitere Zivilpersonen.
Neben über 20 000 Militärpersonen wurden bis Jahresende knapp 10 000 zivile
Flüchtlinge aufgenommen und interniert. Gleichzeitig meldeten die Grenzbeamten
allein vom 21. bis 23. September über 1700 Rückweisungen, und für
die Zeit von September 1943 bis März 1944 sind über 12 000 Rückweisungen
117
belegt.31 Die restriktive Politik gegenüber Juden wurde ab Spätherbst 1943, für
die meisten viel zu spät, gelockert; im Laufe des Jahres 1944 wurden schliesslich
knapp 18 000 Zivilflüchtlinge aufgenommen. Doch erst am 12. Juli 1944
erteilte das EJPD die offizielle Weisung, alle an Leib und Leben gefährdeten
Zivilpersonen aufzunehmen. Trotz dieser indirekten Anerkennung der Juden
als Flüchtlinge kam es auch später noch verschiedentlich zur Rückweisung von
Juden und osteuropäischen Zwangsarbeitern.32

Quelle: Unabhängige Expertenkommission Schweiz - Zweiter Weltkrieg UEK

Der ausführliche Bericht ist im folgenden Band enthalten:
Band 17
Unabhängige Expertenkommission Schweiz – Zweiter Weltkrieg
Die Schweiz und die Flüchtlinge zur Zeit des Nationalsozialismus
Überarbeitete und ergänzte Fassung des Zwischenberichts von 1999
 
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