Geschichte der Geschichtsphilosophie

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Gibt es eine Geschichte der Geschichtsphilosophie, die verständlich und in angemeßener Länge vom Mittelalter bis in die nahe Neuzeit führt?

Wikipedia ist nur eine gringe Hilfe. Mir ist zwar ganz klar, dass es da Hegel gibt und sein "Historismus" (ich kann nichtmal so tun, als ob ich das ganz verstanden hätte) gab, demnach etwas das Neue und das Alte in einem ewigen Werden sich als Gegensätze aufheben (wie gesagt, nichmal so tun...), aber was gab es danach?
Der "historische Materialismus" scheint mir danach eigentlich kaum noch ein Problem zu sein, da hat mir der Artikel von "tante Wiki" sehr geholfen. Sonst habe ich da eine risige Wissenslücke.

In einem Buch aus dem 50-60ziger Jahren gab es noch eine Geschichtsdeutung der Welt als "Heilsgeschichte" Gottes, das wird wohl theologisch auch heute noch eine Rolle spielen, aber wie war das vor Hegel?

Nur um das klarzustellen: Es geht nur um die Eckdaten, nicht aber um die Diskussion eines Gesamtbildes.
 
Gibt es eine Geschichte der Geschichtsphilosophie, die verständlich und in angemeßener Länge vom Mittelalter bis in die nahe Neuzeit führt?

Zeitausschnitt und "Rahmenbedingungen" sind nicht leicht unter einen Hut zu bringen.
- Bei van der Pot und Wiersing gibt es viel Material, aber das sind 1000-Seiten-Wälzer...
- Von den "kleineren" Einführungen habe ich die von Rohbeck gelesen, die das Mittelalter aber nur am Rande behandelt.
- Einen knappen Einstieg liefert neuerdings Schnädelbach in Goertz (Hg.), Geschichte - ein Grundkurs, S. 666-687 mit guten Literaturhinweisen.
- Sonst natürlich die einschlägigen Artikel im Historischen Wörterbuch der Philosophie, Bd. 3, Sp. 416 ff. und in den Geschichtlichen Grundbegriffen, Bd. 2, S. 593 ff.
 
Na ich hatte ursprünglich einmal einen Blog zum Thema Geschichtsphilosophie geplant; da ich das eh nicht weiter gekommen war, poste ich es kurz hier:

1. Der Begriff der Geschichtsphilosophie wird seit Schelling auf Voltaire (1765) zurückgeführt, wobei anscheinend eine Rechtfertigung seiner profanen Geschichtschreibung als Wissenschaft, wenn auch nur annähernd exakt, inauguriert werden sollte. Diese Grundlegung der Geschichtsschreibung, die auch der Historismus für sich in Anspruch nimmt, paßt gewissermaßen dazu, daß Jules Michelet später Giambattista Vicos Scienza Nuova unter dem frei übersetzten Titel Principes de la philosophie de l'histoire 1828 übersetzt herausgab.

Mit beiden Autoren dürften wir uns in "historischen Aufklärung" befinden - Ernst Cassirer hat die "Eroberung der geschichtlichen Welt" der Aufklärungsphilosophie zugeschrieben; nach Schnädelbach sei es bekannt, "daß die immanente Interpretation der Phänomene im Bereich der Geschichtstheorie vor allem durch die Säkularisierung heilsgeschichtlicher Konstruktionen durchgesetzt wurde" ([1979] 1987, S.27). Den "Versuch über die Universalgeschichte [l'histoire générale] und über die Sitten und den Geist der Völker" von 1756 wollte Voltaire "als Gegenprogramm zur christlich-theologischen Universalgeschichte (1681) von Jacques Bénigne Bossuet" (Rohbeck, S.25) verstanden wissen, der allerdings (schon einer mittelalterlichen Tradition folgend) eine heilige von einer profanen Historie unterschied, wobei freilich "die Heilsgeschichte den Vorrang hatte" (ebd.), was sich anscheinend auch darin auszudrücken pflegt, daß Bossuet wohl noch einer biblischen Chronologie folgte. Eine geschichtliche Darstellung "en philosophe" (Voltaire) stellt sich also einer christlichen Historiographie entgegen, "die alles auf göttliches Eingreifen in die Geschichte zurückführt" (Dierse & Scholtz, "Geschichtsphilosophie" im Histor. Wörterbuch d. Phil. Bd.3).

2. Johannes Rohbeck meint vorwörtlich seiner Einführung in die Geschichtsphilosophie feststellen zu müssen, daß für eine Systematisierung kein Kanon bestehe und eine grundlegende Orientierung geboten sei. Geschichte für ihn ist -"gleichsam zur zweiten Natur geworden" - "eine Frage der Interpretation", wie es an späterer Stelle heißt, oder in diesem Sinne als wissenschaftliche Disziplin also Thema der philosophischen Reflexion; er möchte einen Beitrag zur wissenschaftlichen Diskussion leisten und meint interessanterweise "ein wiedererwachendes Interesse an geschichtsphilosophischen Themen [zu] beobachten." In einer solchen Situation sah sich auch Heinrich Rickert vor etwa hundert Jahren: "Obwohl in letzter Zeit das Interesse für sie außerordentlich gewachsen ist..." (1907, S.322) Obzwar man Heinrich Rickert auch eine gewisse Geschichtsferne vorgeworfen hat - Seidel zitiert seinen gegen Dilthey gerichteten Satz: "Historische Philosophie gibt es nicht" -, hatte er sich doch auf Wunsch von Wilhelm Windelband mit dem Thema Geschichtsphilosophie befaßt, ein allgemeines Programm zu entwerfen, das Rickerts logischer Einleitung in die historischen Wissenschaften zu entsprechen hätten.

Was die Epochen der Geschichtsphiolosphie betrifft, unterschiedet H. Rickert zum Ende dieses Entwurfes gleichzeitig drei Typen:
a) eine dogmatische Geschichtsphilosophie
b) eine skepti(zisti)sche Geschichtsphilosophie
c) eine kriti(zisti)sche Geschichtsphilosophie

Der Dogmatismus hängt wenig überraschend mit dem Christentum zusammen, durch das "eine 'Weltgeschichte' im strengen Sinne des Wortes möglich wurde." (S.404); Voraussetzung war allerdings, daß "sich die religiösen Vorstellungen auf das innigste mit einem bestimmten, im wesentlichen der Antike entnommenen Bilde des Kosmos" (S.405) verbanden. Eine so räumlich und zeitliche begrenzte Welt sei von Dante skizziert worden: Dantes Welt "bildet eine in sich geschlossene Kugel, in deren Mitte der Schauplatz der Weltgeschichte die Erde ruht. Über dieser Kugel räumlich von ihr getrennt ist der Sitz Gottes. Ihm zugewandt auf der Erde Jerusalem usw." (Geschichtsphilosophie, S.405 - in W. Windelband (Hg.), Die Philosophie im Beginn des 20. Jhs. Festschrift f. Kuno Fischer, 2. verbesserte Auflage, 1907) Leider nennt Heinrich Rickert nicht einen einzigen Vertreter eines auf solch dogmatischen Vorstellung beruhenden geschichtsphilosophischen Versuches, sondern konstatiert lediglich, daß Gott darin als der absolute Wert erscheint, auf den alles bezogen sei. Daher muß ich selbst in Wilhelm Windelbands Lehrbuch der Geschichte der Philosophie nachlesen. Tatsächlich sieht auch Windelband die Anfänge einer Geschichtsphilosophie im Zusammenhang mit der christlichen Lehre (§21); eine Entwicklungslinie, Windelband nennt sie die orthodoxe (gegenüber der Gnostik, die freilich die Orthodoxie nicht weniger beeinflußte), hielt nicht nur an der Vorstellung eines einzigen Gottes des Alten und des Neuen Testamentes fest, sondern konstruierte "eine planvolle, erzieherische Entwicklung in der Offenbarung dieses einen wahren Gottes" und ferner "die Heilsgeschichte, d. h. die innere Geschichte der Welt", oder mit anderen Worten: eine geschichtsphilosophische Ausgestaltung der Offenbarungstheorie bereits durch Justinus den Märtyrer und vor allem Irenäus von Lyon. Windelband erwähnt im entsprechenden Zusammenhang übrigens auch einen Clemens Romanus, den ersten Bischof von Rom - den ich gerne mit Titus Flavius Clemens (=Clemens v. Alexandrien) verwechseln würde, der nämlich gesagt haben soll, daß die Philosophie "ein Geschenk der Vorsehung [ist], durch das die Griechen auf eine ähnliche Weise auf Christus vorbereitet werden sollten wie die Juden durch das Alte Testament." (Hirschberger, Geschichte der Philosophie Bd. I, Abschnitt II, Kp. 1.1 b) Vom Gedanken her paßt das Zitat zumindest zum, geschichtsphilosophischen Dogmatismus. Erwähnt sei schließlich noch, daß Windelband diesen auf Anregung der paulinischen Briefe zurückführt (insbesondere Gal. 3, 23-25).

Kann man also erst mit der christlichen Vorstellung einer Weltgeschichte die Anfänge der Geschichtsphilosophie ansetzen, wie es die südwestdeutsche Schule des Neukantianismus anscheinend tut? Rohbeck behauptet sogar, daß "sich die Geschichtsphilosophie erst in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts heraus[bildete]", da der antiken, mittelalterlichen und sogar noch der Renaissance-Philosophie "eine systematische Geschichtstheorie" (S.20), fehlte. Geschichtsphilosophie in einem so systematischen Sinne entstand nach Rohbeck also erst mit der Aufklärung, die bezeichnenderweise auch den modernen Begriff der Geschichte prägte; erlebte in Hegels Variante des deutschen Idealismus ihre Blüte und soll dann "bereits in den materialistischen Umdeutungen durch Marx" ihr Ende gefunden haben, denn in "methodologischer Anlehnung an Kant untersuchten Droysen und Dilthey vor allem die Bedingungen wahrer historischer Erkenntnis" (ebd.), so daß der Historismus die Geschichtsphilosophie abgelöst hätte und dieser wiederum seine Ablösung im Posthistoire fand. Robeck konzeptualisiert also auch drei Typen, wobei Geschichtsphilosophie dort beginnen soll, wo Rickert den Skeptizismus beginnen läßt. Rickert nennt zwar auch Kopernikus, aber vor allem sei es Giordano Brunos Lehre von der Unendlichkeit der Welt, "an der jede Geschichtsphiosophie, die 'Weltgeschichte' im strengen Sinne des Wortes sein wollte, scheitern mußte." (S.406)

3. Die jüngst im GF gescholtene Dialektik der Aufklärung von Horkheimer & Adorno ist natürlich oder wenigstens in großen Teilen als ein geschichtsphilosophischer Entwurf zu lesen.
 
Na ich hatte ursprünglich einmal einen Blog zum Thema Geschichtsphilosophie geplant...
...was Du ja unabhängig hiervon tun kannst - würde mich sehr interessieren!

Geschichtsphilosophie in einem so systematischen Sinne entstand nach Rohbeck also erst mit der Aufklärung, die bezeichnenderweise auch den modernen Begriff der Geschichte prägte...
Der schon erwähnte Koselleck argumentiert gleichlautend: "Die Freilegung der 'Geschichte überhaupt' fiel zusammen mit der Entstehung der Geschichtsphilosophie." Der Begriff wurde recht weit gefasst - K. bezieht sich auf Kösters Deutsche Encyklopädie (1790): "Schon die pragmatische Geschichtsschreibung, die aus eigenen und fremden Erfahrungen Schlüsse ziehe, verdiene diesen Namen, ebenso die historische Kritik, die Wahrheit von Wahrscheinlichkeit unterscheiden lehre, und deshalb könne man auch die Logik der Geschichte oder die Theorie der Historie so nennen.... Es war eine Leistung der Aufklärungsphilosophie, kraft derer sich die Historie als Wissenschaft von der sie flankierenden Rhetorik und Moralphilosophie ablöste und aus der ihr übergeordneten Theologie und Jurisprudenz befreite." [1].

Die jüngst im GF gescholtene Dialektik der Aufklärung von Horkheimer & Adorno ist natürlich oder wenigstens in großen Teilen als ein geschichtsphilosophischer Entwurf zu lesen.
Einverstanden! Auch für die vor-aufklärerische Zeit sollte man in begrifflicher Hinsicht nicht zu pingelig sein und auch Hobbes, Spinoza usw. anführen dürfen, desgleich Augustinus und Thomas. Der Philosophiehistoriker Vorländer zögert auch nicht, Lukrez den Schöpfer einer "Geschichtsphilosophie höchst fesselnder Art" zu nennen. Besonders ausgreifend insoweit auch Eisler in seinem weitverbreiteten Wörterbuch: "Die Sociologie als eigene Disziplin" sei früher "als Geschichtsphilosophie und Rechtsphilosophie" aufgetreten. [2]

Was die Epochen der Geschichtsphiolosphie betrifft, unterschiedet H. Rickert zum Ende dieses Entwurfes gleichzeitig drei Typen:
a) eine dogmatische Geschichtsphilosophie
b) eine skepti(zisti)sche Geschichtsphilosophie
c) eine kriti(zisti)sche Geschichtsphilosophie
Eine gute Zusammenfassung hat, etwa zeitgleich mit Rickert, schon Georg Simmel gegeben [3]. Seine Kapitelüberschriften liefern sozusagen das inhaltliche Programm:
I. Von den inneren Bestimmungen der Geschichtsforschung
II. Von den historischen Gesetzen
III. Vom Sinn der Geschichte

Apropos Rickert: Einer seiner Schüler, Georg Mehlis, hat 1915 das mit über 700 Seiten seinerzeit umfangreichste "Lehrbuch der Geschichtsphilosophie" geschrieben! Ich habe nur kurz hineingeschaut (ist im Internet herunterladbar) - immer noch recht lesenswert.


[1] Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. 2, S. 658; siehe dazu auch Karl Löwiths Gegenüberstellung "Fortschritt contra Vorsehung" (in: Weltgeschichte und Heilsgeschehen, Stuttgart 6/1973, S. 62-98).
[2] Siehe auch Golo Manns Abriß "Die Grundprobleme der Geschichtsphilosphie von Plato bis Hegel" (in: Der Sinn der Geschichte, München 1961, S. 11-30); erwähnt deshalb, weil viele davon ausgehen, die Griechen hätten keine Geschichtsphilosophie im eigentlichen Sinne entwickelt.
[3] Die Probleme der Geschichtsphilosophie, 1. Aufl. 1892
 
...was Du ja unabhängig hiervon tun kannst - würde mich sehr interessieren!

Mich doch auch:winke: Daher einen Dank für den Literaturhinweis:
Apropos Rickert: Einer seiner Schüler, Georg Mehlis, hat 1915 das mit über 700 Seiten seinerzeit umfangreichste "Lehrbuch der Geschichtsphilosophie" geschrieben! Ich habe nur kurz hineingeschaut (ist im Internet herunterladbar) - immer noch recht lesenswert.
Ich bevorzuge ja Bücher... bin aber ein wenig enttäuscht, obzwar der systematische und zugleich philosophiehistorische Anspruch des Neukantianismus - Mehlis spricht freilich vom Neu-Idealismus - alle Hochachtung verdienen würde.
Im folgenden nur ein paar Anmerkungen zu deinem Beitrag:

Der schon erwähnte Koselleck argumentiert gleichlautend: "Die Freilegung der 'Geschichte überhaupt' fiel zusammen mit der Entstehung der Geschichtsphilosophie." Der Begriff wurde recht weit gefasst - K. bezieht sich auf Kösters Deutsche Encyklopädie (1790): "Schon die pragmatische Geschichtsschreibung, die aus eigenen und fremden Erfahrungen Schlüsse ziehe, verdiene diesen Namen, ebenso die historische Kritik, die Wahrheit von Wahrscheinlichkeit unterscheiden lehre, und deshalb könne man auch die Logik der Geschichte oder die Theorie der Historie so nennen.... Es war eine Leistung der Aufklärungsphilosophie, kraft derer sich die Historie als Wissenschaft von der sie flankierenden Rhetorik und Moralphilosophie ablöste und aus der ihr übergeordneten Theologie und Jurisprudenz befreite."

Das macht das sprechen über Geschichtsphilosophie doch wirklich kompliziert; z. B. frage ich mich, warum die "pragmatische Geschichtsschreibung" - wenn mehr als nur historischen Gründen - dazu gehören sollte? Was übrigens mit "historischer Kritik" gemeint ist, erschließt sich mir auch nicht recht (besonders wegen des anschließenden Relativsatzes); über Geschichtslogik und Historientheorie müßte ich noch recherchieren, aber wegen solcher Spezialfragen verzeifelte ich wohl an diesem Thema...

Auch für die vor-aufklärerische Zeit sollte man in begrifflicher Hinsicht nicht zu pingelig sein und auch Hobbes, Spinoza usw. anführen dürfen, desgleich Augustinus und Thomas. Der Philosophiehistoriker Vorländer zögert auch nicht, Lukrez den Schöpfer einer "Geschichtsphilosophie höchst fesselnder Art" zu nennen.
Vorländer will ich einmal trauen, was Lukrez betrifft (Vorländer, Karl/Geschichte der Philosophie/Die Philosophie des Altertums/Vierte Periode. Die hellenistisch-römische Philosophie/B. Die Philosophie auf dem Boden des römischen Weltreichs/Kapitel XIII. Die Philosophie bei den Römern/§ 45. Andere Richtu); zu Augustinus hatte ich folgende Informationen zusammengestellt:

Der „Lehrer des Abendlandes“ und Kirchenvater Augustinus legte nach Hirschberger (Bd. I, Abschnitt II, 3) seine Geschichtsphilosophie im ersten Viertel des 5. Jhs. in 22 Büchern über den Gottesstaat (De civitate die) nieder. Vorläder gibt an, daß in Augustins Vorstellung vom Anfang der Welt noch manichäische Gedanken nachwirken. Demnach widerstreiten zwei Reiche in der Weltgeschichte, der himmlische Gottesstaat und die societas diaboli auf Erden (civitas terrena). Die sechs Stufen/Perioden der Weltgeschichte (Lebensalter der Menschheit) werden in Analogie zum biblischen Schöpfungsbericht sowie der überlieferte Geschichte Israels konstruiert. Naturgemäß begannt diese Weltgeschichte mit Adam und dessen Erbe: die Sünde (Prädestinationslehre).​

Mit Thomas meinst du von Aquin? Nicht daß ich dir nicht glauben möchte, daß er eine Geschichtsphilosphie hatte, aber wo findet ich sie? In gleicher Hinsicht fehlt mir ein Hinweis bei Spinoza, Mehlis erwähnt ihn zwar mehrfach (ichhabe nur kurz reingelesen), aber für mich wenig überzeugend. Und Hobbes, der Name klingt schon eher nach Geschichtsphiosophie, aber hatte er eine? Wenn du die genannten der Geschichtsphiolophie zuschlagen willst, würde mich interessieren, warum.​

Besonders ausgreifend insoweit auch Eisler in seinem weitverbreiteten Wörterbuch: "Die Sociologie als eigene Disziplin" sei früher "als Geschichtsphilosophie und Rechtsphilosophie" aufgetreten.

Bei Soziologie fällt mir Auguste Compte ein, den man schon guten Gewissens zu den Geschichtsphiolosphen zählen kann.

Eine gute Zusammenfassung hat, etwa zeitgleich mit Rickert, schon Georg Simmel gegeben [3]. Seine Kapitelüberschriften liefern sozusagen das inhaltliche Programm:
I. Von den inneren Bestimmungen der Geschichtsforschung
II. Von den historischen Gesetzen
III. Vom Sinn der Geschichte

Ja, seine Geschichtsphilosophie hatte ich mir auch besorgt, allerdings die mir vorliegende Ausgabe ist die spätere, stark überarbeitete. Von Simmel soll sich Rickert gewissermaßen den methologischen Begriff der idividualisierenden Begriffsbildung geborgt haben.


Siehe auch Golo Manns Abriß "Die Grundprobleme der Geschichtsphilosphie von Plato bis Hegel" (in: Der Sinn der Geschichte, München 1961, S. 11-30); erwähnt deshalb, weil viele davon ausgehen, die Griechen hätten keine Geschichtsphilosophie im eigentlichen Sinne entwickelt.

Man muß schon sagen: was Geschichtsphilosophie sei, da gehen die Meinungen wohl häufig sehr weit auseinander!
 
Man muß schon sagen: was Geschichtsphilosophie sei, da gehen die Meinungen wohl häufig sehr weit auseinander!....
Das ist offensichtlich so, beunruhigt mich aber nicht weiter. Was unser Fach/Hobby Geschichte betrifft, könnte man die Zeit nur damit verbringen, Begriffsdiskussionen anzuzetteln. Im weitbreiteten dtv-Wörterbuch Geschichte heisst es z.B. kurz und knackig: [1]
G. befaßt sich mit dem Sinn der Geschichte (Geschichtsmetaphysik) und mit der logischen Voraussetzung der Geschichtswissenschaft (Geschichtslogik).​
Das ist ziemlich nahe bei Simmels Programm. Etwas ausführlicher z.B. Jordan. [2] Die Tatsache, dass es daneben eine unbestimmte Zahl von anderen Ansätzen gibt [3], mag man aus wissenschaftstheoretischer Sicht als Mangel bewerten, aber lass uns das mal als Chance sehen...:pfeif:

Mit Thomas meinst du von Aquin? Nicht daß ich dir nicht glauben möchte, daß er eine Geschichtsphilosphie hatte, aber wo findet ich sie? In gleicher Hinsicht fehlt mir ein Hinweis bei Spinoza, [...] Und Hobbes, der Name klingt schon eher nach Geschichtsphiosophie, aber hatte er eine? Wenn du die genannten der Geschichtsphiolophie zuschlagen willst, würde mich interessieren, warum.
Da Du mich direkt ansprichst: Ich habe nur Leute zitiert, die Thomas/Spinoza/Hobbes für Geschichtsphilosophen halten...:scheinheilig:

Behufs Hobbes jemand, den Du (woanders) auch schon zitiert hast: Für Max Horkheimer war Machiavelli "der erste Geschichtsphilosoph der Neuzeit"), bei dem Hobbes "in die Lehre ging". [4] Zu den grundsätzlichen Problemen, die Hobbes (laut Horkheimer) aufwirft, gehört z.B. das der Ideologie, welches etwa so formuliert werden kann: "der Gang der seitherigen Geschichte ist nur zu begreifen, wenn wir als einen der wichtigsten Faktoren die Leitung der Menschen durch ideologische Mittel in Rechnung stellen" usw. [5]

Über die Utopisten (Campanella, Morus) kommt Horki dann zu Vico. Kurz und gut: er ist nicht pingelig in dem, was er dem Genre Geschichtsphilosophie zurechnet, aber es gibt keinen Grund, ihm das vorzuwerfen - die "Diskursfähigkeit" seiner Ausführungen steht außer Zweifel, und darauf kommt es schließlich meiner Meinung nach an.


[1] Hrsg. Konrad Fuchs & Heribert Raab, hier: 12. Aufl. 2001, S. 292
[2] Theorien und Methoden der Geschichtswissenschaft, Stuttgart 2008, S. 23 = Theorien und Methoden der ... - Google Bücher
[3] Siehe z.B. die drei grundlegenden Fragen in Philosophy of history - Wikipedia, the free encyclopedia
[4] Änfänge der bürgerlichen Geschichtsphilosophie, Frankfurt 1971, Zitate S. 31, 32. Hobbes hatte natürlich noch andere Lehrer, z.B. Bacon, der von Jordan (siehe oben) aber auch in Kontakt des Genres behandelt wird.
[5] aaO, S. 51. Man könnte nun einwenden, Hobbes sei gar kein Geschichtsphilosoph, sondern "nur" ein Staats- oder Sozialphilosoph; aber mal ehrlich: was soll's?
 
Immer, wenn ich mir ein wenig Zeit für eine Antwort nehmen wollte, wurde ich daheim leider immer mehr oder weniger unterbrochen... Daher erst jetzt diese und auch nur kurze:
Was unser Fach/Hobby Geschichte betrifft, könnte man die Zeit nur damit verbringen, Begriffsdiskussionen anzuzetteln. Im weitbreiteten dtv-Wörterbuch Geschichte heisst es z.B. kurz und knackig: [1]
G. befaßt sich mit dem Sinn der Geschichte (Geschichtsmetaphysik) und mit der logischen Voraussetzung der Geschichtswissenschaft (Geschichtslogik).
Das ist ziemlich nahe bei Simmels Programm. Etwas ausführlicher z.B. Jordan. [2] Die Tatsache, dass es daneben eine unbestimmte Zahl von anderen Ansätzen gibt [3], mag man aus wissenschaftstheoretischer Sicht als Mangel bewerten, aber lass uns das mal als Chance sehen...

Ja das klingt gut: Geschichtsphilosophie als Frage nach dem Sinn der Geschichte ging mir sogar selbst so durch den Kopf, erinnert mich aber jetzt auch erst an Immanuel Kant, oder vielmehr was ich bei Schnädelbach (allerdings nicht seiner Einführung!) dazu gelesen hatte. Freilich steht das dort gar nicht so, wie ich vermeine,* und wahrscheinlich habe ich dazu auch eher eine Banalität bei Rohbeck oder anderwo (etwa Rickert?) gelesen. Jedenfalls ist das ein Thema, das sich – wenn überhaupt – philosophisch angehen läßt, wenn die Frage wohl auch dann in viele schwer zu beantwortende Einzelfragen zerfallen könnte.
Da Du mich direkt ansprichst: Ich habe nur Leute zitiert, die Thomas/Spinoza/Hobbes für Geschichtsphilosophen halten...
Behufs Hobbes jemand, den Du (woanders) auch schon zitiert hast: Für Max Horkheimer war Machiavelli "der erste Geschichtsphilosoph der Neuzeit"), bei dem Hobbes "in die Lehre ging". [4] Zu den grundsätzlichen Problemen, die Hobbes (laut Horkheimer) aufwirft, gehört z.B. das der Ideologie, welches etwa so formuliert werden kann: "der Gang der seitherigen Geschichte ist nur zu begreifen, wenn wir als einen der wichtigsten Faktoren die Leitung der Menschen durch ideologische Mittel in Rechnung stellen" usw. [5]
Über die Utopisten (Campanella, Morus) kommt Horki dann zu Vico. Kurz und gut: er ist nicht pingelig in dem, was er dem Genre Geschichtsphilosophie zurechnet, aber es gibt keinen Grund, ihm das vorzuwerfen - die "Diskursfähigkeit" seiner Ausführungen steht außer Zweifel, und darauf kommt es schließlich meiner Meinung nach an.
[...]
[4] Änfänge der bürgerlichen Geschichtsphilosophie, Frankfurt 1971, Zitate S. 31, 32. Hobbes hatte natürlich noch andere Lehrer, z.B. Bacon, der von Jordan (siehe oben) aber auch in Kontakt des Genres behandelt wird.
[5] aaO, S. 51. Man könnte nun einwenden, Hobbes sei gar kein Geschichtsphilosoph, sondern "nur" ein Staats- oder Sozialphilosoph; aber mal ehrlich: was soll's?
Na das überzeugt mich trotzdem immer noch nicht. Ich traue Horkheimer durchaus eine dezidierte Meinung zu; würde es natürlich trotzdem selbst gerne nachlesen ... habe ich aber nicht vorliegen. Wie dem auch sei, Sozialphilosophie kann sich natürlich mit Geschichtsphilosophie überschneiden. Aber aus dem Zitat geht für mich nicht hervor, daß Hobbes prima facie als Geschichtsphilosoph gelten kann, geschweige denn von Horkheimer so eingeschätzt wird.

* In Schnädelbachs Geschichtsphilosophie nach Hegel wird Kants Ansatz mit dem Anspruch einer Systematisierung der geschichtlichen Erfahrung/ Geschichte zusammengefaßt, freilich als Problem von Ereignisgeschichte als auch ihrer Darstellung.
 
Aber aus dem Zitat geht für mich nicht hervor, daß Hobbes prima facie als Geschichtsphilosoph gelten kann, geschweige denn von Horkheimer so eingeschätzt wird.

Nun, ich denke nicht, dass Horkheimer eine spezielle Definition von "Geschichtsphilosophie" (G.) im Sinn hatte. Jedenfalls widmet er Hobbes das gesamte Kapitel "Naturrecht und Ideologie" (S. 31-57), darunter mit Formulierungen wie

  • "Seine [Hobbes] G." (S. 32 oben)
  • "Die Lehrbücher der G. reihen Hobbes gewöhnlich..." (S. 36)
  • "Zum ersten Mal in der neueren G. ist von Hobbes ... das Problem ... gestellt worden..." (S. 56)
Deine Skrupel bringen mich aber zu einer anderen Überlegung. Hobbes argumentiert inhaltlich, indem er z. B. den Begriff der Ideologie herausarbeitet. Aber geht er auch methodisch wie ein Geschichtsphilosoph vor? Anders gefragt: Zeichnen sich Geschichtsphilosophen durch eine bestimmtes methodisches Konzept aus, dass sie z.B. von Staats- und Sozialphilosophen unterscheiden könnte? Falls ja, hätten wir ein Differenzierungskriterium.
 
Dem Literaturhinweis jschmidts auf einen von mir geschätzten Philosophen war ich dann tatsächlich gefolgt:
Horkheimer [1930=[I]Anfänge der bürgerlichen Geschichtsphilsophie[/I]]arbeitet im übrigen heraus, daß ein zentraler Gedanke Machiavellis vor allem derjenige eines starken (zentralistischen) Staates sei, wobei dessen konkrete Staatsform (z. B. Monarchie oder Republik) dabei eher zweitrangig sei, da sich diese stets und je nach gesellschaftlichen Kräfteverhältnissen - nach Machiavelli in einer gewissen zyklischen Abfolge - verändern.
http://www.geschichtsforum.de/649345-post5.html

Hobbes führte er hinsichtlich der Frage der Ideologie an; aber als Geschichtsphilosophen fällt mir dessen Einordnung zur diskutierten Disziplin immer noch schwer.
 
Zuletzt bearbeitet:
@ jschmidt Ein sie auszeichnendes methodisches Konzept würde ich eher für fraglich halten – warum sollte man der Geschichtsphilosophie bestimmte Methodiken verbieten? Ich denke doch eher, dass sie sich durch inhaltliche Grundannahmen/Fragestellungen auszeichnet, insbesondere durch eine, die ich mal so ausdrücken würde: dass Geschichte einen zu entschlüseelnden Sinn habe (resp. in metakritischer Wendung: dass dieser zu entschlüsselnde, vorgebliche Sinn zu destruieren sei). Geschichtsphilosophie = Jene philosophische Disziplin, die Frage stellt, ob der menschlichen Geschichte Sinnhaftigkeit beigemessen werden kann - wenn ja, welcher denn dann, und wenn nein, warum nicht resp was käme in dieser Sehnsucht nach Sinn zum Ausdruck. In Herders Worten (der Name Herder fiel hier, glaube ich, noch nicht):


Schon in ziemlich frühen Jahren, da die Auen der Wissenschaften noch in alle dem Morgenschmuck vor mir lagen, von dem uns die Mittagssonne unsres Lebens so viel entziehet, kam mir oft der Gedanke ein: ob denn, da alles in der Welt seine Philosophie und Wissenschaft habe, nicht auch das, was uns am nächsten angeht, die Geschichte der Menschheit, im ganzen und großen eine Philosophie und Wissenschaft haben sollte? Alles erinnerte mich daran, Metaphysik und Moral, Physik und Naturgeschichte, die Religion endlich am meisten. Der Gott, der in der Natur alles nach Maß, Zahl und Gewicht geordnet, der darnach das Wesen der Dinge, ihre Gestalt und Verknüpfung, ihren Lauf und ihre Erhaltung eingerichtet hat, so daß vom großen Weltgebäude bis zum Staubkorn, von der Kraft, die Erden und Sonnen hält, bis zum Faden eines Spinnegewebes nur eine Weisheit, Güte und Macht herrschet, Er, der auch im menschlichen Körper und in den Kräften der menschlichen Seele alles so wunderbar und göttlich überdacht hat, daß, wenn wir dem Allein-Weisen nur fernher nachzudenken wagen, wir uns in einem Abgrunde seiner Gedanken verlieren: wie, sprach ich zu mir, dieser Gott sollte in der Bestimmung und Einrichtung unsres Geschlechts im ganzen von seiner Weisheit und Güte ablassen und hier keinen Plan haben? Oder er sollte uns denselben verbergen wollen, da er uns in der niedrigern Schöpfung, die uns weniger angeht, so viel von den Gesetzen seines ewigen Entwurfs zeigte? Was ist das menschliche Geschlecht im ganzen als eine Herde ohne Hirten? Oder, wie jener klagende Weise sagt: »Lässest du sie gehen wie Fische im Meer und wie Gewürm, das keinen Herrn hat?« - Oder hatten sie nicht nötig, den Plan zu wissen? Ich glaube es wohl; denn welcher Mensch übersiehet nur den kleinen Entwurf seines eignen Lebens? Und doch siehet er, so weit er sehen soll, und weiß gnug, um seine Schritte zu leiten; indessen, wird nicht auch eben dieses Nichtwissen zum Vorwande großer Mißbräuche? Wie viele sind, die, weil sie keinen Plan sehen, es geradezu leugnen, daß irgendein Plan sei, oder die wenigstens mit scheuem Zittern daran denken und zweifelnd glauben und glaubend zweifeln. Sie wehren sich mit Macht, das menschliche Geschlecht nicht als einen Ameishaufen zu betrachten, wo der Fuß eines Stärkern, der unförmlicherweise selbst Ameise ist, Tausende zertritt, Tausende in ihren klein-großen Unternehmungen zernichtet, ja wo endlich die zwei größten Tyrannen der Erde, der Zufall und die Zeit, den ganzen Haufen ohne Spur fortführen und den leeren Platz einer andern fleißigen Zunft überlassen, die auch so fortgeführt werden wird, ohne daß eine Spur bleibe. - Der stolze Mensch wehret sich, sein Geschlecht als eine solche Brut der Erde und als einen Raub der alleszerstörenden Verwesung zu betrachten; und dennoch, dringen Geschichte und Erfahrung ihm nicht dieses Bild auf? Was ist denn Ganzes auf der Erde vollführt? Was ist auf ihr Ganzes? Sind also die Zeiten nicht geordnet, wie die Räume geordnet sind? Und beide sind ja die Zwillinge eines Schicksals. Jene sind voll Weisheit; diese voll scheinbarer Unordnung; und doch ist offenbar der Mensch dazu geschaffen, daß er Ordnung suchen, daß er einen Fleck der Zeiten übersehen, daß die Nachwelt auf die Vergangenheit bauen soll: denn dazu hat er Erinnerung und Gedächtnis. Und macht nun nicht eben dies Bauen der Zeiten aufeinander das Ganze unsres Geschlechts zum unförmlichen Riesengebäude, wo einer abträgt, was der andre anlegte, wo stehenbleibt, was nie hätte gebauet werden sollen, und in Jahrhunderten endlich alles ein Schutt wird, unter dem, je brüchiger er ist, die zaghaften Menschen desto zuversichtlicher wohnen? - Ich will die Reihe solcher Zweifel nicht fortsetzen und die Widersprüche des Menschen mit sich selbst, untereinander und gegen die ganze andre Schöpfung nicht verfolgen. Genug, ich suchte nach einer Philosophie der Geschichte der Menschheit, wo ich suchen konnte. (Herder, Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit, Vorrede)
Zu Herder - die Stichworte sind bekannt: Nationenbegriff, Historismus - gerne mehr.
 
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