Tanzstunde im 19. Jahrhundert

Mercy

unvergessen
Ländlicher Tanzunterricht:

Gleich nach Neujahr wanderte regelmäßig ein alter Tanzmeister, namens Pahl, von Haus zu Haus durch das Städtlein, klopfte an alle Türen, wo er tanzstundfähige Beine witterte und lud zur Teilnahme an seinem Unterricht ein. Die Professoren sahen meist scheel dazu; für jede verfehlte Frage mußte Monate lang bis zum Überdruß und zur Langeweile die Tanzstunde als Ursache herhalten! Den ungelenken, versteiften Gliedern der jungen Germanen konnte das bißchen Geschmeidigkeit wahrlich nichts schaden.

Im Saal der »Kette«, dicht am Tauberufer, fanden die köstlichen Abende statt. Mit Ernst und Abgemessen ward einem da erst das richtige Grüßen auf der Straße beigebracht, sogar dreifache, bis zur Erde sich neigende Verbeugungen für Empfänge bei fürstlichen Persönlichkeiten eingeübt. Ein König würde sich den Leib vor Lachen gehalten haben, wenn die bei ihm Eintretenden ihn mit solchen Hopsern bekratzfußt hätten. Nach einigen Wochen getrennter Anstandsübungen kam der große Tag, wo »Herren« und »Damen« so weit herangebildet waren, daß man sie zusammenkommen lassen konnte: Bei trübseligem Öllampenlicht wogten die Rundtänze durch den Saal, und ich freute mich stets auf die Abende, da ich meine Lieblingstänzerinnen Emilie und Therese im Arme schwingen durfte. Altväterlich genug ging es dort noch her: einmal stand der Tanzlehrer vor dem Saal und deutete betrübt in den dunklen Raum: »Heute kann - keine Tanzstunde sein; es ist große Wäsche, die muß trocknen!«, indes auf finsterm Hintergrunde weiße Leintücher und allerlei unterirdische Laken gespensterhaft - schwankten.

Der Tanzmeister ergötzte uns durch neue Wortbildungen, womit er den Sprachschatz erweiterte; so befehligte er mit Vorliebe: »Tanzen Sie Tür-zu's! « Herr Pahl war ein Allgeist: von Hause aus Hutmacher, in Mußestunden Tanzmeister, aus künstlerischem Drange Lichtbildner, schriftstellerte er sogar; er hatte ein Anstandsbüchlein herausgegeben *), das man aus Anstandsgefühl kaufen mußte und das viel versprechend anhub: »Es gibt eine gewisse Gattung von Gesichtsgebärden, welche unter dem Namen von Grimassen bekannt sind und schon durch das angeborene Gefühl von Schicklichkeit für unanständig erklärt werden.«

Nach dreimonatiger Unterweisung war »Große Tanzstunde«, eine Art Abübung und Schauvorstellung. Die ganze Teilnehmerschaft ließ sich zum ewigen Andenken von ihrem großen Tanzvorbilde lichtbildnern. Der tanzmeisterliche Höhenmensch wußte mit künstlerischem Geschmacke die Gesellschaft so anmutig aufzustellen, daß von einem erklecklichen Teile nur Ohren oder Haarspitzen dem Betrachter sich darstellten. Auch ein Tanzstundenausflug nach Waldenhausen wurde vom »vornehmen« Teile der Gesellschaft veranstaltet; die Tante einer meiner Leibtänzerinnen hatte sich gütiger Weise zur Wachdame angeboten; ich sprach sie »Gnädige Frau« an; so etwas war, seit Kaiser Heinrich II. im Jahre 1009 Wertheim das Marktrecht verwilligt hat, kaum vorgekommen! Erstaunte Stimmen zischelten einander ins Ohr: »Er muß, scheint es; ein Österreicher sein ... «

Aus Heinrich Vierordt, »Das Buch meines Lebens«, 2. Auflage, Heidelberg 1934.
Vierordt lebte 1870 bis 1874 in Wertheim.

*) Die Tanzkunst oder der gute Tänzer und seine Dame auf Bällen und Kränzchen.
Systematischer Leitfaden zur Erlangung einer geraden Haltung, eines schönen, richtigen Ganges, so wie Beschreibung aller derzeit vorkommenden Tänze von Ludwig Pahl, Tanzlehrer. Druck von C. Wagner, Mosbach
 
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