Wertigkeit alter und neuer Quellen

Xander

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Moin

Gerade bei der hier immer noch regen Varusschlacht-Diskussion wird z.B. schon mal als Argument gegen die Beschreibungen von Cassius Dio, die lange zeitliche Distanz zum eigentlichen Ereignis von 9 n.Chr. angeführt.

Klingt erst einmal schlüssig, doch für gewöhnlich verhält es sich doch eher umgekehrt, wenn man heute zu einem Thema recherchiert. Da greift man doch auch eher zu aktuellen Dokumentationen, da neue Erkenntnisse und Dokumente mit eingeflossen sind.

Wieso sollen dann die späten Aufzeichnungen eines Cassius Dio (hier nur als Beispiel der Problematik!) weniger Wahrheitsgehalt aufweisen, als die früherer Chronisten?

Ist eine Wertung überhaupt sinnvoll, da der jeweilige Zeitgeist ja eigentlich immer "mitschreibt"!?

Wie seht ihr das? :grübel:

Gruß
Andreas
 
Das ist schwer pauschal zu sagen. Selbst der Briefeschreiber von 1744 (gerade mein Thema) muss ja selbst das Ereignis, an dem er teilnimmt, nicht wahrheitsgemäß wiedergeben. Eventuell muss er sich rechtfertigen, etwas beschönigen usw..
Der Vorteil ist natürlich, dass er dennoch ein Zeitgenosse ist.

Im Extremfall haben wir bei einer neueren Quelle, dass einer spekuliert/interpretiert über etwas, worüber schon ein voriger Autor, der zeitlich etwas näher stand anders spekuliert hatte - dieser vorige Autor hatte vielleicht noch mit Zeitgenossen gesprochen oder authentische Zeugnisse aus erster Hand (Briefe, Notizen etc.) gesehen, die mittlerweile vernichtet sind.
Zum Glück können wir ja heute viele Aussagen aus Geschichtswerken des 19.Jh. oftmals mit vielen Quellen aus der Zeit (meinetwegen 18.Jh.) vergleichen. Das ist eine Chance, die so in der Form und vor allem mit der Leichtigkeit Hobbyhistoriker und Historiker noch vor 20 Jahren nicht hatten. Dank Digitalisierung von Druckwerken und Handschriften.
 
Zu unterscheiden ist zwischen Quellen zu den Ereignissen und wissenschaftlicher Literatur, die sich mit den Quellen auseinandersetzt.

Für Quellen gilt der Grundsatz: Je älter desto besser.
Bei wissenschaftlicher Literatur gilt das Gegenteil.

Wenn ein Zeitzeuge über ein Ereignis berichtet, kann er sich zwar genauso irren wie spätere Chronisten, aber es ist mit weniger Fehlerquellen zu rechnen. Z. B. werden ihm keine Anachronismen unterlaufen.

Ein Autor, der nach wissenschaftlichen Grundsätzen arbeitet, wird immer die bisherigen Forschungsergebnisse berücksichtigen. Wenn ich vor zehn Jahren eine Arbeit verfasst habe und heute noch einmal eine Arbeit zum selben Thema schreibe, werde ich die Erkenntnisse von 2005 nach wie vor berücksichtigen, aber zusätzlich auch die neueren Forschungsergebnisse einfließen lassen. Daher ist die neuere Arbeit die "wertvollere".

Es gibt natürlich Ausnahmen.
So könnte ein Zeitzeuge von einem Ereignis berichten, das er nur vom Hörensagen kennt. 100 Jahre später wertet ein anderer Autor Akten aus, in die der damalige Zeitzeuge keine Einsicht hatte. Wenn heute die Originalakten nicht mehr vorhanden sind, könnte der Bericht des jüngeren Autors "wertvoller" als der des Zeitzeugen sein.

Und eine gründliche wissenschaftliche Arbeit von 2005 kann natürlich auch wertvoller sein als eine schlampig zusammengeschusterte Arbeit von 2015.
 
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Gerade im Fall Varusschlacht ist es so, dass wir da Quellen haben, chronologisch Ovid, Manilius, Marcus Caelius-Kenotaph, Strabon, Velleius Paterculus (Zeitzeugen, wobei Ovid und Manilius sie letztlich nur erwähnen), Tacitus, Florus, Sueton, beide Seneca, Frontinus, Cassius Dio, Orosius. Die Hauptquellen sind sicher Velleius, Tacitus und Cassius Dio, wobei nur Velleius Zeitzeuge ist. Aber keiner der Autoren war dabei und selbst Zeitzeuge Velleius wird kaum mit Überlebenden gesprochen haben.
Dann haben wir die geschichtswissenschaftliche Bearbeitung des Stoffes seit dem 15. Jhdt. Wobei man vor der Entwicklung der historischen Methode im 19. Jhdt. eigentlich nicht von Geschichtswissenschaft sprechen kann. Leider hat der Stoff die nationalistischen Phanatasien sehr beflügelt und daher ist die Literatur vor 1970 von wenigen Ausnahmen abgesehen, kaum zu gebrauchen, es sei denn, man möchte eine Wissenschaftsgeschichte am Bsp. der Varusschlacht schreiben...

Wobei ich ein Bsp. nennen möchte, wo man sagen kann, dass die ältere Literatur die bessere ist. 1989 hat der Orientalist Heinz Halm eine Hypothese vorgelegt, dass dem Namen des maurischen Spanien, al-Andalus, ein gotisches Etymon zugrundliege. Dem hat der Romanist Volker Noll (von der Ausbildung ebenfalls Islamwissenschaftler) 1997 widersprochen und kehrte zurück zu der alten Vandalenhypothese, allerdings mit einem Umweg über griechische Händler, welche den Arabern den Vandalennamen für Spanien vermittelt hätten. Der Romanist Georg Bossong hat 2002 die Texte sowohl von Halm als auch Noll aufgegriffen und eine baskoide Namensherkunftshypothese vorgelegt, allerdings an die Hypothesen von Noll und Halm Maßstäbe angelegt, die er bei seiner eigenen Hypothese mal eben völlig ignoriert hat. So hat Bossong ein Problem damit, dass in 200 Jahren westgotischer Herrschaft das gotische Etymon, welches Halm rekonstruiert, nicht belegt ist, ignoriert aber, dass in den insgesamt 900 Jahren römischer und westgotischer Herrschaft das baskoide Etymon, welches er selbst rekonstruiert, ebenso wenig belegt ist. Alle drei, Halm, Noll und Bossong haben zweifelsohne ihre wissenschaftlichen Meriten (alle drei in der Form einer Professur). Am plausibelsten bleibt aber die Hypothese Halms. Der kann zwar ein gotisches Etymon landalauts nicht belegen, aber er kann die lateinische Entsprechung gothica sors belegen und, dass /l/ oder /al/ im Anlaut eines Toponyms von den Araber häufig als arabischer Artikel al missinterpretiert wurde. Somit ist der älteste dieser drei Texte von 1989, 1997 und 2002 der plausibelste.
 
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Vielleicht sollten wir überhaupt zwischen Quellen und (Sekundär-)Literatur unterscheiden. Letztere ist gewöhnlich keine Quelle, sondern nur eine (mehr oder weniger seriöse) Auslegung von Quellen.

Was die Wertigkeit von Quellen betrifft, so müsste diese wohl von Fall zu Fall gesondert beurteilt werden. Zunächst einmal gibt es recht unterschiedliche Quellen: z. B. Urkunden, Dokumente, öffentliche und private Briefe, "Tagebuch"-Quellen (wobei hier zu berücksichtigen wäre, ob sie mit Blick für die Nachtwelt bzw. für die Öffentlichkeit verfasst wurden), Annalen und Chroniken.

Wobei gerade bei Chroniken zu beachten ist, dass in vielen dieser Werke nicht einfach nur Zeitgenössisches und / oder Dinge, die damals bereits Geschichte wiedergegeben werden, sondern dass die Verfasser/innen oft auch ein Werk mit Literaturanspruch schaffen wollten und daher ihre Chronik mit fikitven Details wie z. B. direkten Reden, "wissenschaftlichen" Diskursen, Personen- und Landschaftsbeschreibungen, Symbolik, "pädagogischen" Elementen etc. ausgeschmückt haben. Hinzu kommt noch in einigen Fällen ein Auftraggeber oder die Person, der das Werk gewidmet werden sollte, und auf die Chronist/in auch Rücksicht zu nehmen hatte.

Bei Quellen zu berücksichtigen wären auch Informationen zum Verfasser, selbst wenn er Zeitgenosse war. Aus welchem Umfeld war er, welchen Zugang hatte er zu dem Thema, ist er eher Berichterstatter oder Literat.
Z. B. der Beichtvater des dt.-röm. Königs, der diesen auf einer Reise nach Frankreich begleitet und später über diese berichtet, wird sicher in seinem Bericht andere Schwerpunkte setzen, als z. B. der Ritter Hubert, der nur im Gefolge eines Grafen mitgereist ist.

Schließlich wäre noch etwas zu berücksichtigen: Fernsehen, Internet etc. vermitteln uns heute (zumindest) den Eindruck, dass wir stets genau informiert sind, indem z. B. Bilder von Schauplätzen gezeigt werden und Ähnliches. Bei einer historischen Quellen würde ich auch berücksichtigen, dass dem Berichterstatter vielleicht Ungenauigkeiten, Fehler und Ähnliches passiert sind, weil er nicht direkt am Schauplatz war und diesen vielleicht auch nie in seinem Leben gesehen hat.

Weiter wäre bei Quellen auch zu berücksichtigen, dass sich die Auslegung darauf beschränkt, was wirklich dort steht und nicht noch ein paar offene Fragen gleich automatsch mitbeantwortet werden. Wenn z. B. ein Herzog in einem Brief Forderungen an einen anderen Herzog stellt, bedeutet das nicht automatisch auch, dass dieser sie erfüllt hat. Wenn ein Kurfürst einem dt.-röm. Kaiser brieflich von einer Reise abrät und dabei seine Einwände ausführlich darlegt, ist es nicht zulässig, aus seinen Einwänden gleich Tatsachen zu machen und sie zur Beschreibung der Reise zu nützen.
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Ich würde nicht behaupten, dass ältere oder zeitgenössische Quellen automatisch zuverlässiger sind. Das muss wahrscheinlich von Fall zu Fall geklärt werden.
 
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Danke euch für die ausführlichen Antworten! :winke:

Die ganzen Aspekte muss ich mir erst mal zu Gemüte führen.
 
Einführung in die historische Methode

Ich bring mal ein wenig Theorie der historischen Arbeit mit Quellen.

  1. Was sind Quellen?
  2. Quellentypen
  3. Wo findet man Quellen?
  4. Arbeit mit Quellen
  5. Quellenkritik Theorie

1. Was sind Quellen?

Dazu Paul Kirn (deutscher Historiker 1890 - 1965):

„Quellen nennen wir alle Texte, Gegenstände und Tatsachen, aus denen Erkenntnis der Vergangenheit gewonnen werden kann.“(Paul Kirn)*

Und Hans Werner Goetz (deutscher Mediävist):

„Als historische Quellen bezeichnen wir im weitesten Sinn alle Zeugnisse (Überlieferungen), die über geschichtliche (= vergangene) Abläufe, Zustände, Denk- und Verhaltensweisen informieren, d.h. letztlich über alles, was sich in der Vergangenheit ereignet hat, diese kennzeichnet, von Menschen gedacht, geschrieben oder geformt wurde.“ (Hans-Werner Goetz)*

Diese beiden Zitate sagen sehr viel aus was Quellen eigentlich sind.

In der älteren Literatur unterscheidet man noch nach
Traditon und Überrest

Tradition bezeichnet die «willkürliche» Überlieferung, die zum Zweck der Unterrichtung der Nachwelt geschaffen wurde.

Unter Überrest versteht man «unwillkürliche», ohne gezielte Überlieferungsabsicht entstandene Zeugnisse der Vergangenheit

Dazu schreibt Winifried Schulze (deutscher Historiker):

«Ich halte die Unterscheidung für ebenso wenig sinnvoll wie die Unterscheidung willkürlicher und unwillkürlicher Überlieferung. Sie kann sogar gefährlich sein, weil solche Einteilungen möglicherweise die weitere Nutzung präjudizieren können. Vielmehr muss gelten, dass alle Quellen den gleichen kritischen Verfahren unterzogen werden müssen, um sie zum Sprechen zu bringen. Die innere und äussere Kritik muss unbeeinflusst von a priori-Kategorisierungen angewendet werden.»
Winfried Schulze: Einführung in die Neuere Geschichte. 2. Auflage. Stuttgart 1991. Seite 33

In der neueren Forschungsliteratur spricht man deshalb auch von
Primärquellen und Sekundärquellen (Achtung nicht verwechseln mit Sekundärliteratur, dieser Begriff kommt aus der Literaturwissenschaft und hat mit der historischen Methode nichts zu tun.)

Primärquellen:
Jede Art von Zeugnissen aus erster Hand.

Sekundärquellen:
Die sinngemässe Wiedergabe des Inhalts einer Quelle, in einer anderen Quelle.

Bevor man sich mit Quellen auseinandersetzt sollte man folgendes beachten:

  • Geschichte wird grundsätzlich gedeutet.
  • Es ist keine empirische Faktenermittlung.
  • Ein totales Bild der Vergangenheit gibt es nicht, da nicht alles Überliefert wurde.

Erschliessung der Quelle: Quellenbeschreibung

  • Art der Quelle
  • Thema/Inhaltsangabe
  • Sachliche Aufschlüsselung
  • Prüfung der Echtheit

Fliesst in die äussere Kritik ein. Wichtig – Einfach mal die Quelle anschauen und beschreiben was man erkennt. Anstreichen und genau lesen.

Quellenkritik/Inhaltsanalyse

Äussere Quellenkritik:
Umstände der Quellenentstehung

Innere Quellenkritik:
Bedeutung der Quellenaussage

Aussere Quellenkritik:

Hier stellt man sich diese Fragen:

  • Wann ist der Text entstanden?
  • Entstehungsort?
  • Wer ist der Verfasser?
  • Wer ist der Adressat?
  • Gibt es noch Zusatzinformationen zur Entstehung?

Äussere Kritik:
Prüfung der Echtheit und Vollständigkeit der Quelle.
Klärt Indizien für inhaltliche Fälschungen, falsche Autorenangaben und Überlieferungsvarianten ab.
Klärt die Überlieferungsgeschichte der Quelle ab.
Entstehungskontext - Wo ist die Quelle entstanden. In welchem Rahmen wurde sie verfasst.
Institutionellen Organisationen, historische Kontext – Frage nach den Umständen der Entstehung.

Innere Quellenkritik: Feststellung des Aussagewerts und Glaubwürdigkeit

  • Wer spricht in der Quelle und mit welchen Motiven und Wertung?
  • Was konnte der Verfasser wissen?
  • Was will der Verfasser berichten?
  • Wie berichtet der Verfasser?
  • Werden Anspielungen gemacht?
  • Gibt es unbekannte Sachverhalte?

Die innere Quellenkritik ist der Kern der Quellenanalyse.

Dann sollte man immer die W-Fragen an die Quelle stellen:

  • Wann und wo wurde sie aufgezeichnet?
  • Wie viel Zeit verging zwischen den tatsächlichen Geschehen und der Aufzeichnung?
  • Wer hat sie für wen aufgezeichnet?
  • Welche Perspektive und mit welcher Absicht wurde sie aufgezeichnet?
  • Wie sind die Zeugnisse beschaffen?

Die historische-kritische Methode kann man auf alle Quellen anwenden. Das Alter spielt dabei keine Rolle.

Literatur dazu:

Borowsky, Peter (Hrsg.): Einführung in die Geschichtswissenschaft I. Grundprobleme. Arbeitsorganisation, Hilfsmittel. 5., überarbeitete und aktualisierte Auflage. WDV. 1989. (ist zwar schon älter, gilt immer noch als Standart für die Einführung in die Geschichte)

Dobson, Miriam (Hrsg.): Reading primary sources. The interpretation of texts from 19th and 20th century history. Routledge. Milton Park. 2009.

Burkhardt, Martin: Arbeiten im Archiv. Praktischer Leitfaden für Historiker und andere Nutzer. UTB. 2006.

Haberkern, Eugen/Wallach, Joseph Friedrich: Hilfswörterbuch für Historiker. Mittelalter und Neuzeit. 2. Bände. UTB. 2001.

Jordan, Stefan: Einführung in das Geschichtsstudium. Reclam. 2005.
Lengwiler, Martin: Praxisbuch Geschichte. Einführung in die historischen Methoden. UTB. 2011.

Meister, Klaus: Einführung in die Interpretation historischer Quellen. Schwerpunkt: Antike. Band 1: Griechenland. Band 2: Rom. UTB. 1997/1999.

Theuerkauf, Gerhard: Einführung in die Interpretation historischer Quellen. Schwerpunkt: Mittelalter. 2. Auflage. UTB. 1997.

v. Brandt, Ahasver: Werkzeug des Historikers. Eine Einführung in die historischen Hilfswissenschaften. 15. Auflage. Kohlhammer Verlag. 1998.
 
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