Frage zur Quellenkritik

DerGreif

Mitglied
Hallo zusammen,

nach längerer beruflich und privat bedingter Abstinenz habe ich nun eine für Profis möglicherweise schnell und leicht zu beantwortende Frage zur Quellenkritik. Die Grundsätze bzw. das Schema zur Quellenkritik ist mir hinreichend bekannt. Nun habe ich mich letzthin mit relativ modernen Quellen (Anfang 20er Jahre) beschäftigt, in denen ein konkreter Fakt, den ich in diesen Quellen und in diesem Zusammenhang absolut erwartet hätte, nicht erwähnt wird. Meine Frage nun: Lässt sich aus dem Nicht-Erwähnen jenes Faktes nach geschichtswissenschaftlichen Grundsätzen mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit legitimerweise schließen, dass dann dieser Fakt auch nicht vorgelegen hat, oder ist allein aus der Tatsache, dass der konkrete Fakt nicht erwähnt wurde, kein hinreichender Beleg dafür, dass er auch nicht vorgelegen hat?

Herzlichen Dank schon im Voraus für alle Hinweise.

Beste Grüße,
G.
 
Naja, es gibt sicher Tausende Gründe, warum dieser fiktive Fakt in keinster Weise Berücksichtigung findet/fand, angefangen bei Unkenntnis selbigen, bis hin zur bewussten Unterschlagung, weil er nicht ins Konzept des Autors passt, nicht sein Weltbild widerspiegelt, etc. Die Gründe hierfür können ganz individuell sein - daraus irgend etwas ableiten zu wollen, oder quasi als Resultat schliessen zu wollen, ohne die Hintergründe zu kennen, ist vage und kann in die Irre führen.

Kennt man den Autor hingegen, und passiert das in seinen Veröffentlichungen häufiger, kann man durchaus von einer gewissen Methodik sprechen - wie bspw. bei sogen. revisionistischen Buchschreibern oder Verschwörungstheoretikern ;)
 
Aus dem Schweigen von Quellen kann man nichts schließen. Allenfalls kann man eine Vermutung ableiten, die man dann aber auf anderem Wege beweisen muss. Es gibt sogar einen Fachausdruck für einen solchen Fehlschluss aus dem Schweigen heraus: argumentum e silentio.

Man muss hier aber unterscheiden. Oft wird irgend ein Fakt immer wieder behauptet, und wenn man das in den Quellen sucht, steht es dort anders oder gar nicht. Das Problem ist, dass man für seine Aussagen Belege braucht. Mitunter ist klar, dass etwas geschehen ist, aber nicht was. Dann wird man das aus den bekannten Tatsachen schließen müssen. Das ist dann aber kein Schluss aus den unvollständigen Quellen. Neulich habe ich aus der Erinnerung heraus im Forum geschrieben, dass Marius wohl auch das Gepäck der Offiziere einschränkte. Da ich keine Quelle benutzen konnte, berief ich mich auf den Strukturalismus, in diesem Fall die Tatsache, dass bei solchen Reformen zu anderen Zeiten regelmäßig auch das Offiziersgepäck im Focus stand. (Und ich habe es immer noch im Kopf, weil ich noch nicht zum gründlichen Nachschlagen gekommen bin.)

Wenn es aber gar keinen Anhaltspunkt für etwas in den Quellen nicht Geschildertes gibt, kann man nichts dazu sagen: Die Vermutung, dass es das nicht gibt, ist aus den Quellen nicht zu begründen. Ebenso wie das Gegenteil.

Zusammen mit einem anderen Phänomen kann das zu einem richtigen Problem für einen Historiker werden. Oft werden Quellen ausgeschrieben, d.h. zu einer dürftigen Quelle, setzt ein Geschichtsschreiber Fakten, die er für wahrscheinlich hält, für die er aber kein Zeugnis hat. Wenn z.B. berichtet wird, dass ein heidnischer Kultplatz zerstört wurde, eine spätere Quelle berichtet, dass Schätze abtransportiert wurden, und noch später die Schätze genau beschrieben werden, kann man kaum sagen, was an den Schätzen wirklich ist. Denn die bloße Tatsache, dass es in den älteren Quellen nicht erwähnt wird, reicht nicht zur Widerlegung. Ein guter Hinweis kann dabei der zeitliche Abstand der Quelle zum Geschehen sein. Letztendlich bleibt es aber oft eine Einschätzungsfrage, die besser, wo es nicht eindeutig ist, nach aller Wissenschaftstheorie durch eine Fallunterscheidung ersetzt werden sollte. Leider halten das viele Historiker aber immer noch für "einen billigen Ausweg". Dumm nur, dass sie damit keine Wissenschaft mehr betreiben, sondern selbst die Geschichte ausschreiben und einen Mythos schaffen.
 
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Ganz herzlichen Dank schon mal für die Antworten! So in etwa dachte ich das auch. Ich werde aber vielleicht noch einmal spezifischer:

Bei den Quellen handelt es sich um interne Ermittlungsberichte der StA in einem Mordfall der 20er Jahre, mglw. auch hier dem einen oder anderen durch eine immer wieder mal gesendete Doku bekannt (Mordfall Hinterkaifeck - die Doku ist mit Vorsicht zu genießen, da vieles verfälscht dargestellt wird).

An der Echtheit des Quellenmaterials und der Autoren besteht kein Zweifel. Die Protokolle und Berichte sind - gerade für mich als Jurist - recht interessant, weil sie ein wenig Aufschluss darüber geben, wie jedenfalls die konkreten Ermittler damals in diesem konkreten Fall ermittelt haben. Mir ist aufgefallen, dass in den Akten einer der Hauptatverdächtigen regelmäßig aufgrund einer Reihe von heutzutage völlig unzulässigen damals aber gebräuchlichen Kriterien als Tatverdächtiger immer wieder ausgeschlossen wurde. Nicht erwähnt wurde aber, ob der betreffende ein Alibi gehabt hatte oder nicht, obwohl hingegen andere Tatverdächtige von den gleichen Autoren zum Teil in den selben Quellen wegen eines Alibis ausgeschlossen wurden. Das hat mich immer etwas irritiert (neben natürlich einigen anderen zumindest aus heutiger Sicht gravierenden Fehlern in Vernehmungen/Protokollen/generell den Ermittlungen).

Nun gibt es Leute, die im Brustton der Überzeugung behauptet haben, dass gerade die Nicht-Erwähnung ein Beweis dafür sei, dass der Tatverdächtige ein Alibi gehabt habe und dies sich so aus der geschichtswissenschaftlichen Methode ergebe. Das wiederum konnte ich nicht glauben. Ich hätte - wenn überhaupt - eher dazu tendiert, hier anzunehmen, dass das Alibi problematisch war oder gar nicht abgeklärt wurde, weil man sich zum Teil lang und breit über andere Ausschlussgründe ausließ. Es ist natürlich auch denkbar, dass das Alibi in vermutlich im 2. WK verbrannten Akten erwähnt wurde - es fehlt einiges - oder einfach nur immer vergessen wurde zu erwähnen oder in dem Moment nicht erwähnenswert schien. Aber die Behauptung, dass sich aus der Nichterwähnung gerade auf das Vorhandensein des Alibis schließen lasse mit Verweis auf die Quellenkritik erschien mir doch äußerst gewagt. Insofern fühle ich mich da jetzt durch Eure Antworten bestätigt.

Ganz herzlichen Dank nochmal und eines gutes neues Jahr Euch allen.
 
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