Mittelalter
In der körperlichen Schönheit offenbarte sich die Tugend der Frau. Der Schönheitspreis der Dichter zielte nicht auf individuelle Züge, sondern auf ein Ideal, das sich in einem festen Kanon von Schönheitsprädikaten manifestierte. Man folgte dabei meistens den Vorschriften der Rhetorik, die eine Beschreibung von oben nach unten empfahl, vom Kopf bis zu den Füßen. Das Gesicht bot die reichste Gelegenheit, Schönheitsmerkmale zu benennen: das blond gelockte Haar, die weiße Stirn, die wie ein Pinselstrich gezogenen Brauen, die herrlich strahlenden Augen, die kleinen Ohren, die gerade Nase, das Rot der Wangen lieblich gemischt mit dem Weiß der Haut, der rote Mund, die weißen Zähne, das runde Kinn, die weiße durchsichtige Kehle, der schöne Hals. Von dort sprang die Schönheitsbeschreibung auf die weißen Hände und die kleinen Füße; von der Form des Körpers erfuhr man nur in allgemeinen Wendungen. Arme und Beine waren, wenn sie überhaupt erwähnt wurden, weiß, rund und glatt, der Busen klein, die Taille schmal. Vielfach ging der Schönheitspreis schon am Hals in eine ausführliche Kleiderschilderung über.
(Joachim Bumke, Höfische Kultur. Literatur und Gesellschaft im hohen Mittelalter, München 19947, S.451f.)