Zürcher Generalstreik von 1912

ursi

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Vom 19. März bzw. 1. April 1912 an streikten in Zürich etwa 800 Maler und 400 Schlosser. Sie forderten eine Arbeitszeitverkürzung von einer halben Stunde pro Arbeitstag. Die Unternehmer reagierten mit dem Aufstellen von schwarzen Listen, Ausweisung von ausländischen Arbeitern und dem Import von Streikbrechern aus Hamburg. Die Arbeiter stellten als Gegenmassnahme Streikposten auf. Die Lage eskalierte fast, als ein deutscher Streikbrecher am 15. April 1912 einen Maler, der als Streikposten eingesetzt war, erschoss. Der Streikbrecher wurde zwei Wochen später von einem Gericht in Pfäffikon frei gesprochen. Die aufgebrachten Arbeiter forderten daraufhin von der Zürcher Regierung ein Einfuhrverbot von Streikbrechern aus dem Deutschen Reich. Die Unternehmer versuchten ihrerseits von der Kantonsregierung ein Streikpostenverbot zu erzwingen. Nach einer Debatte im Zürcher Kantonsrat wurde der Regierungsrat aufgefordert „von allen Machtmitteln des Staates zum Schutze der Rechtsordnung Gebrauch zu machen“ (1). Am 6. Juli erließ der Stadtrat von Zürich auf Druck des Regierungsrats ein Streikpostenverbot. Die Zürcher Arbeiterunion erachtete dies als eine Provokation und versammelte am 9. Juli ihre Delegierten. An dieser Versammlung wurde beschlossen, mit einem 24-stündigen Generalstreik gegen den Regierungsratsbeschluss vorzugehen. Nachdem sich die Arbeiterunion für den Massenstreik ausgesprochen hatte, hielten auch die Gewerkschaften Versammlungen ab und entschieden sich mit grosser Mehrheit für den Streik. Im gleichen Sinn entschied auch das Kartell der städtischen Beamten, Angestellten und Arbeiter. Am 11. Juli wurde von der Arbeiterunion und dem Gewerkschaftsbund beschlossen, den Generalstreik am Freitag, dem 12. Juli durchzuführen. „Mächtig war die Begeisterung, als am Abend des 11. Juli den vor dem Volkshaus in Aussersihl versammelten Massen der Beschluss verkündet wurde“. (2)
Am Freitag, dem 12. Juli 1912 um 9.00 Uhr begann der Generalstreik mit einer Protestversammlung auf der Rotwandwiese. 15'000 bis 23'000 Arbeiter aus verschiedenen Nationen kamen zu dieser Kundgebung. Die Streikorganisation wollte diesen Generalstreik als friedliche Demonstration gegen das Kapital durchführen. Deshalb gab sie die Parole heraus: „Arbeiter, meidet den Alkohol, euern grössten Feind“ (3) und diesem Aufruf wurde Folge geleistet. Als der Demonstrationszug nach langem Marsch durch die glühend heissen Strassen Zürichs ans Ziel kam, gab es Wasser und andere alkoholfreie Getränke und kein Bier, um den Durst zu stillen. Die Arbeiter fügten sich ohne Widerstand. Am Nachmittag war es in den Zürcher Strassen so ruhig wie an einem Sonntag. In der Bahnhofstrasse schlenderten Arbeiter mit ihren Familien, und im Aussersihlerquartier sassen die Frauen mit ihren Kindern in den Grünanlagen. Der Zürcher Generalstreik verlief friedlich und ohne Zwischenfälle.
Noch während des Streiks beschlossen die Unternehmer eine zweitägige Aussperrung der Arbeiter und eine Massregelung der städtischen Beamten. Der Regierungsrat forderte darauf, aus Angst vor Zwischenfällen, Militärtruppen an und erliess ein Versammlungs- und Demonstrationsverbot. Das Militär umstellte das Volkshaus und verhaftete die Gewerkschaftssekretäre und Mitglieder der Arbeiterunion.

Der Gewerkschaftsbund und auch die Führer der Zentralverbände hatten gegenüber den Streiks stets eine besonnene Zurückhaltung geübt. Dem Generalstreik standen sie ablehnend gegenüber. Bei dem Ereignis in Zürich ging es nicht nur um den Unmut der Arbeiter, sondern auch um die Veranstalter, insbesondere um die Zürcher Arbeiterunion. Zwischen den Instanzen des Gewerkschaftsbundes und der Arbeiterunion gab es schon seit langem Unstimmigkeiten. Besonders die Zürcher Union vertrat eine Politik, die jener des Gewerkschaftsbundes zuwiderlief. Die Arbeiterunion galt als Tummelplatz für politische
Abenteurern, damit waren die Anarchisten gemeint, die durch ihre Politik dem Kampf der Gewerkschaften schaden würden.
In der Gewerkschaftlichen Rundschau 1912/Nr. 6 hiess es:
„Wenn man weiss (...), welche Anstrengung es die einzelnen politischen und gewerkschaftlichen Organisationen unseres Landes kostet, um recht bescheidene Vorteile für die Arbeiterschaft zu erringen, oft nur um die Existenz der Organisation zu sichern, dann begreift man sehr leicht, dass unter den Gewerkschaftsführern unseres Landes die Begeisterung für die Anwendung des Generalstreiks, der unter Umständen die Früchte jahrelanger Propaganda und Organisationstätigkeit bei einer einzelnen Aktion aufs Spiel setzt, nicht gross ist."

Der Generalstreik von Zürich forderte eine Stellungsnahme der Gewerkschaften und Sozialdemokraten. Am 22. Dezember 1912 tagte der Gewerkschaftsausschuss in Olten. Die ersten Themen waren der Streik in Zürich und der Massenstreik als politische Waffe gegen das Bürgertum. Zu einem Entschluss kamen sie nicht.
Der Gewerkschaftsbund wollte zusammen mit der Sozialdemokratischen Partei eine Verständigung in Bezug auf den Generalstreik finden. Er veranlasste am 3. Mai 1913 eine gemeinsame Sitzung mit dem Parteivorstand und dem Bundeskomitee. Darin ging es um einen unverbindlichen Meinungsaustausch. Am 25. Mai trat dann der Ausschuss noch einmal zusammen, um über die Resolution, die das Bundeskomitee ausgearbeitet hatte, abzustimmen. Gewerkschaft und Parteivorstand nahmen diese an. Auf dem Kongress des Schweizerischen Gewerkschaftsbundes vom 13. bis 15. September 1913 im Zürcher Volkshaus wurde diese dann von August Huggler, Sekretär des Schweizerischen Gewerkschaftsbundes, in leicht abgeänderter Form vorgelegt. Die so genannte Kompromissresolution wurde mit schwacher Mehrheit angenommen.

Zwischen 1895 und 1913 erlebte die Wirtschaft international einen langfristigen Konjunkturaufschwung, der parallel verlief mit den weltweiten imperialistischen Expansions- und Konkurrenzbestrebungen der Grossmächte, von denen auch die Schweiz wirtschaftlich profitierte. Die Maschinenindustrie und das Baugewerbe waren die Industriezweige, die von dem Wachstum am meisten Nutzen heraus schlugen. Das Kapital in der Schweiz benötigte in dieser Boom-Phase eine grosse Anzahl von zusätzlichen Arbeitskräften, die sie vor allem aus Deutschland und Italien importierten. 1910 waren 16,6% der Erwerbstätigen in der Schweiz Ausländer. Dadurch konnten die Unternehmer ihre Produktion gewaltig steigern, Profit erzielen und das Lohnniveau relativ niedrig halten.

Die Entwicklung der Gewerkschaftsbewegung war zwischen 1897 und 1907 von entscheidender Bedeutung. Während der Konjunktur bedeuteten längere Arbeitsniederlegungen für die Unternehmer grosse Verluste. Deshalb konnten Streiks oft auch erfolgreich als Kampfmittel der Arbeiterklasse eingesetzt werden. Angesicht der steigenden Profite der Unternehmer kämpften sie für höhere Löhne, kürzere Arbeitszeiten und bessere Arbeitsbedingungen. Die Gewerkschaften forderten immer häufiger kollektive Arbeitsverträge. Damit wären die Arbeiter nicht mehr so stark dem Unternehmer ausgesetzt wie mit den individuellen Arbeitsverträgen. In diesen Jahren stieg die Mitgliederzahl stark an. Bei der Gründung des Schweizerischen Gewerkschaftsbundes 1880 waren 500 Mitglieder eingetragen, 1907 zählten sie 80 000 organisierte Arbeiter und erreichten so ihren ersten Höhepunkt. Der politische Einfluss der Gewerkschaften wurde immer stärker. Schwierig war es, die Arbeiterinnen zu organisieren, denn ihre Doppelbelastung in Haushalt und Fabrik war oft das entscheidende Hindernis.

In den gleichen Jahren entstanden verschiedene Arbeitgeberorganisationen als Kampfinstrument der Unternehmer. Sie entwickelten Strategien und Taktiken zur Bekämpfung der Gewerkschaften und ihrer Streikaktivitäten. Als geeignetes Kampfmittel perfektionierten sie die altbewährten Schwarzen Listen. Die Namen der streikenden Arbeiter wurden in die Listen eingetragen, die man allen im Verband angeschlossenen Unternehmer zustellte. Dies hatte zur Folge, dass Arbeiter, die eingetragen wurden, kaum mehr eine Anstellung fanden. Ein anderes Mittel der Unternehmer war die Aussperrung, die darauf abzielte, einem Vorstoss der Arbeiter zuvorzukommen, indem die Arbeiter von der Arbeit ausgeschlossen wurden und der Wiedereintritt von bestimmten Bedingungen abhängig gemacht wurde. Und schliesslich organisierten die Arbeitergeberorganisationen den Import von Streikbrechern aus dem Deutschen Reich. Auch der Staat zögerte nicht, die Unternehmer mit Polizei und Militär zu unterstützen. Diesen Einsatz versuchten die Behörden mit den weitgehenden Volksrechten zu legitimieren, denn „der Streik sei nur dort berechtigt, wo die Arbeiter keine politischen Rechte besässen.“ (4) Hier übersahen sie, dass ein grosser Anteil der Arbeiter Ausländer und Frauen waren, die keine politischen Rechte in der Schweiz hatten.

Die Verschärfung der Klassenkampfgegensätze erreichte – in der Schweiz wie auch im internationalen Massstab – einen Höhepunkt in den Hochkonjunkturjahren 1904 bis 1907. Trotz des wirtschaftlichen Aufschwungs verbesserten sich die Lebensverhältnisse der Arbeiter nicht. Zwar stiegen die Nominallöhne weiter an, doch die Lebenskosten erhöhten sich so stark, dass das Realeinkommen stagnierte oder sank. Dank der günstigen Konjunkturlage bot sich dem Arbeiter die Möglichkeit, den Kampf gegen das Kapital offensiver zu führen. Es kam zu einer gewaltigen Streikwelle, in deren Verlauf mehrfach Militär gegen die streikenden Arbeiter eingesetzt wurde.
In diesem verschärften Klassenkampf der Unternehmer gegen die um ihre Rechte kämpfenden Arbeiter fanden immer mehr Arbeiter eine Übereinstimmung der theoretischen Einsichten der Arbeiterbewegung mit ihren alltäglichen praktischen Erfahrungen. Während der II. Internationale war gerade die theoretische Grundlage geklärt worden, und zwar zu Gunsten des Marxismus, für den Gedanken des politischen Klassenkampfes. Der Marxismus war über Deutschland in die Schweiz gelangt. Der deutsche Einfluss verstärkte sich, nachdem der Reichskanzler Bismarck das Sozialistengesetz im Deutschen Reich erlassen hatte. Zürich galt zu dieser Zeit als Zentrum für die im Exil lebenden deutschen Sozialdemokraten, die hier ihre Zeitung „Der Sozialdemokrat“ druckten und über die Grenze ins Deutsche Reich schmuggelten. Die sozialistischen Bewegungen hatten grosse Mühe mit der Lehre des Marxismus. Für die Marxisten war der Staat das Herrschaftsinstrument der Bourgeoisie. Dies konnten die Sozialisten mit den schweizerischen Realitäten nicht vereinbaren. Der schweizerische Staat konnte nicht einfach als Machtinstrument des Bürgertums abgetan werden, da er ja, zumindest in der Theorie, durch das allgemeine und gleiche Wahlrecht, durch Referendum und Initiative dem Willen des Volkes unterstellt war. Dies ging in der politischen Praxis nicht auf, da nicht alle Lohnabhängigen wahlberechtigt waren. - Frauen und Ausländer hatten kein Stimm- und Wahlrecht, und diese hielten aber den grössten Anteil an Arbeitnehmern! Die Sozialdemokratische Partei hatte sich 1888 noch als Verlängerung des Freisinns auf den vierten Stand konzentriert, gab aber dieses Ziel 1904 auf. Die ständigen Rückschläge führten dazu, dass die Partei ein neues revidiertes Parteiprogramm herausgab. Dieses war wesentlich beeinflusst vom marxistischen Programm der deutschen Sozialdemokraten (Erfurter Programm 1891). „Unter den heutigen Verhältnissen vollzieht sich die Tätigkeit der Sozialdemokratie in der Form des Klassenkampfes.“(5) Mit diesem Programm wollten sie auf der einen Seite dem Bürgertum den Kampf ansagen und auf der anderen Seite der Arbeiterbewegung ein neues Selbstbewusstsein geben.
Der Marxismus siegte in der theoretischen Diskussion, konnte sich aber in der Schweiz nicht durchsetzten. In der politischen Praxis setzte sich der Gedanke des Revisionismus durch. Die Parteispitzen arbeiteten immer mehr in den Behörden und im Parlament mit. Damit war auch ein sozialer Aufstieg möglich. Dies führte vielfach zu einer Entfremdung zwischen den Parteivertretern und der Basis. Die Kritik gegenüber der Partei wurde immer grösser, und es wurden neue Kampfformen gefordert. Es entstanden anarcho-syndikalistische Gruppen, die im Massenstreik das eigentliche revolutionäre Mittel sahen. Zum ersten Mal wurden in Lausanne, Vevey und in Zürich Generalstreiks propagiert. Durch gezielte Aktionen der Unternehmer gegen die Streiks hatten sie aber wenig Aussicht auf Erfolg. Die Gewerkschaften lehnten den Generalstreik als Kampfmittel ab, mit der Begründung, es fehle die umfassende Organisation. Dennoch wurde die Idee von den Gewerkschaftern aufgegriffen, als die bisherige Taktik erfolglos blieb.
In dieser politischen Hetze entstand 1905 eine Antimilitaristische Liga. Diese wollte dem Bürgertum die Armee als Werkzeug der Unterdrückung entreissen, und ihr erklärtes Endziel war die völlige Abschaffung des Militärs. Antimilitarismus und Generalstreik fanden als revolutionäre Strategien nur in den Industriezentern mit erheblichem Anteil an ausländischen Arbeitern grösseren Widerhall. Auf dem Lande und in den Kleinstädten stießen sie auf Ablehnung.

Das Verhalten der Zürcher Regierung und der Arbeitgeberorganisationen auf den Generalstreik war ungewöhnlich. Es war nicht neu, dass die Arbeiterschaft einen lokal beschränkten Generalstreik ausgerufen hatte, mit dem Ziel, das Erwerbsleben lahm zu legen. Zwischen 1902 und 1912 fanden vor dem Zürcher Generalstreik bereits elf solche Aktionen statt, wobei sich in Genf 1902 über 17 000 Arbeiter beteiligten. Die Antimilitärische Liga bekam durch die zahlreichen Militäraktion bei Streiks wieder Zuwachs, und die Gewerkschaften und Sozialdemokraten wurden weiter gestärkt.
Die behandelte Quelle ist das vorläufige Ende einer langen Diskussion zwischen der Sozialdemokratischen Partei der Schweiz und des Schweizerischen Gewerkschaftsbundes über Sinn und Zweck eines Generalstreiks. Mit der Annahme der Resolution glaubten sie, eine Regelung gefunden zu haben, die für die Zukunft einen Generalstreik verhindern sollte. Aber schon nach wenigen Jahren sahen sich die Gewerkschaften und die Sozialdemokraten mit den Ereignissen einer harten Wirklichkeit konfrontiert. 1918 stand die Zweckmässigkeit eines Massenstreiks wieder zur Diskussion, als der Landesgeneralstreik ausgerufen wurde.


Fussnoten:
1 Lezzi, Zur Geschichte der Arbeiterbewegung, S. 168
2 Ragaz, Leonhard, Eingriffe ins Zeitgeschehen, Reich Gottes und Politik, Texte von 1900 – 1945, Luzern 1995, S. 103
3 Ebd.
4 Fritzsche, Bruno Prof., Geschichte des Kantons Zürich, 19. und 20 Jahrhundert, Zürich, S. 240
5 Fritzsche, Geschichte des Kantons Zürich, S. 239


Literatur:

Arbeitsgruppe für Geschichte der Arbeiterbewegung Zürich, Hrsg. Schweizerische Arbeiterbewegung, Dokumente zu Lage, Organisation und Kämpfen der Arbeiter von der Frühindustrialisierung bis zur Gegenwart, Zürich, Limmat Verlag Genossenschaft, 1975

Fritzsche, Bruno Prof., Geschichte des Kantons Zürich, 19. und 20. Jahrhundert, Zürich, Wird Verlag, 1994

Lezzi, Otto, Zur Geschichte der schweizerischen Arbeiterbewegung, Zürich, Schweizerischer Gewerkschaftsbund, 1990

Ragaz, Leonhard, Brassel Reudi, Spieler Willy, Hrsg, Eingriffe ins Zeitgeschehen, Reich Gottes und Politik. Texte von 1900-1945, Luzern, Genossenschaft Edition Exodus, 1995

Schneider, Bernhard, Hrsg, Alltag in der Schweiz seit 1300, Zürich, Chronos Verlag, 1991

Wigger, Erich, Krieg und Krise in der politischen Kommunikation, Vom Burgfrieden zum Bürgerblock in der Schweiz 1910 – 1922, Zürich, Seismo Verlag, 1997
 
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