Wurzeln/Vorläufer der Deep-State-Theorie

steffen04

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Durch die US-amerikanische rechte Szene wabert gerade die Furcht vorm Deep State. Kurz und möglichst neutral: demokratisch gewählte Politiker haben Probleme, sich gegen das Geflecht aus eingefuchsten Verwaltungsprofis, Lobbyisten etc. durchzusetzen. Nach dem Motto "Minister kommen und gehen, Ministerialräte bleiben".

Da gibt es sicher Vorläufer. Die Idee vom Militärisch-Industriellen Komplex bildete solche Ideen schon in den 50ern ab. Und in den 70ern widmeten sich die BBC-Shows "Yes Minister" und "Yes Primeminister" (ganze Folgen auf Youtube, sollte Pflicht für jeden neuen Minister sein) dem Kampf der Politik gegen die (Beharrungs-)Macht des Civil Service.

Fallen euch da noch mehr Stichworte/Rechercheansätze ein? Vielleicht auch Biografien von an der Beamtenschaft verzweifelten Ministern oder Abgeordneten o.ä.?
 
Der Begriff "deep state/tiefer Staat" stammt mWn ursprünglich aus der Türkei. KA, ob das auch die Grundlage für die Verwendung in den USA ist.

https://de.wikipedia.org/wiki/Tiefer_Staat

Da hier die Verflechtung (auch) mit der organisierten Kriminalität eine große Rolle spielt, ist vermutlich auch Italien ein dankbares Beschäftigungsfeld...
 
Da ist ja der deutsche Staat das beste Beispiel. Hier gehört es zum Staatsaufbau. Denken wir z.B. an die Umsetzung von Gesetzen in Verordnungen und die Institutionalisierung vieler Lobbygruppen.

Dem Nachteil steht hier die relativ große Transparenz gegenüber. Und wer nicht nur Fachleute zurcWahl zulassen will, kommt kaum an Fachbeamten vorbei. Historisch interessant wird die Untersuchung von Gesetzen und ihrer Umsetzung sowie die Geschichte der genannten Institutionen sein.

Das Problem im Verteidigungsministerium ist altbekannt und jünger war ja auch das Bundespräsidialamt in den Medien, dass dem Präsidenten seinen öffentlichen Auftritt vorschreiben wollte. Der Gefreite, der die Dienstvorschrift gegen den Vorgesetzten nutzt, ist altbekannt, aber die Dienstvorschrift muss dann eben geändert, Missbrauch ausgeschlossen werden. Alles altbekannt, auch historisch zu beobachten. Wie funktioniert die Beeinflussung, wie werden Vorschriften aus Gründen von Macht und Einzelinteresse missbraucht?

Historisch gab es oft Probleme, wenn ein schwächerer Herrscher keine entsprechenden Beamten vorfand. Oder ein starker Herrscher dann wieder dominieren will. Denken wir an Friedrich den Großen, Kaiser Franz Joseph, Wilhelm II. Aber auch an funktionierende Gespanne (Wilhelm I und Bismarck).

Gegenmaßnahmen sind oft auch nicht ohne. Ein Jesuit als Papst ist durchaus eine Drohung für die mächtige Kurie, die angeblich Benedikt resignieren ließ: Macht- und Expertengruppen gegeneinander ausspielen. Eine Nacht der langen Messer oder die Kriminalisierung einer Organisation ist auch nicht neu.

Oder Bürokraten werden auf entscheidende Posten gesetzt. Nach dem Motto wie der Generalstabschef Moltke zum GFM ernannt wurde. Denken wir an Edmund Stoiber, Vauban, manche Britische Premierminister.

Demokratisch ist dies alles nicht. Aber interessant, wo es zu Problemen kam, was dagegen getan wurde und wie sich diese Macht äußerte. Problematisch scheint mir jedoch, dass dies heute zum ersten Mal in Demokratien zu einem Problem wird und neue Lösungen gefunden werden müssen. Aber da ist das Geschichtsforum nicht zuständig.
 
Durch die US-amerikanische rechte Szene wabert gerade die Furcht vorm Deep State.

Nur eine kurze These:

An diesem Punkt kann man u.a. den Unterschied von klassischen Wertekonservativen und rechtsextremen Neo-Populisten erkennen.

Diesen Unterschied kann man auch für das NS-System konstatieren.

Vereinfacht: Der klassische Wertekonservative bejaht die funktionale Bedeutung staatlicher Strukturen und das sinnvolle und koordinierte Ineinandergreifen der staatlichen Funktionen. Zum Wohl des Staates und des Volkes.

Rechtsextreme Revolutionäre haben ein Problem mit dieser Form der sinnvollen und koordinierten Staatsfunktion. Ein Teil der historischen Erklärungen zum politischen Problem des NS-Staates stellt es in den Fokus ihrer Erklärungen vgl. z.B. Broszat: Der Staat Hitlers).

Die Ablehnung dieser autonomen Funktionsweise staatlicher Organisationen ist ein Teil der Ablehnung der "Gewaltenteilung". In der Negierung liegt der Versuch, eine "Gleichschaltung" von Politik vorzunehmen, bzw. der funktionalen Neutralisierung von untergeordneten Entscheidungszentren.

Die Lösung aus der Sicht der Neo-Populisten ist die Hierarchisierung von Entscheidungen, die dem "Führer" wieder die uneingeschränkte Entscheidungsgewalt sichern soll.

Und damit eines der zentralen demokratischen Elemente, die "Balance der Machtzentren" in Frage zu stellen.

Dieser Aspekt ließe sich auch auf andere Elemente des politischen System anwenden, wie die Eigenständigkeit der Judikative.
 
An diesem Punkt kann man u.a. den Unterschied von klassischen Wertekonservativen und rechtsextremen Neo-Populisten erkennen.
Du vergisst (Rechts-)Libertäre. Diese stehen staatlichen Strukturen generell kritisch bis ablehnend gegenüber. Die Theorie des Tiefen Staats ist vorallem in rechts-libertären Kreisen verbreitet.

Normale Rechtsextreme, -radikale und -populisten sind, wie du erkannt ist, i.d.R. sehr autoritär und verlangen nach einem starken Staat.

Die Hypothese vom Tiefen Staat ist in ihren Kreisen deshalb verbreitet, weil sie glauben, er würde die Entscheidungsfindung weiter diversifizieren und verlangsamen. Libertäre die daran glauben, meinen der Deep State hätte einfach zuviel Macht.

Ich selber bin übrigens Links-Libertarier.
 
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Vielen Dank an Thane, da sind viele für mich neue Ansätze drin.

Erstmal dass die Deep State-Theorie als Argument für den Angriff auf die Gewaltenteilung dienen kann. Gut, Beamtenschaft und Regierung, Minister und Ministerialer gehören beide zur Exekutive, aber der Grundgedanke stimmt trotzdem.

Daraus den Anarchismus des Dritten Reiches abzuleiten ist mindestens folgerichtig. Muss ich vielleicht doch mal Snyder lesen.

Natürlich darf man die Angst vorm Deep State nicht auf die Rechten beschränken. Linke Türken hatten/habe zu Recht Angst vor einem rechten Deep State. Und den Genossen im Ländle ging 1992 furchtbar die Klammer vor der zutiefst schwarzen Beamtenschaft nach Jahrzehnten Unionsherrschaft. Und die Angst vor dem militärisch-industriellen Komplex war eher eine linke. Auch wenn ein US-Republikaner den Begriff erfunden hat.

Umgekehrt kann man natürlich sagen, dass zum Beispiel der SPD der Weimarer Republik ein bisschen Misstrauen gegenüber dem kaiserlichen Deep State ganz gut getan hätte.
 
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Du vergisst (Rechts-)Libertäre. Diese stehen staatlichen Strukturen generell kritisch bis ablehnend gegenüber. Die Theorie des Tiefen Staats ist vorallem in rechts-libertären Kreisen verbreitet.

Normale Rechtsextreme, -radikale und -populisten sind, wie du erkannt ist, i.d.R. sehr autoritär und verlangen nach einem starken Staat.

Die Hypothese vom Tiefen Staat ist in ihren Kreisen deshalb verbreitet, weil sie glauben, er würde die Entscheidungsfindung weiter diversifizieren und verlangsamen. Libertäre die daran glauben, meinen der Deep State hätte einfach zuviel Macht.

Ich selber bin übrigens Links-Libertarier.

Das stimmt so. Ich möchte nur noch einmal ergänzen, dass die Furcht vor dem Deep State nicht auf die politische Rechte beschränkt ist. Danke für den Hinweis auf die Libertären.

Falls du es noch nicht gesehen hast: auf Youtube gibt es einige Beiträge vom Parteitag der Libertarians vor ungefähr einem Jahr. Grandios. Unvergessen die Ablehnung der Führerscheinpflicht als staatliche Repression. Und dazwischen immer wieder Gary Johnson, traurig lächelnd wie ein von seltsamen, aber liebenswerten Kindern geplagter Vater.
 
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Den Begriff "tiefer Staat" habe ich bisher ausschließlich im türkischen Kontext gelesen.

Die Grundidee ist die, dass die der türkische Staat, insbesondere Militär und Justiz seien von einer reaktionär-kemalistischen Störmung kontrolliert, die mit illegalen Mitteln gegen seine politischen Gegner, insbesondere gegen Sozialisten, Kurden oder Islamisten vorgehe, sich Justiz, Militär und Polizei entsprechend gegen diese Gruppen verschworen hätten.

Zumindest im türkischen Kontext keine Verschwörungstheorie der Rechtsextremen, sondern eher eine Verschwörungstheorie über Rechtsextreme. Inzwischen wird die Theorie vom "tiefen Staat" in der Türkei von allen politischen Lagern verwendet, wobei die Charakterisierung der mutmaßlichen Verschwörer mitunter variiert.



Die Theorie des "tiefen Staats" erinnert mich stark an Carl Schmitts Forderungen, der Staat dürfe nicht Beute der Politiker werden, sondern der Staat müsse vor dem ausufernden Parlamentarismus verteidigt. Also Dikatur als berechtigte Gefahrenabwehr im Notstand. Das "Lebensrecht des Staates" müsse mit allen Mitteln durchgesetzt werden.
Schmitt benutzte den Begriff "tiefer Staat" meines Wissens nicht, aber in seinen Pamphleten forderte er quasi dessen Einrichtung.
Dass Carl Schmitts Staatstheorie antiliberal, reaktionär bis rechtsradikal, ist, liegt auf der Hand. (Wertkonservativismus wäre hier ein Euphemismus.)
 
Um das Thema noch einmal aufzugreifen (auch weil es tagesaktueller immer wichtiger wird):

Das Phänomen, dass feste Strukturen, Beamtenschaft, Richter etc.. eine natürliche Bremse des politischen Willens frisch gewählter Würdenträger ist weder neu noch strittig (?).

Schmitt hat von der rechten Seite her den Deep State verteidigt.

Aber es muss doch auch ernstzunehmende kritische Stimmen gegen die Beharrungsmacht der Institutionen geben?
 
Das Phänomen, dass feste Strukturen, Beamtenschaft, Richter etc.. eine natürliche Bremse des politischen Willens frisch gewählter Würdenträger ist weder neu noch strittig (?).
Das war doch schon immer so.

Nehmen wir mal den Wandel vom Deutschen Kaiserreich, zur Weimarer Republik, zum Dritten Reich, zur BRD und DDR: Viele Funktionäre und Würdenträger waren dieselben Personen und hatten ähnliche Positionen inne, außer natürlich, wenn sie weiter aufgestiegen sind.

Ein anderes Beispiel ist Rom. Es herrschte über das damals neulich eroberte Gallien mithilfe lokaler Eliten, die sich einfach zwecks Erhalt ihres Status, angepasst hatten, genauso machten es die Germanen, nachdem sie während der Völkerwanderung Teile des Imperiums eroberten. Odoaker behielt sogar den Kaiserhof in Ravenna bei, mehr oder weniger so, wie Romulus Augustulus ihn zurückließ.

Den von dir erwähnten Beamten, Verwaltern, Würdenträgern etc. ist es meist relativ egal, welchem System sie dienen. Solange sie sich Macht, Geld und Status sichern können.

Obwohl es inkonsequent erscheint und eventuell unmoralisch sein kann, ist das ein komplett nachvollziehbares und aus Sicht der Personen, das einzig sinnvolle Verhalten. Wer sein ganzes Leben dieser Karriere gewidmet und sich viel erarbeitet hat oder reingeboren wurde und es nie anders kannte, wird das nicht einfach so aus ideologischen Gründen fallen lassen.
 
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"Alles wäre verloren, wenn ein und derselbe Mann oder dieselbe Körperschaft der Fürsten, des Adels oder des Volkes diese drei Gewalten ausübte: Gesetze zu erlassen, sie in die Tat umzusetzen und über Verbrechen und private Streitigkeiten zu richten"

(Montesquieu)

einfach:

"Seine Theorie von der Gewaltentrennung beruht also auf dem Gedanken, dass eine gegenseitige Kontrolle und Hemmung zur Verhinderung von Machtmissbrauch nur möglich ist, wenn die einzelnen Gewalten nicht völlig voneinander abgeschottet sind. Montesquieu hat damit ein wichtiges Prinzip des Verfassungsstaates entwickelt: In jeder modernen Ordnung wird die Freiheit dadurch erhalten, dass es mehrere verschiedene Machträger gibt, die sich gegenseitig ihre Grenzen aufzeigen. Macht muss daher stets durch Gegenmacht beschränkt und kontrolliert werden."

Quelle: das balancing ist auch ohne rechtshistorische Lektüre leicht auffindbar.
 
Ich habs mir mal zusammen gefasst

1. Echte Deep States
Die Herrschaft der Armee in der Türkei, Pakistan und Ägypten wird quasi offiziell als Deep State-Herrschaft bezeichnet. In den drei Ländern (in der Türkei bis zum Amtsantritt Erdogans) verfügt die Armee über weitreichenden Einfluss in Wirtschaft, Verwaltung, Justiz etc . Zwar finden in all diesen Ländern demokratische Wahlen statt. Wenn gewählte Vertreter aber an die Wurzeln des Deep State gehen, greift die Armee ein, in allen Ländern auch bis hin zum Putsch. Der Deep State hat sich hier tatsächlich von den demokratischen Strukturen emanzipiert.

2. Deep State in den USA und anderen westlichen Ländern
Allegorisch wird der Begriff verwendet, um die Situation zu beschreiben, dass Regierungen kommen und gehen, die Experten in der Verwaltung, die Lobbyisten etc aber bleiben und den Neuankömmlingen in den Parlamenten und der Regierung an Kompetenz und Vernetzung überlegen sind. Satirisch wurde das Phänomen schon von den BBC-Serien „Yes, Minister“ und „Yes, Primeminister“ aufgearbeitet

2.1 Manhattan Project
Das Manhattan Project, dass mit riesigem finanziellem und personellen Aufwand losgelöst von jeder demokratischen Kontrolle betrieben wurde, wird etwa von Mike Lofgren als Beginn des Deep State in den USA verortet. Das auch nach dem Krieg die dabei entstandenen Geflechte zwischen Pentagon und Wirtschaft bestehen blieben, beklagte der republikanische Präsident Ike Eisenhower als „Militärisch-industriellen Komplex“.

2.2 Mike Lofgren
Lofgren, langjähriger Wasserträger der Republikaner, ist der Meinung, dass die Abgeordneten sich mehr und mehr für die Interessen von Lobby-Gruppen, nicht für die ihrer Wähler einsetzten. Vor allem Wall Street und zunehmend Silicon Valley hätten immensen Einfluss bis hin zur Stellenbesetzung in den Ministerien. Der „Drehtür-Effekt“, raus aus dem Staatsdienst rein in lukrative Wirtschaftspositionen sieht er als einen Hinweis. Die Abgeordneten sehen ihre Aufgabe zunehmend im Schutz ihrer Klienten, dabei werden wettbewerbliche, rechtstaatliche, umwelt- und andere Prinzipien außer Kraft gesetzt.

3. Parallelen zur Stamokap-Theorie
Da kann man durchaus einige Parallelen zu Lofgren finden: Einfluss weniger sehr großer Unternehmen bzw. Sparten. Schutz dieser „too big to fail“-Unternehmen durch den Staat. Einfluss der Lobbyisten. Personalaustausch zwischen Politik und Wirtschaft.

4. Carl Schmitt
Maglor: "Die Theorie des "tiefen Staats" erinnert mich stark an Carl Schmitts Forderungen, der Staat dürfe nicht Beute der Politiker werden, sondern der Staat müsse vor dem ausufernden Parlamentarismus verteidigt. Also Dikatur als berechtigte Gefahrenabwehr im Notstand. Das "Lebensrecht des Staates" müsse mit allen Mitteln durchgesetzt werden."
Das beschreibt ja gut die Haltung der türkischen Militärs, die über Jahrzehnte den Kemalismus mit allen Mitteln verteidigten.

5. Besetzung des Begriffs durch die amerikanische Rechte
Rechte Medien (Infowars, Limbaugh, Savage, Fox) beschreiben damit mittlerweile ständig den Widerstand der bürokratischen Kaste gegen Trump. Das geht bis dahin, dass Obama unterstellt wird, immer noch die Geschicke Washingtons aus dem Untergrund zu lenken. Tatsächlich gibt es jede Menge Obstruktion, von missliebigen Gerichtsurteilen, fehlenden Mehrheiten bis zu den ständigen Leaks, die belegen, dass Washington sich gegen Trumpsche „Reformen“ mit allen Mitteln wehrt. Das das Erfolg hat, hat aber mehr mit der Inkompetenz der Regierung als mit der Macht der Bürokraten zu tun. Der Deep State-Ansatz wird zur Ausrede, ist aber, da halt doch nicht ganz falsch, eine der besseren Verschwörungstheorien.



Drei ganz gute Links:
"Deep State" Interview -
Die gefährliche Theorie des «deep state» - News International: Amerika - tagesanzeiger.ch
https://www.theatlantic.com/interna...-dangerous-to-talk-about-a-deep-state/517221/
 
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