Wie soll ich mit der Geschichte umgehen? Wie kann ich mit der Geschichte umgehen?
In der Zeit der Aufklärung war es Usus geworden, über die Vergangenheit scharf zu urteilen, ihre Menschen, deren Charakter, ihre Handlungen und ihre Absichten. Voltaire hat sich da ja ganz besonders hervorgetan.
1824 stellte Ranke dem eine andere Auffassung von der Aufgabe eines Historikers entgegen: Während andere Historiker beanspruchten „über die Vergangenheit zu richten und die Mitwelt zum Nutzen künftiger Jahre zu belehren“, meinte er, „solcher Dinge vermesse“ er sich nicht, er wolle nur zeigen, „wie es eigentlich gewesen ist“. Und in seinem Werk „Englische Geschichte, vornehmlich im sechzehnten und siebzehnten Jahrhundert“ sagte er: „Ich wünschte, mein Selbst gleichsam auszulöschen, und nur Dinge reden, die mächtigen Kräfte erscheinen zu lassen. Könnte dieses Postulat Rankes voll umgesetzt werden, so ergäbe sich daraus eine objektive Darstellung der Geschichte.
Auch vor Ranke hatten Geschichtsschreiber, seit Thukydides, Herodot und Tacitus, immer wieder ihren Anspruch hervorgehoben, unparteilich über geschichtliche Vorgänge zu berichten (Tacitus: „sine ira et studio“), was sie aber nicht hinderte, wie selbstverständlich Zensuren über gut und böse zu erteilen. Genau in diesem Punkt wollte Ranke aber mehr. Er meinte dem Sinne nach, ich kann mich an die genaue Stelle nicht erinnern, jede Epoche sei unmittelbar zu Gott, sei nicht mediatisiert durch unsere Perspektive von unserer Gegenwart her.
Nun sollte man meinen, Geschichtsbetrachtung, jedenfalls wenn sie von einem Historiker mit wissenschaftlichem Anspruch betrieben wird, müsse zwangsläufig Rankes Anforderungen genügen. Schließlich ist der Historiker Vertreter einer Wissenschaft, der Geschichtswissenschaft, er gehört zur scientific community. Wenn er Aussagen zur Geschichte macht, dann sind das nicht einfach Meinungen oder Überzeugungen, nein, ein Wissenschaftler muss beanspruchen objektiv zu sein. Würde dieser Anspruch nicht bestehen oder nicht eingelöst werden können, dann wäre die Geschichts“wissenschaft“ eben keine wissenschaftliche Disziplin.
Nun sind Historiker auch nur Menschen. Sie sind durch Gene, Erziehung, Ausbildung in ihrem Charakter geformt worden, jeder hat seinen individuellen Charakter entwickelt in seiner Zeit, der ihn prägt, ob er will oder nicht. Das ist wohl auch der Grund dafür, dass die gleichen geschichtlichen Vorgänge von Historikern mit unterschiedlichem Werdegang und in unterschiedlicher Zeit völlig verschieden dargestellt werden können. Auch Ranke war davon nicht frei, aber er hatte den Willen, die sich daraus ergebende Einschränkung seiner Objektivität bewusst zu überwinden. Aber natürlich konnte auch er nur von seinem Standpunkt und aus seiner Zeit heraus Geschichte erzählen. Und was der Historiker über Geschichte erzählt, ist ja nur ein Ausschnitt aus einer kontinuierlichen Entwicklung, die bis zur Gegenwart reicht und darüber hinaus offen weiterführt. Und aus der Perspektive seiner individuellen Gegenwart berichtet der Historiker. Insofern ist Objektivität, auch für den Wissenschaftler, wohl vollständig gar nicht möglich.
Aber sollte sie angestrebt werden? Schon früh hat Ranke mit seiner Forderung Widerspruch erfahren. Johann Gustav Droysen etwa hielt Rankes Ideal, zu berichten, „wie es eigentlich gewesen ist“ für „eunuchenhaft“. Und nicht nur in Deutschland, in vielen Ländern Europas hat man im 19. Jahrhundert der Geschichtswissenschaft die Rolle eines politischen Erziehers des Volkes zugedacht. Sie sollte nicht ein möglichst objektives Bild der Geschichte vermitteln, sondern sie sollte „cum ira et studio“ mit nationalem Engagement ein besonders positives Bild der eigenen Geschichte vermitteln. Diese volkserzieherische Perspektive historischer Betrachtung findet man auch in der Gegenwart, so, wenn etwa der frühere Bundespräsident von Weizsäcker einmal einen zeitgeschichtlichen Vorgang, der der Perspektive des herrschenden Zeitgeistes nicht entsprach, als „volkserzieherisch unerwünscht“ bezeichnete.
Und auch heute gibt es eine Schule von Historikern, insbesondere in westlichen Ländern, die ein objektives Geschichtsbild gar nicht für wünschenswert halten. Sie stellen historische Vorgänge tendenziell negativ dar, und zwar nahezu generell. Wie in einem Strafprozess, in dem sie gleichzeitig Staatsanwalt und Richter sind, verurteilen sie die handelnden Personen der Geschichte, werfen ihnen Versagen vor, insbesondere ethisches und moralisches, und betonen die Schuld, die diese Personen der Geschichte, vielleicht auch die betreffenden Völker oder Institutionen auf sich geladen haben. Sie stellen sich selbst auf ein hohes moralisches Podest, von dem herunter sie urteilen; dabei messen sie oft Jahrhunderte zurückliegendes Verhalten an einem realitätsfernen, heute entstandenen Ideal, das sie wahrscheinlich für besonders progressiv halten. Diese historische Schule hat erheblichen Einfluss auf die Medien und den Zeitgeist und hat die heute so verbreitete Mode des Entschuldigens provoziert, die selbst wieder in einem Rückkopplungseffekt manche Versuche zu objektiverer Geschichtsbetrachtung zu kommen, be- oder gar verhindert.
Es wäre ja geradezu degoutant, den Einfluss jahrhundertelanger arabischer Eroberungszüge auf die Entscheidung der Päpste zu Kreuzzügen zu untersuchen, wenn sich deren Nachfolger ständig für die Tatsache der Kreuzzüge entschuldigen.
Und so entschuldigen sich Queen Elizabeth bei den Maoris, Tony Blair und der Erzbischof von Canterbury für Großbritanniens Beteiligung an Sklavenhandel und Sklaverei. Dabei gibt es keinen Menschen, unter dessen Vorfahren nicht auch sowohl Sklaven als auch Sklavenhalter waren.
Weiter kann man sich von dem von Ranke für sich selbst formulierten Postulat nicht entfernen, und seiner Feststellung, jede Epoche sei unmittelbar zu Gott. Dieser Satz enthält eine tiefe Wahrheit, auch wenn uns heute diese religiöse Sprache nicht zur Beurteilung geschichtlicher Vorgänge geeignet erscheint.
Wie aber sollte denn nun Geschichtsbetrachtung sein, auch hier bei uns im Forum?. Zwar sind die meisten von uns wohl keine Historiker mit wissenschaftlichem Anspruch. Es stellt sich aber dennoch auch für uns die Frage, inwieweit die Diskussion versuchen sollte, objektiv zu sein und sich ständiger Werturteile zu enthalten.
In der Praxis ist Rankes Ideal nicht durchführbar. Weil jeder in seiner Zeit und nach seiner individuellen Entwicklung Geschichte betrachtet, ergibt sich daraus für sein Denken eine bestimmte individuelle Perspektive, die mit dem Ideal der absoluten Objektivität nicht kompatibel sein kann. Sollte er sich nun aber um Objektivität bemühen? Oder sollte er immer für die Sache eintreten, die er für gut hält, die er für gerecht hält, auch wenn darüber, was nun gut oder gerecht in diesem Zusammenhang bedeutet, Streit besteht? Sollte er immer Partei nehmen?
Ich meine, man sollte sich immer um das Ideal der Objektivität bemühen, eine Aussage, die man machen will, daran messen. Ich bin mir bewusst, dass man mir hier den Vorwurf machen wird, ich würde einer Apologie der Vergangenheit das Wort reden. Aber auch eine Apologie ist ein Werturteil und nicht mit objektiver Betrachtung vereinbar. Alle politischen und moralischen Entscheidungen von Personen, die in der Geschichte gehandelt haben, sind Sache ihrer menschlichen Verantwortung. Werturteile hierüber zu fällen ist selbst dann problematisch, wenn wir uns alle über unsere Wertordnung, an der wir messen, einig wären. Und wir können unsere Werte schon gar nicht auf fremde Zeiten anwenden, die Vergangenheit an die Messlatte unserer Werte anlegen. Und wenn wir über fremde Kulturen in anderen Zeiten reden, dann müssen wir uns immer vor Augen halten, dass wir sie zwar beschreiben können. Aber sie verschließen sich unserer Beurteilung, jedenfalls einer ihnen angemessenen Beurteilung, wenn wir dafür unsere Werte als Grundlage nehmen würden. Die ganze Komplexität des Zusammenstoßes unterschiedlicher Werteordnungen, und das in einem Land und in einer Gesellschaft, wird ja derzeit an zahlreichen Beispielen aus dem täglichen Geschehen deutlich. Man sollte diese Probleme nicht auf die Befassung mit der Geschichte übertragen.
Ich musste mir dies einmal von der Seele schreiben, da mich der so unterschiedliche Umgang mit der Geschichte schon sehr lange beschäftigt. Die Gedanken, die Thomas Nipperdey 1979 in einem Aufsatz über „Kann Geschichte objektiv sein?“ und Hermann Lübbe 2001 in seinem Buch „Ich entschuldige mich“ vorgetragen haben, haben mir bei der Beschäftigung mit dem Thema sehr geholfen.