Kindheiten

Kassia

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Falls zu dem Thema schon etwas geschrieben wurde, verlinkt mich ;)
Ich suche Infos zum Thema Kindheit in früheren Zeiten. Wie standen Eltern zu ihren Kindern und Kinder zu ihren Eltern? Wer galt wielange als Kind? Wie sah Erziehung aus, wie verbreitet waren Schulbesuche, mit welchem geistig/intellektuellen Input wurden Kinder groß. Was genau meint "schwarze Pädagogik"?
Mich interessieren vor allem das späte Mittelalter und die frühe Neuzeit - wie sollte es anders sein im Zusammenhang mit Hexenverfolgungen, in die in späterer Zeit auch vermehrt Kinder involviert waren. Allerdings bin ich etwas skeptisch, wenn ich z.B. lese, daß Kinder ihre Eltern aus Rache angezeigt haben, das scheint mir eine Rückprojektion heutiger Maßstäbe für Erziehung zu sein.
Gute Literaturhinweise werden selbstverständlich dankbar entgegengenommen.

LG Kassia
 
Mich interessieren vor allem das späte Mittelalter und die frühe Neuzeit - wie sollte es anders sein im Zusammenhang mit Hexenverfolgungen, in die in späterer Zeit auch vermehrt Kinder involviert waren.
Also Du meinst die Zeit bis 1770 ungefähr, also bis zu den letzten Hexenprozessen in Mitteleuropa?
Zum 18.Jh. könnte ich schon was sagen, vielleicht auch ein klein wenig zum späten 17.Jh..
 
Es gibt ein Buch über die Hexenprozesse gegen Kinder im "alten Württemberg".
Besitze ich.
Genauer Titel und Verfasser aber nicht im kopf.

Bei Bedarf kurze Info, kann ich Dir heute abend hier reinstellen.

Grüße Repo
 
Repo: Ich denke, das Buch, das du meinst habe ich auch (Hartwig Weber: Hexenprozesse gegen Kinder) - aber gerade das hat mich ja etwas stutzig gemacht, deswegen wollte ich noch eine andere/allgemeinere Sicht auf die Dinge haben, denn der Autor sagt selbst, daß er Pädagoge, kein Historiker ist.
Trotzdem Danke.
 
Ich suche Infos zum Thema Kindheit in früheren Zeiten. Wie standen Eltern zu ihren Kindern und Kinder zu ihren Eltern? Wer galt wielange als Kind? Wie sah Erziehung aus, wie verbreitet waren Schulbesuche, mit welchem geistig/intellektuellen Input wurden Kinder groß. Was genau meint "schwarze Pädagogik"?

Nun alle Frage kann ich nichtbeantworten, aber wenigestens zwei davon:

1. "Schwarze Pädagogik"
Den Begriff prägte Katharina Rutschky zum Ende der 70er Jahre mit gleichnamigem Titel einer von ihr herausgegebenen Anthologie mit dem Untertitel: "Quellen zur Naturgeschichte der bürgerlichen Erziehung" (erschienen im Ullsteinverlag, 1977). Es handelt sich um eine von ihr eingeleitete und kommentierte Zusammenstellung von pädagogischen Schriften des 18. und 19. Jh., mit Alice Miller (Am Anfang war Erziehung. Suhrkamp, 1980) gesprochen: "eine Sammlung von Erziehungsschriften, in denen alle Techniken der frühen Konditionierung zum Nicht-Merken [...] beschrieben werden"

2. Eltern-Kind-Beziehungen aus historischer Sicht
Diese spezifische Betrachtungsweise entwickelten Philippe Ariès (1914-1984) und Lloyd de Mause. Der Forschungszweig nennt sich "Psychihistorie"; einschlägig sind
Ariès: L'enfant et la vie familiale sous l'ancien régime (1960; dt. Übers.: Geschichte der Kindheit)
De Mause: The History of Childhood (1974; dt. Hört ihr die Kinder weinen. Eine psychogenetische Geschichte der Kindheit)
Zu empfehlen ist der einführende Aufsatz von Edmund Hermsen: Ariès 'Geschichte der Kindheit' in ihrer Mentalitätsgeschichtlichen und psychhistorischen Problematik. in: Friedhelm Nyssen & Ludwig Janus (Hg.), Psychogentische Geschichte der Kindheit. Beiträge zur Psychohistorie der ELtern-Kind-Beziehung. Gießen: Psychosozial-Verlag, 1997, S.127-158



Mich interessieren vor allem das späte Mittelalter und die frühe Neuzeit - wie sollte es anders sein im Zusammenhang mit Hexenverfolgungen, in die in späterer Zeit auch vermehrt Kinder involviert waren. Allerdings bin ich etwas skeptisch, wenn ich z.B. lese, daß Kinder ihre Eltern aus Rache angezeigt haben, das scheint mir eine Rückprojektion heutiger Maßstäbe für Erziehung zu sein.

In dem von Nyssen & Janus herausgegebenen Band findet sich auch ein Artikel (S.399-405) von Friedhelm Nyssen (Eröffnung eines neu entdeckten Kapitels zur Geschichte der Kindheit: Kinderhexenforschung. Anmerkungen zu Hartwig Weber: 'Von der verführten Kinder Zauberei" - Hexenprozesse gegen Kinder im alten Württemberg.)

Einleitend erwähnt der Autor die in den 80er Jahren in der Psychoanalyse geführte Diskurs, ob nun sog. ödipale Phantasien oder real erfahrene Traumata zu psychischen Erkrankungen führen würden. Die Psychohistorie im allgemeinen, aber hier die Thematik der Kinderhexenprozesse im besondere würde belegen, daß keine Phantasie an sich zur Krankheit führt, sondern daß immer "irgendeine reale Ursache, Mißbrauch, Schlagen, Ausbeutung etc. vorhanden sein muß."
Interessant an den Akten der Kinderhexenprozesse sei vor allem, daß die Kinder sich selbst der Verbrechen beschuldigten und indem sie das taten, konnte sie auch andere ebenfalls der Hexenrei bezichtigen:
"Auf diese Weise konnte ein Kind, das den Nachweis führen konnte, selbst eine Hexe, also dem Teufel verschrieben zu sein, ebenfalls beanspruchen, die anderen an der Hexengemeinschaft Beteiligten erkannt zu haben.
Nach Webers Untersuchung von 39 Akten über 'Kinderhexenprozesse' handelte es sich um Personen, die im Leben der Kinder als Eltern, Geschwister, sonstige Verwandte, Lehrer, Pfarrer eine bedeutende Rolle spielten, und zwar in der Regel eine repressive. [...] Weber führt in seinem Buch aus, daß dieses Verfahren, sich an ihren pädagogischen Peinigern zu rächen, in der damaligen Zeit die einzige Möglichkeit für die Kinder darstellte, ihren Haß zu artikulieren. Dabei handelt es sich um einen unbewußt gesteuerten Vorgang, in dem die Kinder die erlernten Kenntnisse über das Hexenwesen anwandten."

Hier bezieht sich Nyssen auch auf die grundlegende Studie desselben Autoren aus dem Jahre 1991 (Kinderhexenprezesse. Ffm), worin er überlieferte Gerichtsakten transkribiert hatte. Demnach gab es damals sogar so etwas wie eine Erziehungsliteratur, die die zeitgenössischen Wahnvorstellungen wiederspiegelt.

Als sozialpsychologische Erklärung des Teufelsglaubens und der verbeiteten "Hexenwahn", Hexen würden besonders Kinder töten oder sexuell mißbrauchten, könnte gemäß Autoren eigentliches Verführungs- und Mißbrauchsverhalten in der "frommen" Gesellschaft vermutet werden, das gelegentlich auf bestimmte Individuen projeziert wurde: Dadurch "konnten sexueller Mißbrauchs, körperliche und seelische Mißhandlung sowie die verbreitete Weggabe oder sogar Verstoßung von Kindern durch ihre Eltern als selbstverschuldete Handlungen psychisch ungeschehen gemacht und auf die Hexen verschoben werden."
Dieser Projektionsmechanismus, daß nämlich "Übergriffe von Erwachsenen auf Kinder, die dann den Hexen angelastet und an ihnen verfolgt wurden", erscheint denn auch bei den Kinderhexen: "Diese nehmen die Zuschreibung der frommen Erwachsenen an die 'verdampten Erwachsenen' auf, schreiben sie sich selbst zu, d. h. bezichtigen sich selbst der Hexerei und geben dann die Zuschreibungen durch ihre Anklagen und 'Besagungen' an die Frommen zurück" - und somit würden sich - nach Weber - die Kinder an den Erwachsenen für das ihnen zugefügte Leid rächen.

Aus dem leider sehr kurzen Artikel von Nyssen geht nicht hervor, inwieweit "Webers Material eindeutig belegt, daß daß die Kinderhexen selbst real schwersten Verletzungen ausgesetzt gewesen sind."
Genauso wenig werden die Folgen der Selbstbrandmarkung der Kinderhexen genannt, es sei denn, auch sie wurden verbrannt, wenn ich das Zitat richtig verstehe: In den Jahren 1627 und 1629 wurden allein in Würzburg mehr als zwanzig Kinder unter zehn Jahren wegen Hexerei verbrannt.

Schließlich scheint das Wort "Rache" für das Verhalten der Kinder nicht angemessen sein kann und sei es auch in einem "unbewußten" Sinne.
Zumindest hat sich mir noch nicht erklärt, unter welchen Umstände es eigentlich zur Selbstbezichtigung der Kinder kam.
 
Eine kleine Korretur bzw. Ergänzung zu meinem damaligen Litarturhinweis (da ich mich damit gerade ein wenig beschäftigt habe): In dem von mir angegebenen Buch von Nyssen & Janus (1997) findet sich noch ein weiterer Artikel von Nyssen, worin er sich mit dem psychogenetischen Ansatz von Lloyd de Mause auseinandersetzt und um die "demographische" Dimension Imhofs ergänzt. Vom selben Autoren mit Peter Jüngst (hg.) gibt es einen weiteren Band: "Kritik der Psychohistorie" (Gießen: Psychosozial-Verlag, 2003). Überhaupt scheint Friedhelm Nyssen für die deutschsprachige Erforschung der Geschichte der Kindheit eine gute Adresse zu sein, da er sich in seinen Arbeiten wirklich umfassend mit dem "affirmativen" Ansatz von De Mause auseinandersetzt.

Katharina Rutschky vertritt in ihrer Einleitung zur "Schwarzen Pädagogik" eher den "zivilisationskritischen" Ansatz in Anlehnung an Ariès, fühlt sich der Gesellschaftstheorie Walter Benjamins verbunden. Das wird auch sehr deutlich in ihrer Einleitung zur zweiten von ihr herausgegebenen und kommentierten Anthologie: "Deutsche Kinderchronik" (Köl: Kiepenheuer & Witsch, 1983), worin sie die pädagogikkritische Haltung von Alice Miller als "schwarze Pädagogik" bezeichnet.

Um zu klären, ob man bei den Hexenkinderkinder eine Art Rachemotiv als Erklärung für ihre Selbstdenunziation ausmachen kann, bedarf es eines psychologischen oder mehrnoch sagar eines psychoanalytischen Modells für den frühneuzeitlichen Menschen. Rutschky (1983, Anm. 7) verweist auf Ansätze einer historischen Anthropologie.
 
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