Martin Luther Vater des Föderalismus?

Nun gut Luther als Grund für den Dreißigjährigen Krieg und dann das durchsetzen der Fürsten im Gegensatz zu dem Kaiser.

Hätte der Kaiser gewonnen wer aus dem Heiligen Römischen Reich ein Zentralstaat geworden.
 
Wir haben in der letzten Stunde eine Dokumentation zu Luther geschaut und dazu hat sie uns ein Blatt mit Fragen als Hausaufgabe aufgegeben.
 
Von den 'Deutschen Libertäten' konnte schon vor dem 30jährigen Krieg gesprochen werden. Richelieu nutzte deren 'Verteidigung' zur Propaganda. Und im Grunde kann seit Friedrich II., und allerspätestens mit Karl IV. eine föderale Struktur nicht verleugnet werden, wenn man denn überhaupt behaupten will, dass es jemals anders war.
 
Vielleicht ein etwas an den Haaren herbei gezogener Ansatz:

Unter anderem Luthers Reformation spaltete die Monarchien Europas ja bekanntlichermaßen in Katholiken und Protestanten. Das könnte in gewisser Weise als weiterer Schritt in Richtung "Föderalismus" gewertet werden, obwohl der Begriff in diesem Zusammenhang nicht wirklich passt.

Ich fürchte, um richtige Argumente für und wider die Frage finden zu können, müsste deine Lehrerin sie in der Tat noch etwas präzisieren.
 
Da sich mir die Ernsthaftigkeit der Fragestellung bisher nicht wirklich erschließt, ein paar Anmerkungen.

Luther ist scheinbar immer ein "dankbares" Opfer. Und wenn schon keine seriöse Diskussion zur Reformation zustande kam, dann doch als humorige Einlage.

Also, Luther ist oder war Schuld an Vielem wie beispielsweise:

- Hitler
- Föderalismus
- Säkularisierung
- § 218 / Abreibung
und nicht zuletzt am
- Klimawandel

Sorry, aber das ist unisono ein wenig arg "konstruiert", wie die Diskussion um Hitler gezeigt hatte. Eine Lehrerin, die derartige Thesen als Fragestellung in den Raum wirft, sollte erst einmal erklären, welche Form von "Kausalität" in der Geschichte unterstellt werden kann und was sie glaubt, wie etwas tradiert wird.

Ein wenig komplex in der Argumentation für eine Schulklasse, wäre meine Vermutung.

Nicht zuletzt der Klimawandel natürlich auch deswegen, weil die "Protestantische Ethik" [Mein Gott, was würden wir machen, wenn Weber nicht auf dieses großartige Konstrukt gestoßen wäre] eine übersteigerte Form der Massenproduktion begünstigt hat, die natürlich auf der entsprechenden Nutzung fossiler Brennstoffe etc. basiert. Und deswegen ist Luther, oder vielleicht auch irgend ein anderer "historischer Schurke" schuld am Abschmelzen der Polkappen. :yes:

Und um das Maß voll zu machen, plädiere ich dafür, die "Vaterschaft" aus dem Narrativ der Historie zu verbannen, da sie ein biologischer Vorgang ist [der nichts in der Historiographie zu suchen hat] und um dann auch gleich die "Säuberung" fortzusetzen und den "Schuld"-Begriff als moralisierend und unhistorisch zu ächten.
 
Ist Luther der wahre Trump?

Kann man seine Polemik als ursprünglich für den Populismus sehen? Ich denke das sollte in der Zeit verortet werden. Er hat ja nicht allein diskutiert.

Und das ist -eines- der Probleme bei solchen Anachronistischen Verbindungen.

Zum Föderalismus mag als einflussreich gesehen werden, dass die Fürsten sich jetzt herausnehmen, Religionsdinge partikulär zu entscheiden, was den Föderalismus förderte. Als indirekte Folge.
 
Hätte der Kaiser gewonnen wer aus dem Heiligen Römischen Reich ein Zentralstaat geworden.
Das glaube ich nicht. Auch abgesehen davon, dass ein solch eindeutiger Sieg angesichts der Mächtekonstellationen ohnehin wenig realistisch gewesen wäre (bzw. die Aussicht auf einen solchen seinen Gegnern Zulauf verschaffte): Der Kaiser stand ja nicht alleine, sondern wurde auch (teils wechselnd) von verschiedenen Reichsfürsten unterstützt. Diese wären doch ebenfalls kein bisschen daran interessiert gewesen, sich in einen Zentralstaat einzugliedern.
 
Wir haben in der letzten Stunde eine Dokumentation zu Luther geschaut und dazu hat sie uns ein Blatt mit Fragen als Hausaufgabe aufgegeben.

Was für eine Dokumentation war denn das? Gibt es denn dazu keinen (Lehrbuch-)text? Vermutlich wird da auch schon die Antwort zur Frage enthalten sein.

Nebenbei:
mein Gott, was waren das noch für Zeiten, als wir damals noch vom Lehrer bzw. Lehrerin auf Matritze Texte bekommen haben, die nach Spiritusalkohol rochen (also die Textblätter, seltener der Lehrer/die Lehrerin:rofl:). Kopierer gab es zwar schon, waren aber zu teuer für den Schuletat und wurde deswegen selten benutzt. So langsam wird man selber Zeitzeuge:grübel:
 
Die Frage ist, inwiefern die Reformation die Vormachtstellung des Kaisers untergraben hat. Ich denke schon, dass man Karl V. unterstellen kann, dass er auf Reichsebene eine Art von "Absolutismus" anstrebte. Der Schmalkaldische Bund wäre ohne Reformation nicht denkbar. Auch zur Bekämpfung desselben war Karl V. letztlich auf Reichsfürsten, nicht zuletzt die albertinischen Wettiner angewiesen.

Wenn man sich aber die Haltung der meisten katholischen Reichsfürsten anschaut, so waren diese aber auch nicht widerspruchslose Parteigänger des Kaisers, sondern durchaus selbstbewusst.
 
Ich glaube, dass die Blockadehaltung Karls viel zum Verlauf der Reformation und damit auch zur Spaltung in Katholiken und Protestanten beigetragen hat.
 
Wir haben die Doku "Die Deutschen - Luther und die Nation" geschaut. Leider konnte ich in meinem Textbuch auch nichts weiter dazu finden.
 
Habe mir die Doku mal angesehen.

Im Fazit formuliert ein Historiker diese These, ohne sie angemessen zu begründen.

Er spricht im Konjunktiv und begründet diese These damit, dass im Zuge des Krieges sich erste Ansätze zu Nationalstaaten herausgebildet haben. Die Verbindung zum Föderalismus bleibt implizit und wird nicht ausformuliert.

Ob dieses nun auf Luther zurück geht, oder nicht in einen deutlichen breiter angelegten Prozess des sozialen Wandels, sei mal dahingestellt.

Richtig ist sicherlich, dass Luther ein Katalysator war, der Prozesse des sozialen Wandels bzw. der Modernisierung beschleunigt hat, die allerdings ohnehin ähnlich stattgefunden hätten. Und der steuerfinanzierte, bürokratisierte Zentralstaat ging als Ergebnis des Krieges als "Standard-Modell" von Staatlichkeit hervor. "Kriege machen Staaten" und "Staaten machen Kriege".
 
Zuletzt bearbeitet:
Habe mir die Doku mal angesehen.

Im Fazit formuliert ein Historiker diese These, ohne sie angemessen zu begründen.

Er spricht im Konjunktiv und begründet diese These damit, dass im Zuge des Krieges sich erste Ansätze zu Nationalstaaten herausgebildet haben. Die Verbindung zum Föderalismus bleibt implizit und wird nicht ausformuliert.

Ob dieses nun auf Luther zurück geht, oder nicht in einen deutlichen breiter angelegten Prozess des sozialen Wandels, sei mal dahingestellt.

Richtig ist sicherlich, dass Luther ein Katalysator war, der Prozesse des sozialen Wandels bzw. der Modernisierung beschleunigt hat, die allerdings ohnehin ähnlich stattgefunden hätten. Und der steuerfinanzierte, bürokratisierte Zentralstaat ging als Ergebnis des Krieges als "Standard-Modell" von Staatlichkeit hervor. "Kriege machen Staaten" und "Staaten machen Kriege".

Dazu hat Maglor folgendes geschrieben:
Das ist so ziemlich die schlechteste Doku-Reihe, die das ZDF zum Thema deutsche Geschichte hervorgebracht hat. In den Episoden wird so getan, als hätten bereits Karl der Große, Luther usw. die BRD als sozialen und demokratischen Bundesstaat geplant. Abgesehen von der Interpretation ist eine selbstverliebte Aneinanderreihung von dramatisierten Abenteuern angereichert mit anekdotenhaften Lexikonwissen

Der Historiker war übrigens Heinz Schilling, der einige recht gute Bücher zur deutschen Geschichte der frühen Neuzeit geschrieben hat. Seine Werke "Aufbruch und Krise- Deutschland 1517-1648 und "Höfe und Allianzen -Deutschland 1648-1763" sind gut lesbar und bieten auch historischen Laien fundiertes Hintergrundwissen zur deutschen und europäischen Geschichte vom 16. bis ins 18. Jahrhundert.

Wenn man Luther oder Karl den Großen durchaus als Wegbereiter des Föderalismus, der europäischen Einigung oder Gott weiß was sehen will, könnte man das selbstverständlich tun. Diese, wie ich finde, recht steile These lässt sich aber durch die Lektüre von Schillings Publikationen eher nicht erhärten.

Bei vielen Dokutainment-Produktionen fällt auf, dass die Macher zwar durchaus namhafte Experten konsultieren, Marcus Junkelmann ist wegen seiner Erfahrung in experimenteller Archäologie und seiner originellen Art ein gerne gesehener Fachmann, die Kommentare des Off- Sprechers widersprechen dann aber oft dem, was Junkelmann kurz vorher korrekt erklärt hat.

Diese Dokus sind fast immer gleich gestrickt. Aus ein zwei Zitaten klassischer Autoren wird eine These konstruiert. Man nehme einen Historiker, 2-3 Reenactor, einen Forensiker und eine These und schon ist die Sensation fertig. Da lässt sich dann das Attentat auf Caesar forensisch rekonstruieren, als wäre man dabei gewesen. Ein Konjunktiv hier, eine Behauptung dort und aus Kaspar Hauser wird ein badischer Prinz, obwohl ziemlich sicher ist, dass er das nicht war.
 
Habe mir die Doku mal angesehen.

Im Fazit formuliert ein Historiker diese These, ohne sie angemessen zu begründen.

Er spricht im Konjunktiv und begründet diese These damit, dass im Zuge des Krieges sich erste Ansätze zu Nationalstaaten herausgebildet haben. Die Verbindung zum Föderalismus bleibt implizit und wird nicht ausformuliert.

Ob dieses nun auf Luther zurück geht, oder nicht in einen deutlichen breiter angelegten Prozess des sozialen Wandels, sei mal dahingestellt.

Richtig ist sicherlich, dass Luther ein Katalysator war, der Prozesse des sozialen Wandels bzw. der Modernisierung beschleunigt hat, die allerdings ohnehin ähnlich stattgefunden hätten. Und der steuerfinanzierte, bürokratisierte Zentralstaat ging als Ergebnis des Krieges als "Standard-Modell" von Staatlichkeit hervor. "Kriege machen Staaten" und "Staaten machen Kriege".

Das sehe ich ähnlich, die Entwicklung zum zentralistischen absolutistischen Staat vollzog sich in unterschiedlicher Intensität in ganz Europa. Es wurden davon auch Länder berührt wie Russland, das von Reformation und Gegenreformation fast gar nicht berührt wurde. Wie nach ihm Peter der Große versuchte auch Iwan IV. die Macht der Krone gegenüber den Bojaren durchzusetzen, wobei er durchaus Erfolge hatte. Die Entwicklung zum "institutionellen Flächenstaat" der Neuzeit, der von fachlich qualifizierten Beamten in institutionalisierten Behörden mit fest umrissener Sachkompetenz arbeiteten und für ihre Tätigkeit gegenüber dem Fürsten als höchster Staatsgewalt verantwortlich waren. Die Politik fast aller Herrscher der Epoche zielte auf darauf, eine einheitliche Landeshoheit zu etablieren und autokratische Herrschaft auszuüben. Der Verlauf dieses Prozesses war unterschiedlich.

Im ausgehenden Mittelalter waren Entscheidungen gefallen, die es rückblickend sehr unwahrscheinlich erscheinen lassen, dass sich in Deutschland oder besser gesagt in den deutschen Ländern die Chance eines zentralistischen Reichsstaates ergeben würde. Eine relativ stabile politische Ordnung, die dem Alten Reich und den neuen Fürstenstaaten zugleich Raum ließ. Die deutschen Länder traten im 16. Jahrhundert den Weg in die neuzeitliche Staatlichkeit an. Vollendet haben ihn nur die größeren Herrschaftsgebiete, von denen Preußen und Österreich zu souveränen europäischen Großmächten wurden.
In den kleineren Territorien festigte sich die Stellung der Landesherren, so dass sie den Anspruch auf die Staatsgewalt erheben konnten. dennoch existierten die Landstände vielerorts fort und zogen sich bis ins 18. Jhd. fort.
Die frühmoderne Staatsbildung vollzog sich ähnlich in den europäischen Staaten: Es war eine Auseinandersetzung zwischen monarchischer Gewalt, die zum Absolutismus strebte und die Libertät der Landstände, die ihre Ansprüche zu verteidigen suchten. Diese Kämpfe wurden auch in anderen europäischen Staaten ausgetragen, die Kleinräumigkeit der territorialen Verhältnisse in den deutschen Ländern sorgte aber dafür, dass sie dort besonders erbittert verliefen. Die Gegner und sozialen Kräfte, die sich den Fürsten entgegenstellten, waren unterschiedliche, je nach Region. In den Territorien östlich der Elbe der frondierende Adel, in Norddeutschland die ehemaligen Hansestädte, in Oberdeutschland Freie Reichstädte, in den geistlichen Territorien die Domkapitel und andere auf Unabhängigkeit bedachte Institutionen.
Der Einfluss Luthers auf diese Entwicklung war aber gering, viel geringer, als der von Jean Bodin, Rene Descartes, Thomas Hobbes oder selbst Nicolo Machiavelli. Er war kein Staatsrechtlehrer und Luther zum Vater des Föderalismus zu machen, ist nicht möglich ohne grobe Vereinfachungen, die an Geschichtsklitterung grenzen.

Luther hatte sicher nicht vorgehabt, eine neue Kirche zu gründen, und die Reformation begann, soweit man heute weiß, nicht mit Hammerschlägen. Im 19. Jahrhundert feierte man die theatralische Szene des Thesenanschlags an die Wittenberger Schlosskirche, dessen Hammerschläge die Welt veränderten. Als die alte Tür vermodert war, spendierte der preußische König eine neue Tür aus Bronze, auf der die 95 Thesen festgehalten waren.

Inzwischen gilt als ziemlich sicher, dass Luther zunächst einen Brief an Albrecht von Brandenburg schrieb. Luther war weniger der herausfordernde Revolutionär, zu dem man ihn machte, als ein um das Wohl der Kirche besorgter Theologe, der trotz seiner Selbstgewissheit großen Respekt vor Amtsträgern der Kirche hatte und in aller Bescheidenheit seiner Kirche dienen wollte, indem er sie auf Irrtümer hinwies. Dass Luthers Versuch, die Ablaßfrage innerkirchlich regeln wollte, war nicht seine Schuld.

Albrecht von Brandenburg, der dank Krediten der Fuggerbank gegen kanonisches Recht Erzbischof von Mainz, Magdeburg und auch noch Administrator von Halberstadt geworden war, nahm den Theologieprofessor aus der Provinz nicht für voll. Als Antwort aus Mainz ausblieb, gab Luther seine 95 Thesen an Bekannte ab, die sie redigieren sollten. Diese waren es, die ohne Luthers Wissen das Werk publizieren ließen. (Heinz Schilling, Aufbruch und Krise S. 99 ff.) Die Ämterkumulation von Albrecht von Brandenburg hatte bei Humanisten für äußerste Erbitterung gesorgt. es war sozusagen der Tropfen der das Fass überlaufen ließ. Eine Erneuerung und Reform der Kirche stand seit fast zweihundert Jahren auf der Agenda, John Wiclif und Jan Hus hatten auf Missstände aufmerksam gemacht. Luther hätte bei etwas Konzilianz durchaus in der Kirche integriert werden können, wie die mittelalterliche Kirche sich immer wieder reformiert hat.

Das päpstliche Rom der Renaissance fühlte sich so sehr als Nabel der Welt und war daran gewöhnt, Kritiker mit Acht und Bann (mund)tot zu machen, dass es die Explosivität der sozialen und theologischen Probleme nördlich der Alpen total verkannte.
Luthers 95 Thesen und seine Schrift "Von der Freiheit eines Christenmenschen" trafen den Nerv der Zeit, brachten wortgewaltig das auf den Punkt, was viele Menschen bewegte. Aus einer geistigen und sozialen Revolte des Klerus und der Intellektuellen wurde eine revolutionäre Bewegung. Humanisten, Kleriker, Bauern projizierten ihre Hoffnungen und Erwartungen auf Luther, fühlten sich durch seine Werke in ihren Forderungen bestätigt. Durch sein mutiges Auftreten beim Reichstag in Worms erwarb sich Luther viele Sympathien im Volk. Er wurde verteufelt und als Lichtgestalt in den Olymp gehoben, von dem man sich Hoffnungen versprach, denen Luther selbst wenn er gewollt hätte, niemals hätte gerecht werden können.

Luthers Biographie wurde in der Mitte des 20. Jahrhunderts bis zur Absurdität politisiert. Einige sahen eine Kontinuität von Luther zu Hitler. Der Reformator ging davon aus, das alle Obrigkeit von Gott legitimiert ist und in seinem Pamphlet "Wider die Juden und ihre Lügen" sprach er sich für die Vernichtung von Synagogen aus und rief zum Mord an aufständischen Bauern auf. In der DDR stand Thomas Münzer, der sich auf die Seite der Bauern schlug, in höherem Ansehen als Luther. Seinen 500. Geburtstag feierten aber beide deutsche Staaten, Luther war Hauptfigur verschiedener Fernsehserien, und beide deutsche Staaten vereinnahmten ihn als einen der ihren.

Historisch ist er eine überaus komplexe Figur, und komplex ist auch die historische Rezeption Luthers und der Wandel des Lutherbildes im Laufe der Jahrhunderte. Ob im Guten oder im Schlechten war er eine historische Persönlichkeit, die wie nur wenige ein ganzes Zeitalter umgestaltet haben.

Das religiöse Ethos des 16. Jahrhunderts erscheint einem säkularen Menschen oft schwer verständlich, und die Verflechtungen von säkular weltlichen und religiös kirchlichen Strukturen und Entwicklungen muss man beachten, wenn man Luther und das Zeitalter der Reformation verstehen will. In seinem Denken war Luther in vielem noch im Mittelalter verwurzelt. er war ein Mensch der über sein Leben verzweifelt war und anders als ein säkularer moderner Mensch auch im Tod keinen Frieden erwartete, im Gegenteil, was ihn nicht zur Ruhe kommen ließ, waren ja die Qualen, die er nach dem Tod erwartete.

"Ich konnte den gerechten, die Sünder strafenden Gott nicht lieben, haßte ihn vielmehr, denn obwohl ich als untadeliger Mönch lebte, fühlte ich mich als Sünder vor Gott und sprach:Soll es denn nicht genug sein, dass die elenden, durch Erbsünde ewiglich verdammten Sünder mit Unheil bedrückt sind, durch die Gebote des Dekalogs (10 Gebote). So raste ich vor Wut in meinem verwirrten Gewissen....Da erbarmte sich Gott meiner, bis ich merkte die Gerechtigkeit Gottes wird durch das Evangelium offenbar. So fühlte ich mich ganz und gar neugeboren, die Tore hatten sich aufgetan, ich war in das Paradies selbst eingegangen." In seiner Klosterzelle nahm er seine persönlichen Ängste ernst und fand er einen Weg auf dem viele seiner Zeitgenossen auch die ihrigen überwinden konnten und kam zu einer Gewissheit, die solche Ängste erst gar nicht mehr aufkommen ließ. Er hatte das in der Theologie erzwungen, was die moderne Wissenschaftsgeschichte einen Paradigmenwechsel nennt.
Diese Ideenwelt erscheint schwer verständlich für Menschen mit einem säkularisierten Weltbild. Es war das aber keine rückwärts gewandte Kraft. im Gegenteil setzten die theologischen und kirchenpolitischen Fragen beachtliche intellektuelle, soziale und politische Modernisierungsimpulse frei, die neue, neuzeitliche Formen des Denkens und des politisch-gesellschaftlichen Zusammenlebens hervorbrachten. (Heinz Schilling, Aufbruch und Krise S. 86, 87).

Luther begründete mit seiner Ehe mit Katherina von Bora die Tradition des protestantischen Pfarrhauses, das sich zu einer bedeutenden kulturhistorischen Pflanzstätte entwickelte, aus dessen Milieu Künstler wie Vincent Van Gogh, Hermann Hesse, Friedrich Dürenmatt und Jean Paul oder Zertrümmerer aller Werte wie Friedrich Nietzsche oder Gudrun Enslin hervorgingen.

"Vielleicht war der eine oder andere von jenen schlauen und hartnäckigen Schwabenschädeln darunter, welche im Laufe der Zeiten sich in die große Welt gedrängt und ihre stets etwas trockenen und eigensinnigen Gedanken zum Mittelpunkt neuer, mächtiger Systeme gemacht haben. Denn Schwaben versorgt sich und die Welt nicht allein mit wohlerzogenen Theologen, sondern verfügt auch mit Stolz über eine traditionelle Fähigkeit zur philosophischen Spekulation, welcher schon mehrmals ansehnliche Propheten oder auch Irrlehrer entstammt sind." schrieb Hermann Hesse in "Unterm Rad", der das Seminar Maulbronn besuchte, von wo er als 15 Jähriger ausriss.


Eigentlich ist Martin Luther, man mag zu ihm stehen wie man will, auch im 500. Jahr der Reformation eine hochinteressante Persönlichkeit geblieben, und seine Rezeption ein ganz eigenes Kapitel deutscher Geschichte.

Um ihn und die Reformation zu verstehen, ist es aber notwendig, seine Ideenwelt und die seiner Zeitgenossen zu kennen. Die Doku sorgt in dieser Beziehung eher für Verwirrung, als für Klarheit. Ja, man könnte ihn als Wegbereiter des Föderalismus vereinnahmen. ...Könnte man. Im Laufe der Jahrhunderte hat man ihn für alle möglichen Ideologien vereinnahmt. Er wurde als Kronzeuge für Bismarcks Kulturkampf im Kaiserreich benutzt. Die bekennende Kirche berief sich auf den Luther, der beim Reichstag in Worms seine Überzeugung nicht verleugnete. Die Nazis reklamierten den Antisemiten Luther als Bruder im Geiste, der für Antisemitismus und gegen Rassenschande eintrat. In Veit Harlans Propagandafilm Jud Süß zitiert ihn der Landschaftskonsulent Sturm, an dessen Tochter sich der Antiheld Joseph Süß Oppenheimer heranmacht: "Wisse, du Christ, dass du keinen größeren Feind hast, als einen rechten Juden". 1983 anlässlich seines 500. Geburtstages machte selbst die DDR ihren Frieden mit ihm. Wittenberg und Eisleben sind "Lutherstädte", der Reformator grinst von Porzellantassen, es gibt Schnäpse und Biere, die seinen Namen tragen, und zu Halloween/Reformationstag verschenkte eine Gemeinde orangefarbene Lutherdrops an Kinder, die "Süßes oder Saures" forderten. Seine Bibelübersetzung und den Katechismus kennt jeder Konfirmand. Seine Sprachgewalt, seine Kunst der verbalen Beleidigung sucht ihresgleichen, nur Nietzsche, der ihn aufrichtig verabscheute, ist ihm ebenbürtig. Es ließe sich vermutlich ohne weiteres eine Doktorarbeit über Luther und die Deutschen und ihr Verhältnis schreiben.

Luther passt irgendwie immer, sein Name ist fast jedem geläufig, aber wer könnte sagen, dass er ihn gut kennt.
 
Vielen Dank für die ausführliche und kompetente Beantwortung der Frage nach der Staatenbildung und der Frage nach dem Föderalismus.

Zentral ist m.E. für das Verständnis von Luther ist Deine folgende Aussage:

"Diese Ideenwelt erscheint schwer verständlich für Menschen mit einem säkularisierten Weltbild. Es war das aber keine rückwärts gewandte Kraft. im Gegenteil setzten die theologischen und kirchenpolitischen Fragen beachtliche intellektuelle, soziale und politische Modernisierungsimpulse frei, die neue, neuzeitliche Formen des Denkens und des politisch-gesellschaftlichen Zusammenlebens hervorbrachten."

Und an diesem Punkt wurde das geistesgeschichtliche Momentum beschleunigt, nicht zuletzt durch den einsetzende öffentlichen Diskurs. Es konnten neue Fragen gestellt werden und neue Antworten gegeben werden, auch teilweise "revolutionäre".

In diesem Sinne steht Luther - und Du hast ja auf die anderen wichtigen Akteure hingewiesen - in diesem Kontext einer Diskussion der "Intellektuellen" aus Kirche und anderen Organisationen.
 
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