Übersicht: gesch. Entwicklung der Norddeutschen und Süddeutschen Ratsverfassung

Apsara Menaka

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Ich hab mir mal die Mühe gemacht und die geschichtliche Entwicklung von der Norddeutschen zur Süddeutschen Ratsverfassung ein wenig historisch aufzuarbeiten. Vielleicht interessiert es ja jemanden von euch auch. Ich wusste nicht recht in welche Rubrik, da das so einen weiten Bogen spannt und habe beschloßen, dass Kommunalverwaltung ja auch irgendwie ein Stück Landeskultur und damit Kulturgeschichte ist. Falls das komplett falsch ist, bitte einfach verschieben, danke. :sorry:

Süddeutsche Ratsverfassung am Beispiel Ba-Wü, Bayern
Norddeutsche Ratsverfassung am Beispiel NRW, Niedersachsen

Baden-Württemberg:

Im gesamten schwäbischen Gebiet wurde bereits früh auf die kommunale Selbstverwaltung sowie die aktive Beteiligung der Untertanen gesetzt. Die Bürger schlossen sich gegenüber ihren Befehlshabern zu sogenannten ‚Landschaften‘ zusammen, die als Opposition zu den ‚Herrschaften‘ Partizipation einforderten. Im Laufe der Jahre entwickelte sich daraus - und auch durch die napoleonische Neuordnung des Südwestens - das System von Staat und Ländern, wie es heute noch umgesetzt wird. In Baden wurde hierbei bis zum Zusammenschluss mit Württemberg eine Trennung von Politik durch den Bürgermeister und Verwaltung durch den Ratsschreiber betrieben. Baden hatte also im Prinzip damals eine Verwaltungsstruktur, die der späteren Norddeutschen Ratsverfassung entsprach. Dies führte dazu, dass die Bürgermeister schnell wechselten, eine Auswirkung, die später auch in den Bundesländern beobachtbar wurde, die sich für die Norddeutsche Ratsverfassung entschieden hatten. In Württemberg war im Gegensatz zu Baden der sogenannte Schultheiß, der Bürgermeister, sowohl in der Politik als auch der Verwaltung maßgebend. Der Schultheiß hatte einen hohen Rückhalt in der Bevölkerung durch die ihm zugesprochene hohe Professionalität im Amt und einen unpolitisches Amtsverständnis.

Weitere relevante Daten bei der Entwicklung Württembergs hin zur Süddeutschen Ratsverfassung:

1848/49: Das Wahlrecht für alle steuerpflichtigen Männer ab 25 Jahren wird eingeführt und somit konnten alle diese Männer auf kommunaler Ebene mitentscheiden. (Frauenwahlrecht ab 1919)
Ab 1891: Direktwahl des Bürgermeisters auf Lebenszeit (ab 1907 10 Jahre erste Amtszeit, bei Wiederwahl 15 Jahre)
1952: Zusammenschluss mit Baden, Gründung von ‚Baden-Württemberg‘ als Bundesland und Einführung der Süddeutschen Ratsverfassung, welche, mit einzelnen Veränderungen, bis heute bestand hat.

Bayern:

In den Landeshauptstädten fand man neben dem Bürgermeister und dem Rat anfangs meist noch einen vom Landesherrn entsandten Amtsmann, der die staatlichen Interessen Bayerns auf kommunaler Ebene vertrat. Im Mittelalter waren es jedoch vor allem einzelne Städte, die aus ökonomischen Gründen das Land Bayern und damit dessen Entscheidungen beeinflussten:

Nürnberg hatte hierbei Bedeutung als Reichstags-Stadt und war darüber hinaus ein Wirtschaftsfaktor durch gewerbliche Produktion und Fernhandel.
Augsburg war die Stadt der Fugger und wurde dadurch und vor allem wegen ihrer Beziehungen nach Italien eine wichtige Finanzmetropole Bayerns.
Regensburg war als erste Hauptstadt des Stammesherzogtums Bayern und als Ort, an dem der immerwährende Reichstag des heiligen, römischen Reiches stattfand, politisch wichtig für die Landesregierung von Bayern.
München wurde im Laufe der Zeit und vor allem ab dem 18. Jahrhundert nach und nach zur bis heute führenden bayrischen Metropole.

Zweifellos trugen die Reichsstädte zur politischen Pluralität im Reich insgesamt bei, sie waren ein Netz autonomer Einheiten, auf das sich die Kaiser bei Konflikten mit den größeren Territorien verlassen konnten und das so zur Machterhaltung des Ganzen beitrug. Durch die Schaffung von Bezirken und dazu gehörigen Bezirkshauptstädten wurde in Folge dessen versucht, die Konzentration von einzelnen einflussreichen Städten innerhalb Bayerns zu vermeiden, da Bayern weder eine zu hohe Machtkonzentration auf einzelne Personen auf Landesebene, noch auf einzelne Städte und deren Verwalter wünschte. Aus diesem Grund hat Bayern seit dem Mittelalter stets versucht zu vermeiden, dass es geographische Machtzentren innerhalb des Freistaates gibt. Gleichzeitig hat man dem Bürgermeister traditionell viele Kompetenzen und Aufgabenbereiche (und somit auch Machtbereiche) zugestanden, da der Bürgermeister als ein Interessensvertreter der bayrischen Bürger auf Landesebene begriffen wurde. Ziel der oben beschriebenen Maßnahmen war die Vermeidung von einer unverhältnismäßigen Bündelung von Macht bei einem einzelnen Bürgermeister, einer besonders einflussreichen Stadt oder der bayrischen Regierung auf Landesebene. Auch hier sollte eine Balance zwischen den Vertretern der Städte und denen des Landes Bayern eine gegenseitige Kontrolle gewährleisten.

Weitere relevante Daten bei der Entwicklung Bayerns hin zur Süddeutschen Ratsverfassung:


1818: Gemeindeedikt beinhaltet erste Elemente der Selbstverwaltung
1919: Das kommunale Selbstbestimmungsrecht wird ausdrücklich garantiert
1952: Inkrafttreten der heute noch gültigen Gemeindeordnung


NRW

Während der Diktatur unter Hitler bis zum Ende des 2. Weltkrieges galt im gesamten Deutschen Reich die "Deutsche Gemeindeordnung", die durch eine Hierarchie von oben nach unten gekennzeichnet war und dem Führer alle Entscheidungsmacht zusprach. Auf Kommunalebene konnte der Bürgermeister hier innerhalb der vom Führer gegebenen Verordnungen allein entscheiden, der Rat existierte, hatte jedoch nur beratende Funktion. Nach dem Ende des 3. Reichs und unter britischer Besetzung wurde die „Deutsche Gemeindeordnung“ dann revidiert und ab da lag die gesamte Verwaltung auf kommunaler Ebene beim durch das Volk zu wählenden Rat. So sollte in Zukunft eine Machtbündelung auf einen Führer hin in Zukunft vermieden werden. Das Führerprinzip Hitlers sollte durch ein Prinzip gemeinschaftlicher Verantwortung ersetzt werden. Verwaltung sollte von nun an unpolitisch sein und somit unabhängig von der Obrigkeit agieren. Am 1. April 1946 tritt die Verordnung 21, die sogenannte "revidierte Deutsche Gemeindeordnung" in allen britisch besetzen Bundesländern und somit auch in NRW in Kraft. Sechs Jahre später beschließt der nordrhein-westfälische Landtag eine eigene Gemeindeordnung für NRW, die Norddeutsche Ratsverfassung. Mit kleineren Anpassungen gilt diese Verfassung dann, bis sie 1994 im Zuge der Kommunalreform an die Süddeutsche Ratsverfassung angepasst wird. Neben dem Wunsch der Bevölkerung nach mehr Partizipation führten vor allem finanzielle Überlegungen zu einem Wandel hin zum süddeutschen Ratsverfassungs-Konzept, was im Folgenden dargelegt wird:

Als 1975 aus verwaltungs- und finanztechnischen Gründen und gegen den ausdrücklichen Willen der Bevölkerung in NRW größere Gemeinden und Kreise geschaffen werden, fürchten die Bürger um ihre Unabhängigkeit vom Bund und der Wunsch nach Partizipation wächst. In den nächsten zehn Jahren stellen mehrere Experten unabhängig voneinander und übereinstimmend fest, dass die Kluft zwischen den Regelungen der Norddeutschen Ratsverfassung und der Wirklichkeit der Kommunalpolitik mehr und mehr wächst. Die Norddeutsche Ratsverfassung ist zu teuer und Entscheidungen dauern in der Regel zu lange, auch wenn bei dringenden Fragen Sonderregelungen möglich sind um zeitnahe Entscheidungen durchführen zu können. Der Kölner Stadtdirektor fordert 1987 öffentlich die ‚Verschrottung‘ der Gemeindeordnung und damit der Norddeutschen Ratsverfassung in bisheriger Form, da diese zu teuer sei. Dies ist insbesondere bemerkenswert, da er damit im Prinzip für die Streichung seines eigenen Amtes, des Stadtdirektors, plädiert. Nachdem die Norddeutsche Ratsverfassung sowohl in der Bevölkerung als auch bei Experten und den Kommunalpolitikern selbst, immer mehr in die Kritik geraten war, wurde 1994 in NRW die neue, angepasste Kommunalverfassung, die sich an die Süddeutsche Ratsverfassung anlehnt, mit einer Übergangszeit für die Gemeinden verbindlich eingeführt.


Niedersachsen

Auch Niedersachsen war nach dem 2. Weltkrieg britisch besetzt und wie in NRW wurde auch hier Wert auf die Einführung einer Kommunalstruktur gelegt, die die Konzentration von Macht auf eine einzelne Person verhindern sollte. Ein Nebeneffekt der britischen Einflussnahme auf den Neuaufbau der Verwaltungsstrukturen nach dem Dritten Reich ist die bis heute zu bemerkende Häufung von Anglizismen in der Kommunalverwaltung. Auch in Niedersachen, trat zum April 1946 wie für alle Länder innerhalb der britischen Besatzungszone die Verordnung 21, die revidierte Deutsche Gemeindeordnung, in Kraft, die eine Hierarchie von oben nach unten, wie sie in der alten Gemeindeordnung festgelegt war, abschaffte und Verwaltung und Politik bereits auf Kommunalebene strikt trennte. Neun Jahre später löst die eigene "Niedersächsische Gemeindeordnung" die britische Verordnung 21 ab, wobei sie diese in weiten Teilen inhaltlich übernimmt und weiter eine Trennung in Bürgermeister und Verwaltungsrat festsetzt. 1963 folgt nach einigen unwesentlichen Anpassungen der Gemeindeordnung dann die Trennung in Bürgermeister und Gemeindedirektor. Dem Rat steht von nun an der Gemeindedirektor, also auch eine Einzelperson, vor. Die Machtteilung zwischen Politik und Verwaltung auf kommunaler Ebene bleibt jedoch zunächst weiterhin bestehen. In Korrelation mit NRW wird auch in Niedersachsen im Laufe der folgenden Jahre deutlich, dass eine Anpassung der Kommunalstrukturen aus finanziellen Gründen und um weiterhin den Rückhalt in der Bevölkerung sichern zu können und um deren Wunsch nach Partizipation zu entsprechen, unumgänglich wird. Dies umsetzend wird eine neue "Niedersächsische Gemeindeordnung" eingeführt und tritt am 1.11.1996 endgültig in Kraft. Diese folgt inhaltlich der neuen, an die Süddeutsche Ratsverfassung angelehnten, Gemeindeordnung von NRW.


:rechts: Zusammenfassung:

Baden-Württemberg und Bayern hatten bereits vor dem zweiten Weltkrieg eine Demokratie von unten nach oben verfolgt und waren darauf bedacht, der jeweils herrschenden Macht durch starke Bürgervertreter, den Bürgermeistern, begegnen zu können. Hierzu wurden die Bürgermeister mit großen Entscheidungsbefugnissen ausgestattet, um so eine Machtbalance zwischen Landesebene und Kommunalebene zu erreichen. Nach dem zweiten Weltkrieg wurde, auch in Reaktion auf das Führerprinzip, von der Hierarchie von oben nach unten, unter Hitler, bewusst wieder auf das historisch bewährte Konzept der Demokratie von unten nach oben zurückgekehrt.

Im Gegensatz dazu wurde in den Bundesländern, die in der britischen Besatzungszone lagen, stark darauf hingearbeitet, dass es bereits auf Kommunalebene in Zukunft nicht mehr möglich sein würde, dass eine Einzelperson uneingeschränkte Macht ausüben konnte. Um dies zu erreichen wurde in den britisch besetzen Bundesländern eine Verordnung eingeführt, die Politik und Verwaltung bereits auf Gemeindeebene trennte. NRW nahm hierbei eine Vorreiterrolle ein, an der sich Niedersachsen orientierte.

Als Gründe für eine Annäherung an die Süddeutsche Ratsverfassung in NRW und Niedersachsen waren vor allem finanzielle Überlegungen und der Wunsch der Bürger nach Partizipation ausschlaggebend. Darüber hinaus war die Norddeutsche Ratsverfassung in der Entscheidungsfindung oft zu langsam und auch deshalb wurde diese schrittweise an die Süddeutsche Ratsverfassung angepasst.
 
Vielen Dank für die informative Darstellung!:winke:

Die übereinstimmende Absicht, das "Führerprinzip" (welches sich in vielerlei Regelungen im Dritten Reich zeigte, so auch in der Neufassung der konstitutionellen Regelungen zur Aktiengesellschaft) abzuschwächen bzw. wieder abzuschaffen, ist klar geworden.

Weißt Du, ob dabei jeweilige britische und amerikanische politische Traditionen zur "Kommunalverwaltung" einflossen, oder waren das davon losgelöste Konzeptionen in Reaktion auf die deutschen Verhältnisse, die zu den zwei Modellen führten?
 
Weißt Du, ob dabei jeweilige britische und amerikanische politische Traditionen zur "Kommunalverwaltung" einflossen, oder waren das davon losgelöste Konzeptionen in Reaktion auf die deutschen Verhältnisse, die zu den zwei Modellen führten?

Wissen ist zu viel gesagt ;) Aber zumindest in Bayern und Baden-Württemberg halte ich es für eher wahrscheinlich, dass sich die Süddeutsche Ratsverfassung auf Grund der eigenen Geschichte entwickelt hat und dies auch während der besetzten Zeit dann zugestanden wurde.

Für Niedersachsen und NRW, die ja als Bundesländer neu definiert wurden innerhalb der britischen Besatzungszone, kann ein großer Einfluss der Besatzungsmacht m.A.n. vorrausgesetzt werden. Hierbei lag jedoch meiner Meinung nach das Augenmerk weniger auf dem Ähnlichkeitsprinzip zur Kommunalverwaltung der Besatzungsmacht, sondern mehr darauf diktatorische Strukturen in Zukunft zu verhindern.
 
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