Die Diskussion zur Einheitsversicherung in der Nachkriegszeit

Cephalotus

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Heute schreibe ich mal etwas zu einem Thema, das in der Forschung und auch sonst bisher eher stiefmütterlich behandelt wird. Es geht um die Diskussion zu der Frage der Umwandlung der in verschiedene Zweige gegliederten deutschen Sozialversicherung in eine Einheitsversicherung, die im Nachkriegsdeutschland unter der alliierten Besatzung teilweise recht heftig geführt wurde und heute beinahe vergessen ist.

Teilweise wurde die Einheitsversicherung tatsächlich umgesetzt und zwar in Berlin, in der sowjetischen Besatzungszone und im Saarland. Die Prozesse der Einführung der Einheitsversicherung unterschieden sich z. T deutlich voneinander, ebenso wie die tatsächliche Ausgestaltung und Organisation der neuen Versicherungsträger. Einzelheiten könnte ich dazu noch nachliefern, falls gewünscht…

In der amerikanischen, der britischen und der französischen Besatzungszone blieb das alte System mit den verschiedenen Sozialversicherungszweigen erhalten, aber das war nicht selbstverständlich. Im Gegenteil…

Die Alliierten hatten zunächst nicht unbedingt geplant, die Sozialversicherung im besetzten Deutschland einheitlich neu zu organisieren. Erst als der Zusammenhang zwischen Sozialversicherung und Wirtschaft immer deutlicher wurde und teilweise Wanderungsbewegungen in Gebiete mit günstigeren Regelungen und höheren Sozialeistungen einsetzten, zog das Manpower Direktorat im alliierten Kontrollrat die Kompetenz für die Sozialversicherung an sich. Jede Besatzungsmacht legte im Juli 1946 jeweils einen Gesetzesentwurf zur Sozialversicherung im Kontrollrat vor. Aus diesen Gesetzesentwürfen wurde am 20.09.1946 ein gemeinsamer Entwurf erarbeitet, der nach einigen Änderungen am 14.12.1946 verabschiedet wurde und die Neuorganisation der Sozialversicherung im Sinne einer Einheitsversicherung mit landesweiten Sozialversicherungsanstalten vorsah.

Bei diesem Kontrollratsentwurf hatten sicherlich die neu errichteten Träger der Einheitsversicherung im Osten eine gewisse Präzedenzwirkung. Da sich die Alliierten offenbar einig waren, schien Widerstand gegen diesen Entwurf zwecklos zu sein. Dennoch formierte sich dieser schnell und war mit zunehmender Auseinanderentwicklung der Vorstellungen der Alliierten über die Zukunft Deutschlands durchaus erfolgversprechend. Der Kontrollratsentwurf wurde mit wachsender Intensität und Schärfe diskutiert, wobei es nicht immer nur um die Sache gegangen sein mag, denn die Diskussion war oft unsachlich und von gegenseitigen Vorwürfen geprägt. Außerdem hatten die Sozialversicherungsträger immer noch ein wenig Vermögen und ein paar Pöstchen zu vergeben, so dass persönliche Interessen bei den verschiedenen Diskutanten sicher oft nicht zu leugnen waren.

Die Kritik an der geplanten Einheitsversicherung kam vor allem von zwei ehemaligen leitenden Beamten des früheren Reichsarbeitsministeriums, nämlich Andreas Grieser (Abteilungsleiter Sozialversicherung im Reichsarbeitsministerium) und Josef Eckert (Referent in Griesers Abteilung). Diese beiden ehemaligen Beamten waren von den Nationalsozialisten nach der Machtergreifung bald in den Ruhestand geschickt worden, da sie keine Parteimitglieder und auch sonst politisch „unzuverlässig“ erschienen waren. Dies kam ihnen nach dem Krieg natürlich zugute.

Grieser und Eckert publizierten in Fachzeitschriften wie „Die Sozialversicherung“ oder „Versicherungswirtschaft und Versicherungspraxis“ nun recht eifrig eine Vielzahl von Artikeln, die sich gegen die Einheitsversicherung richteten. Unterstützt wurden sie dabei von den eher konservativen Gruppierungen und von den Arbeitgebern, insbesondere in Handwerk und Mittelstand, von Ärzten, von Bauern und natürlich von den Vertretern der bisherigen Versicherungsträger, sei es aus der Sozialversicherung oder der privaten Versicherungswirtschaft. Letzteren hätte bei einer Einheitsversicherung nach Berliner oder ostzonalem Vorbild durch die Ausweitung des Versichertenkreises ein deutlicher Rückgang im Geschäft mit den privat Versicherten gedroht.

Die Befürworter der Einheitsversicherung rekrutierten sich dagegen zuallererst aus den Gewerkschaften und natürlich aus den Verantwortlichen der bestehenden Einheitsversicherungsträger in Berlin und in der Ostzone, die im Falle einer reichseinheitlichen Regelung wieder aufgelöst hätten werden müssen.

1946 konnte die Einheitsversicherung fast schon als logische Folge des verlorenen Kriegs und der „Fahrplan“ als vorgegeben angesehen werden. Den Befürwortern der gegliederten Sozialversicherung blieb nur noch die Option, auf Zeit zu spielen und zu fordern, dass vor einer Neuordnung zuerst eine ausführliche Bestandsaufnahme erfolgen solle. Auch wiesen sie darauf hin, dass die Sozialversicherung nicht so schlecht sei wie angenommen, sondern nur unter den Einschränkungen des Krieges leide und überdies zur abschließenden Beurteilung das statistische Material fehle. Erst nach der Verschiebung der Einführung der Einheitsversicherung konnten die eigentlichen Argumente ausgetauscht werden. Den Richtlinien des alliierten Kontrollrats über die Einführung eines für ganz Deutschland einheitlichen Sozialversicherungssystems im Sinne einer Einheitsversicherung setzten die Befürworter der gegliederten Sozialversicherung eine ganze Reihe von Sachverständigengutachten entgegen.

Den Gegnern der Einheitsversicherung gelang es so, die Einführung der Einheitsversicherung zunächst zu verzögern. Schließlich wurde die Reform der deutschen Sozialversicherung wegen des Widerstands, der sich gegen diese Pläne gebildet hatte, vorläufig ausgesetzt. Nach dem Auszug der Sowjets aus dem alliierten Kontrollrat wurden die Pläne zur Einheitsversicherung schließlich vom Wirtschaftsrat der Bizone weiter bearbeitet, in denen deren Gegner die Mehrheit hatten. Da auch die Zustimmung zur VAB (Versorgungsanstalt Berlin, Träger der Berliner Einheitsversicherung) rückläufig war, nachdem die Sowjets nicht mehr alleinige Besatzungsmacht waren und die Kritik an der bestehenden Einheitsversicherung dort zunahm, bekamen deren Gegner in der engagiert geführten Diskussion langsam Oberwasser.

Die eigentliche Diskussion lief mehr oder weniger so ab, dass die Vertreter der jeweiligen Richtungen die Vorzüge ihrer Organisationsformen hervorhoben, die Leistungsfähigkeit der jeweils anderen Träger grundsätzlich anzweifelten und sich gegenseitig jede Leistungskürzung vorhielten, die sich angesichts der Wirtschaftslage im Nachkriegsdeutschland nicht vermeiden ließen. Die Befürworter der klassischen gegliederten Sozialversicherung hatten aber noch ein zusätzliches Argument, welches sie gerne ausspielten: In die Einheitsversicherungen der sowjetische Besatzungszone und Berlins war die gesetzliche Unfallversicherung mit eingegliedert worden. Gleichzeitig war davon aber die Befugnis zur Unfallverhütung, die die Berufsgenossenschaften vorher gehabt hatten davon nicht betroffen. Diese Befugnis wurde nun neuen Arbeitsschutzstellen übertragen. Die Gegner der Einheitsversicherung führten nun den drastischen Anstieg der Unfallzahlen auf diese Maßnahme zurück und unterstellten den Einheitsversicherungssystemen prinzipiell geringere Kompetenzen auf dem Gebiet der Unfallverhütung. Dass die Unfallzahlen dort, wo die Berufsgenossenschaften noch tätig waren, auch extrem anstiegen, wurde wohlweislich verschwiegen. Die äußeren Bedingungen waren in Ost und West ähnlich, Unfallverhütung nur eingeschränkt möglich und genaue Zahlen lagen eh nicht vor… Aber egal. Als Argument taugte der Anstieg der Unfallzahlen allemal.

Letztendlich wurden im Westen die Pläne zur Einheitsversicherung nicht weiter verfolgt, einerseits weil der Widerstand zu groß war, andererseits, weil auch die Sozialversicherung ihrer Arbeit wieder einigermaßen nachgehen konnte und wegen dringenderer Probleme größere Umgestaltungsmaßnahmen ohnehin kaum mehr möglich schienen.

Mit zunehmender Auseinanderentwicklung der Alliierten und der Spaltung der VAB in eine VAB-West und eine VAB-Ost nach der Teilung Berlins lebte die Diskussion, die zwischenzeitlich etwas abgeflacht war, wieder neu auf. Nun waren die Gegner der Einheitsversicherung die treibende Kraft, die aus der Defensive kam und in die Offensive ging. Das Ziel war jetzt, die West-Berliner Einheitsversicherung wieder rückgängig zu machen und West-Berlin für die gegliederte Sozialversicherung „zurückzuerobern“. Es sollte aber noch etwas dauern, bis dieses Ziel erreicht war.

Einzelheiten etc. liefere ich gerne noch nach.

Viele Grüße

Bernd
 
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