Die Antwort von Maglor und von jschmidt sind im Prinzip richtig und können als Beantwortung angesehen werden. Nach ein wenig Lektüre noch ein paar Ergänzungen, weil die Sicht gerade auf das Verständnis des „Marxismus“ der „Frankfurter Schule“ deutlich komplexer ist wie beispielsweise die „schlichte“ Sicht bei steffen04.
Die Grundlagen der theoretischen Arbeiten der Frankfurter Schule in den zwanziger und dreißiger Jahren bezogen sich auf vielfältigen Quellen, wie stark orientiert an Hegel, Freud und auch an Marx. Daneben jedoch auch an Schelling, Dilthey und vielen anderen Philosophen. Insgesamt kann man erkennen, dass die „dialektische Methode“ des Frankfurter „Historischen Materialismus“ vor allem monokausale Erklärungen vermeidet und aus diesem Grund explizit die interdisziplinäre Ausrichtung von Forschungsdesigns zur Grundlage machte, wie es Horkheimer 1931 in seiner Positionsbestimmung deutlich machte.
„In einem bestimmten Sinne läßt sich deshalb sagen, dass die Frankfurter Schule auf die Vorstellungen der Linkshegelianer um 1840 rekurrierten.“ (Jay, S. 64) Ergänzt durch eine sozialpsychologische Sicht in Anlehnung an Freud, vor allem bei Fromm und formuliert damit eine weitgehende Revision der Marx`schen Vorstellungen zum Verhältnis von „Basis und Überbau“ (Dubiel, 1978, S. 50ff)
Die inhaltliche Bandbreite der frühen Frankfurter Schule wird an dem Personenkreis deutlich, der bis zur Rückverlagerung aus der USA in die Bundesrepublik zum exilierten Kreis zu zählen war. Im Einzelnen gehörten zu den frühen Mitgliedern Gerlach und Grünberg, als wichtige Personen in der Gründungsphase inklusive Felix Weil als „Stifter“. Inhaltlich führten in den 20er und 30er Jahren eng mit dem Institut verbunden vor allem Adorno, Benjamin, Borkenau, Fromm, Grossmann Horkheimer, Kirchheimer, Kracauer, Leo Löwenthal, Marcuse, F.Neumann, Pollock und Wittfogel die zentralen Gedanken einer kritischen Theorie voran (vgl. dazu Honneth). Die Horkheimer als „diktatorischer Direktor“ zu fokussieren suchte und in wichtigen Arbeiten wie „Autorität und Familie“ und „Arbeiter und Angestellte am Vorabend des Dritten Reiches“ einen Teil der Arbeitsschwerpunkte des Instituts verdeutlichte.
Gershom Sholem, ein Freund Walter Benjamins, der diesen immer wieder dazu bringen wollte wie er nach Israel zu emigrieren, behauptete nach dem Tod Benjamins, dieser habe sich zwar in seinen Veröffentlichungen einer marxistischen Wortwahl bedient, sei aber eigentlich Metaphysiker und kein Materialist gewesen.
Was ist davon zu halten?
In dieser erzwungenen Dichotomisierung der Alternativen hat Sholem unrecht. Die Frankfurter Schule – und somit auch Benjamin – war sehr stark durch persönliche Kontakte im Rahmen eines Netzwerkes – stark auf Frankfurt a.M. konzentriert - und durch direkte „Mentor – Schüler“ – Beziehungen geprägt (vgl. Wiggershaus)
Diese frühe intellektuelle Situation nach dem WW1 kann man – folgt man den Darstellungen bei Jay, Migdal (vgl. S. 34ff) und Wiggershaus (Pos. 360ff) – zum einen durch die „Erste und zweite Marxistische Arbeitswoche“ (1922/1923) – organisiert durch Felix Weil – beschreiben und zum anderen durch die Existenz des „Frankfurter Freien Jüdischen Lehrhaus“ (gegründet 1920 und Blütezeit bis ca. 1926 Wiggershaus, Pos. 1232)
Eine Reihe von Mitgliedern der Frankfurter Schule kann man entweder als direkte Teilnehmer beider Institutionen erkennen oder zum Referenz-Umfeld zählen und bilden den Kristallisationspunkt einer revisionistischen intellektuellen Linken, die nur sehr eingeschränkte Kontakte zu den jeweiligen linken politischen Parteien (SPD, USDP, KPD) hatte. Und sich als ein eigenständiger historischer politischer Akteur begriff, der allerdings durchaus zu Gunsten des Proletariats durch "intellektuelle Interventionen" in die Politik bzw. den Klassenkampf eingreifen wollte.
Das Verhältnis von Benjamin zur „Kritischen Theorie“, vertreten in der Person von Horkheimer und Adorno in den zwanziger und dreißiger Jahren, war durch eine teilweise Übereinstimmung gekennzeichnet, die durch die Institutsleitung gerne intensiviert worden wäre, aber durch die Verfolgung von Benjamin durch die Gestapo und seinem Selbstmord nicht realisiert werden konnte (Jay, S. 237ff)
Für Benjamin, so auch Adorno, ist zutreffend, dass er „theologische und materialistische Elemente in einmaliger Weise verband“, allerdings nicht als einziger. Ausführlich ist diese Sicht auf Benjamin von Tiedemann betrachtet worden (Jay, S. 237). Seit seiner Jugend war Benjamin dem Zionismus verbunden und noch für 1931 schreibt er, so Jay: „In einem Brief an Rychner, geschrieben 1931, also zu einem Zeitpunkt, da Benjamin sich bereits für Marxismus interessierte, vermochte er immer noch zu sagen: „Ich habe nie anders forschen und denken können als in einem…theologischen Sinn….“(Jay, S. 238). Dabei stand das „Institut“ seinen theologischen Überlegungen kritisch gegenüber. (Jay, S. 239).
Allerdings ist es relevant, dass sein messianisches Verständnis seiner theologischen Überlegungen auch ein „Heilsversprechen“ auf eine bessere Zukunft implizierte, das Ähnlichkeiten mit dem positiven Versprechen der Aufklärung im Rahmen der Moderne hatte und im spezifischen Verständnis der Frankfurter Schule der konkreten „Utopie“ sich niederschlug. (Dubiel, 1978, S. 53ff). Und das betrifft das gesellschaftliche Denken vor der Erfahrung des NS-Regimes und findet seinen Niederschlag in der „Dialektik der Aufklärung“, die die Frage aufwirft, in welchem Umfang eine „endgültige Verfinsterung der Moderne“ stattgefunden hat (vgl. dazu beispielsweise R.Jaeggi in Honneth, S. 250)
Dieser theologischen Sicht kann man den Benjamin kontrastieren, der in „Über den Begriff der Geschichte“ seine historisch materialistische Sicht in Anlehnung an Marx präsentiert. Sein Verständnis von Geschichte ist stark durch die historischen Machtverhältnisse geprägt sodaß einem historisch materialistisch geschulten Historiker die Aufgabe zufällt, Geschichte im Rahmen dieser Macht- bzw. Gewaltverhältnisse zu rekonstruieren.
In jungen Jahren waren beide in der deutschen Jugendbewegung aktiv, schwärmten für verschiedenste Richtungen. Deutsche Romantik, deutscher Nationalismus, Zionismus, Sozialismus, Psychoanalyse, jüdische Mystik ... Die Ideologien jener Zeit waren vielfältig.
Dogmatismus ist vor dem Hintergrund des ideologiekritischen Grundtenors der Frankfurter Schule kaum zu rechnen.
Was ich über Benjamin weiß, deutet darauf hin, dass er die Lehre des historischen Materialismus als Analyse-Instrument oft und gern benutzt hat. [1] Davon trennen sollte man alles, was zum Bereich der politischen Parteinahme gehört,
Aufgrund der Krise des Marxismus nach dem WW1, da weder die II. noch die III. Internationale eine Sammlungsbewegung erreichte, lag nach 1920 keine halbwegs einheitlich Interpretation vor, was den Marxismus ausmachen würde und welche Hilfe er sein könne bei der Analyse bzw. Interpretation der westlichen bzw. östlichen Gesellschaften. (Dubiel, 1978, S. 50ff)
https://de.wikipedia.org/wiki/Internationale
Speziell zur theoretischen Erstarrung der SPD vor dem WW1 und eines passiven, evolutionären Verständnisses des Historischen Materialismus wurde an anderer Stelle bereits etwas ausgeführt.
http://www.geschichtsforum.de/f58/frage-bismarcks-sozialversicherung-unter-dem-aspekt-anspruch-und-wirklichkeit-52313/
Eine Trennung von Theorie und Praxis war für den Kreis der Frankfurter Schule nicht denkbar, da sie sich in einem emanzipativen Sinne für Werte einsetzten, die aus dem Umfeld der philosophischen Ideen der Aufklärung resultierten. In diesem Sinne war die Frage in den zwanziger Jahren nicht beantwortet, wie das sozialistische Experiment in der UdSSR zu bewerten sei. Zumindest einzelne Mitglieder der Frankfurter Schule, so auch Benjamin, standen dem sozialistischen Experiment aufgeschlossen gegenüber.
Diese Sicht ergab sich auch aus der theoretischen Beschäftigung mit Fragen einer gerechten sozialen Ordnung, die im Rahmen einer Planwirtschaft zu erreichen wäre. Mit diesem Punkt hatte sich Pollock beschäftigt und auch entsprechende Analysen für die Sowjetunion vorgelegt.
Scholems These, Benjamin sei kein richtiger Marxist gewesen, steht im Kontext der 68er-Bewegung. Kommunistische Studenten entdeckten Benjamin für sich als ihren Vordenker. Adorno und Scholem widersprachen. Der Streit um den Marxismus Benjamins ist daher ein politischer Streit der Nachkriegszeit und die Argumente haben zum Teil Züge einer Verschwörungstheorie.
Es ist zunächst Adorno und Sholem hoch anzurechnen, dass sie durch die Herausgabe des Werks von Benjamin, ihn vor dem völligen Vergessen bewahrt haben und er posthum die Würdigung erhielt, die ihm zu seinen Lebzeiten vorenthalten geblieben ist.
Insgesamt ist für die frühen Arbeiten der Frankfurter Schule / Kritische Theorie, im weiteren jetzt für die Phase nach dem WW2 nur noch als KT bezeichnet, zu erkennen, dass die radikalen Positionen insgesamt durch die 68er bzw. die APO aufgegriffen worden sind und als theoretische Legitimation für ihren revolutionären Protest genutzt worden sind. Das hat vor allem Horkheimer und teilweise auch Adorno in der radikalen Übertragung aus der Vorkriegsperiode zum WW2 in die Zeit des „Vietnamkrieges“ „erschrocken“ und zu Widerspruch – auch sehr deutlich durch Habermas – geführt.
Benjamin ist dabei in zweifacher Hinsicht von der APO und den damit zusammenhängenden westlichen „neue Linken“ wahrgenommen worden. In seinem Aufsatz „Zur Kritik der Gewalt“ hat Benjamin in hochspekulativer Weise die Frage nach der Gewalt im Verhältnis zum Recht formuliert. Die Schlußfolgerung, die Benjamin aus seiner Analyse der Gewalt im Recht und der Gewalt des Rechts zieht, mündet ein in eine hypothetische Rechtfertigung einer gewaltsamen Revolte. Theoretisch wurde dieser Aspekt durch Derridas Deutungen im Rahmen der „Gesetzeskraft“ und vor allem durch die Ausarbeitung von Habermas im Zuge der Entwicklung der Diskurstheorie aufgegriffen und unterschiedlich weiter entwickelt.
Bedeutsamer für die neue Linke war jedoch seine Arbeit zu einer kritischen Medientheorie, die er im „Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit“ ausgearbeiett hat.
Insgesamt war die Bedeutung von Benjamin im Vergleich zu Marcuse für das ideologische Verständnis geringer. Marcuse dominierte mit Arbeiten wie „der eindimensionale Mensch“ und „Triebstruktur und Gesellschaft“ die politische Diskussion von „New Left“ in Europa und auch in starkem Maße in den USA. Allerdings sind seine theoretischen Positionen nicht unwidersprochen geblieben wie an „Antworten auf Herbert Marcus“ (Habermas Hrsg.) deutlich wird.
Abschließend ist festzuhalten, dass sich bei der eingehenden Beschäftigung ein spannendes, komplexes historisches Szenario entwickelt und ein sehr vielschichtiges theoretisches Gebäude der Frankfurter Schule / Kritische Theorie auftut.
Und vor allem sperrt es sich gegen die Projektion aktueller klischeehafter Vorurteile. Nicht zuletzt, da die politische Intention nur zu ersichtlich wird und zu deutlich das neutrale wissenschaftliche Interesse überlagern möchte.
Benjamin, Walter: Über den Begriff der Geschichte, in: Benjamin, Walter (2014): Gesammelte Werke: Vollständige Ausgaben. Essays, Aufsätze, Satiren, Kritiken und Autobiografische Schriften.
Benjamin, Walter; Marcuse, Herbert (1965): Zur Kritik der Gewalt und andere Aufsätze. Erste Auflage. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag
Dubiel, Helmut (1974): Dialektische Wissenschaftskritik und interdisziplinäre Sozialforschung. Theorie- und Organisationsstruktur des Frankfurter Instituts für Sozialforschung (1930ff). In: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 26 (2), S. 237–266.
Dubiel, Helmut (1978): Wissenschaftsorganisation und politische Erfahrung. Studien zur frühen Kritischen Theorie. Frankfurt am Main: Suhrkamp
Jay, Martin (1981): Dialektische Phantasie. Die Geschichte der Frankfurter Schule und des Instituts für Sozialforschung 1923-1950. Frankfurt am Main: Fischer-Taschenbuch-Verlag.
Honneth, Axel und andere (2006): Schlüsseltexte der kritischen Theorie. Für Ludwig von Friedeburg zum 80. Geburtstag. Hg. v. Axel Honneth Institut für Sozialforschung. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.
Horkheimer, Max: Die gegenwärtige Lage der Sozialphilosophie und die Aufgaben eines Instituts für Sozialforschung (1931), in: Horkheimer, Max (1972): Sozialphilosophische Studien. Aufsätze, Reden und Vorträge 1930-1972. Herausgegeben von Werner Brede. Frankfurt am Main: Athenäum Fischer Taschenbuch Verlag, S. 33-46
Migdal, Ulrike (1981): Die Frühgeschichte des Frankfurter Instituts für Sozialforschung. Frankfurt, New York: Campus Verlag
Tiedemann, Rolf (1973): Studien zur Philosophie Walter Benjamins. Frankfurt am Main: Suhrkamp
Wiggershaus, Rolf (2015): Die Frankfurter Schule. Geschichte/Theoretische Entwicklung/ Politische Bedeutung.Frankfurt am Main: