"Nationalcharakter" und "Regionale Identität" 1500 bis 1814

Brissotin

Aktives Mitglied
Kurz vorab ein Hinweis an die Mods aus gegebenen Anlass: Den Thread bitte nicht weiter zeitlich ausdehnen weil er sonst arg unübersichtlich wird und man dann leichter (gerade mit der Vermengung mit dem Nationalismus des 19.Jh. - z.B. 1871) aneinander vorbeiredet.

Mir geht es nicht darum, ob ein Nationalcharakter heute irgendeine Bewandnis hat, sondern ob es früher, d.h. im angegebenen Zeitschnitt, einen solchen erkennen konnte.
Als Gegenstück dazu sehe ich ein bisschen die regionale Identität.

Zu dem Thread und v.a. über Letzteres nachzudenken, hatte mich Repo mit dem Hinweis auf eine Untersuchung verleitet, welche dieses interessante Zitat von Hebel beinhaltet.

"Johann Peter Hebel stellt im Rheinländischen Hausfreund auf das Jahr 1814 dem "geneigten Leser am Oberrhein" seine "wahren Stammväter und Altvorderen" vor: "große grobgliederige Menschen mit blauen Augen, krausen roten Haaren, voll Kraft und Mut und Trutz, fröhliche Trinker und Spieler ohne Kenntnisse." ... Hebel will seinen Mitmenschen die Alemannen der Völkerwanderungszeit nahebringen. Es geht ihm um die historisch begründete Zugehörigkeit des mit dem Regionalbegriff "Oberrhein" angesprochenen Publikums, um das "Wir-Gefühl", den Stolz auf die alemannischen Vorfahren."
*

Klar ist, dass diese damit genauer gefasste "Heimat" von Hebels Publikum mit Baden so wenig wie mit dem eben verblichenen HRR (lagen ja gute Teile des alemannischen Siedlungsraumes in der Schweiz und in Frankreich) in exakte Übereinstimmung zu bringen war. Dennoch ist das zeitliche Auftreten dieses Versuches von Hebel, 1814, recht interessant. Seit fast einem Jahrzehnt war das Breisgau zumindest samt und sonders an Baden gelangt, zeitnah wurde ein letzter Versuch Vorderösterreich zu reanimieren im Keime erstickt.

Zu einer Charakterisierung der Völker (die Bezeichnung Nationen wurde auch schon überlappend angewendet) hatte ich mal mit dieser Abbildung aus dem späten 18.Jh. angeführt:
"Kurze Beschreibung der In Europa Befintlichen Völckern Und Ihren Eigenschaften"
http://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/e/ed/Völkertafel.jpg
Dazu auch zu lesen: Völkertafel (Steiermark) ? Wikipedia
Anmerkung: Bitte nicht von der dort offensichtlich falschen Datierung irre machen lassen. Die Kleidung der dargestellten v.a. Franzosen und Deutschen weist die Abbildung eindeutig als aus dem Ende des 18.Jh. stammend aus.:winke: (Würde auf um 1785-1790 tippen.)

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Klaus Graf: "Regionale Identität im südbadischen Raum um 1800" S.35
http://www.freidok.uni-freiburg.de/volltexte/5276/pdf/Graf_suedbaden.pdf
 
Mein Argument hört sich formalistisch an, ist es aber nicht, sondern berührt die Frage des systematischen Vergleichs dieser beiden Kosntrukte.

Im Prinzip wäre aus meiner Sicht das angemessene Gegensatzpaar "nationale Identität" vs "regionale Identität".

Ich komme auch nur zu dieser konstruktiven Anmerkung, da z.B. M. Olson in seinem Buch über den Aufstieg und den Fall von Mächten bereits einleitend auf die Problematik des "Nationalcharakter" eingeht.

Er bezieht es aber im wesentlichen auf die Erklärung der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit Deutschlands im 20. Jahrhundert. Und kontrastiert es zur "englischen Krankheit" in der post WW2 Periode.

Führt jedoch, um die mangelnde Erklärungskraft des "Nationalcharakters" als These zu formulieren an, dass zur Zeit der industriellen Revolution nicht Deutschland die deutlichsten Fortschritte machte, sondern England.

Hat sich der "Nationalcharakter", sofern es denn sowas gibt, beider Ländern in diesen ca. 100 Jahren so deutlich verändert?

Sofern der "Nationalcharakter" eine Bedeutung als erklärendes Konstrukt hat wird man wohl kaum an der "protestantischen Ethik", und ihren Einfluss auf den "deutschen Nationalcharakter", vorbeikommen. Aber das war wohl kaum Deine Problemstellung.

Deswegen erscheint mir das Konstrukt "nationale Identität", das stärker auf soziale, politische oder kulturelle Aspekte, Werte und die entsprechenden Milieus abstellt das erfolgversprechende Pendant zur regionalen Identität.
 
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Deswegen erscheint mir das Konstrukt "nationale Identität", das stärker auf soziale, politische oder kulturelle Aspekte, Werte und die entsprechenden Milieus abstellt das erfolgversprechende Pendant zur regionalen Identität.
Kann sein und man kann auch den Begriff "nationale Identität" gerne einführen. Vielleicht passt ein solches Gegensatzpaar auch besser.

Es ist mir selber noch nicht ganz klar, ob es um die Selbstreflexion, also wie man sich selbst als Gruppe definierte, oder die Einschätzung von Außen die Hauptrolle in diesem Thread spielen soll.

Wahrscheinlich ist dieser Thread aber dazu angetan, dass man zu keiner eindeutigen Aussage finden wird, von wegen "In Dtl. sah man sich als Deutscher mit bestimmten Charaktermerkmalen." oder "In Dtl. überwog die Zersplitterung in regionale Selbstidentifkationen."
Bsp.:
Sah man sich in Würzburger Territorium primär als:
- Würzburger
- Franke
- Deutscher
mit entsprechenden Merkmalen, die man sich selbst zuerkannte?
Ich nehme ganz stark an, dass man das nicht aufdröseln kann. Man wird in Quellen Belege für sämtliche Selbstverortungen finden.

Dennoch scheint mir das Thema interessant.

Es geht mir aber ausschließlich um die Sichtung von Quellen aus dem obengenannten Zeitschnitt.

Ich denke obendrein, dass dieses Thema ein sehr interdisziplinäres ist. Klaus Graf bezeichnete die Identifikation als psychologisierenden Begriff. Das finde ich sehr treffend. Und der psychologisierende Aspekt geht m.E. weiter. Davon abgesehen haben wir ökonomische, regionalgeschichtliche, sozialgeschichtliche und weitere historische Gesichtspunkte einzubeziehen.
 
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Bsp. aus "Tom Jones" 1

Fielding hat dem Mann vom Berg in seinem Roman "Tom Jones" auch einige Charakterisierungen von Völkern in den Mund gelegt. (Sie könnten vielleicht auch Fieldings eigenen Ansichten entsprechen.)

"In Italien sind die Gastwirte sehr eigensinnig. In Frankreich sind sie gesprächiger, aber dennoch höflich. In Deutschland und Holland sind sie gemeiniglich neugierig, zudringlich und grob, und was ihre Ehrlichkeit anbelangt, so glaub' ich, sind sie sich in allen diesen Ländern so ziemlich ähnlich.
...
In Spanien geht man mit großer Ernsthaftigkeit und in Italien mit vielem Glanze vermummt. In Frankreich geht der listige Gauner gekleidet wie ein Stutzer, und in den nordischen Ländern wie ein ungekämmter Lümmel. Die menschliche Natur aber ist überall und allenthalben ebendieselbe, überall und allenthalben ein würdiger Gegenstand des Abscheus und der Verachtung.
Ich meinesteils ging durch alle diese Nationen, wie Sie vielleicht durch einen gedrängten Haufen bei einem öffentlichen Spektakel gegangen sind. ...
Platzhalter
Aber von allen Völkern, die ich jemals gesehen habe, bewahre mich Gott vor den Franzmännern! Mit ihrem verdammten Geschnatter und mit ihren Höflichkeiten und ihrem Faire l'honneur de la nation envers les Etrangers (wie sie's zu nennen belieben, in der That aber mit ihrer eignen lieben Eitelkeit zu prahlen) sind sie so lästig, daß ich tausendmal lieber mein ganzes Leben unter den Hottentotten zubringen, als wieder einen Fuß nach Paris setzen möchte. Ein unsauberes Volk sind die Hottentotten, wahr, aber ihre Unsauberkeit ist meistens nur äußerlich. In Frankreich hingegen und bei einigen andern Nationen, die ich nicht nennen will, steckt der Unflat innerlich und macht sie meiner Vernunft weit stinkender, als der Unflat der Hottentotten sie meiner Nase macht."
*
Vielleicht kann man zu diesen Charakterisierungen ja zum einen ähnliche Beispiele aus der Zeit oder aus anderen Epochen (innerhalb des obigen Zeitraums) oder vielleicht auch widerläufige, möglicherweise Selbstcharakterisierungen finden.:)
Als ich in "Tom Jones" auf diese Passagen stieß, dachte ich mir gleich: welch ein spannendes Thema!

* Henry Fielding: "The History of Tom Jones, a Foundling" 1749 (Übersetzung aus dem späten 19.Jh.)
15. Kapitel, 8. Buch
 
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