Objektivität im Geschichtsdenken

jschmidt

Aktives Mitglied
Während der ebenso interessanten wie dissonanten Diskussion über
http://www.geschichtsforum.de/f72/wertung-historischer-leistungen-25385/ bekam ich Lust, tiefer in die Theorie einzusteigen. Ich meine aufgrund von http://www.geschichtsforum.de/f19/geschichtstheorie-und-werkzeuge-13157/ hier den richtigen Ort gefunden zu haben. [Sonst bitte umlegen! Oder mache ich besser eine IG daraus?]

Es gab schon Beiträge zum Thema, etwa hier: http://www.geschichtsforum.de/f7/das-allgemeine-und-das-individuelle-21223/
http://www.geschichtsforum.de/f55/geschichte-ideologisch-warum-geschichte-studieren-18879/


Den Ausgangspunkt nehme ich bei dem viel zitierten, heute wenig gelesenen Ranke, dessen "Ideal der Objektivität" häufig propagiert wird - siehe etwa http://www.geschichtsforum.de/f72/wertung-historischer-leistungen-25385/#post388618 -, wenngleich mit dem Hinweis, es sei "nicht durchführbar" (s.o.)

Ranke schreibt in den "Geschichten der romanischen und germanischen Völker von 1494 bis 1514", S. VII:
Man hat der Historie das Amt, die Vergangenheit zu richten, die Mitwelt zum Nutzen zukünftiger Jahre zu belehren, beigemessen: so hoher Aemter unterwindet sich gegenwärtiger Versuch nicht: er will blos zeigen, wie es eigentlich gewesen ist.
und ergänzt in der "Englischen Geschichte" (Bd. 2, S. 103):
Ich wünschte mein Selbst gleichsam auszulöschen, und nur die Dinge reden, die mächtigen Kräfte erscheinen zu lassen, die im Laufe der Jahrhunderte mit und durch einander entsprungen und erstarkt [...]
Für Generationen von Historikern hat vor allem das erste Zitat das Fragen wie diese aufgeworfen:

  • Wollte R. dieses zum Maßstab für alle machen?
  • Was bedeutet das Wörtchen "eigentlich" eigentlich?
  • Welche Implikationen hat diese Regel?
  • Verbietet sie z. B. "moralische" Urteile?
  • Hat sich R. selbst an seine Regel gehalten?
Ehe ich ein paar Thesen dazu entwickele/zitiere: Hat jemand noch weitere Vorschläge zur Tagesordnung? :)
 
"blos zeigen, wie es eigentlich gewesen ist"

1. Hierzu als erstes ein jüngerer Historiker, Johannes Süssmann (Geschichtsschreibung oder Roman ... - Google Buchsuche):
Das berühmtes Wort Rankes sei "hartnäckig mißverstanden" worden (S. 248). Es gehe ihm nicht in erster Linie um die Tatsachen, sondern um den darin verborgenen Zusammenhang, nicht um eine "vermeintlich voraussetzungslose Empirie", sondern um "die Konstruktion des Historikers im empirischen Material" - es sei durchaus kein Zufall, dass Ranke nicht das Wirkliche, sondern eben das Eigentliche angesprochen habe.
Das Eigentliche aber können nur die hinter allem Geschehen stehenden "(göttlichen) Ideen [sein], die sich in der Geschichte offenbaren. [...] In der Tat, Rankes Geschichten sind ein Vexierbild. Je länger man darin liest, desto mehr implizit ausgedrückte Zusammenhänge und Ideen entdeckt man" (S. 248 f.).

2. Das ist eine Stellungnahme von vielen (siehe Süssmanns Literaturhinweise). Die Kritiker monieren insbesondere die Rückbindung an einen alles Geschehen steuernden "göttlichen Gesamtplan" und am dem daraus resultierenden Verzicht, "aus der Fülle der Möglichkeiten einer historischen Situation die realisierte kritisch zu beurteilen" (Berding, Leopold von Ranke, in: Deutsche Historiker [Hg. Wehler], Bd. I [1971], S. 15). Den zentralen Schwachpunkt hat schon der Ranke-Schüler Jacob Burckhard benannt: "die Rechtfertigung historischer Mächte, da sie nun einmal bestehen, und entsprechend die Rechtfertigung historischer Ereignisse, da sie nun einmal geschehen sind. 'Damit nahm er gegen Rankes Geschichtsanschauung, die auf den Gegebenheiten beruhte und die einzelne Realität rechtfertigend vergeistigte, frontal Stellung'" (Berding, S. 16; das eingeschlossene Zitat ist von Schulin).

3. Ich unterstelle, dass Ranke zutiefst von dem überzeugt war, was er an theoretischer Grundidee vorgab. Bei den Epigonen des Historismus war das mehr nicht durchgehend der Fall. Geradezu entlarvend mutet eine Passage bei Friedrich Meinecke an (aus: Schaffender Spiegel. Studien zur deutschen Geschichtsschreibung [1948], S. 67):
Mag der Historiker der Form nach auch das eigene Werturteil über sie [die historischen Ereignisse] zurückhalten - zwischen den Zeilen steht es doch da und wirkt als solches auf den Leser. Es wird dann oft - wie namentlich bei Ranke - tiefer und ergreifender, als wenn es in die Form einer unmittelbaren Zensur gekleidet wäre, und es ist deshalb als Kunstgriff sogar zu empfehlen.
 
Mag der Historiker der Form nach auch das eigene Werturteil über sie [die historischen Ereignisse] zurückhalten - zwischen den Zeilen steht es doch da und wirkt als solches auf den Leser. Es wird dann oft - wie namentlich bei Ranke - tiefer und ergreifender, als wenn es in die Form einer unmittelbaren Zensur gekleidet wäre, und es ist deshalb als Kunstgriff sogar zu empfehlen.

1. Ich halte das, was Meinecke ausführt, keinesfalls für "entlarvend", sondern einfach für den Ausdruck der Erkenntnis, dass absolute Objektivität dem einzelnen Historiker unmöglich ist. Anders kann man den Satz aus der Grundposition Meineckes heraus gar nicht verstehen. Jeder kann Geschichte nur von seinem Standpunkt und aus seiner Zeit heraus erzählen, seine persönliche Prägung durch Herkunft, Ausbildung, Erziehung wird immer durchschlagen.Auch Ranke war sich darüber im klaren, dass er hiervon nicht frei war. Es kann sich immer nur darum handeln, sich um Objektivität ernsthaft und nach besten Kräften zu bemühen.

2. Rankes Position ist nur als Gegenposition zu Hegel richtig zu verstehen.
Er lehnte Hegels Aiffassung ab, man könne Geschichte als die Geschichte vom Aufstieg und der Entwicklung des Menschen von der niedrigeren zur höheren Position verstehen. Daher Rankes berühmte Formulierung:

"Jede Epoche ist unmittelbar zu Gott, und ihr Wert beruht gar nicht auf dem, was aus ihr hervorgeht, sondern in ihrer Existenz selbst."

Gerade Meinecke hat sich übrigens immer zu diesem Grundsatz bekannt.

3. Gerhard Ritter, ein freilich sehr politischer Historiker, hat sich deshalb massiv gegen Meinecke gewandt. Vor dem Hintergrund der Erfahrung des Nationalsozialismus hat Ritter gefordert, der Historiker müsse bei der Beschreibung der Vergangenheit auf Werturteilen beharren, und zwar an Werturteilen, diesich an Maßstäben "ewiger Gerechtigkeit" orientierten. Er glaubte, dass man sonst zu einem Relitivismus käme, der den Blick auf das Wirken des "Bösen" in der Geschichte vestellte.

Ich kann eine solche Position bei Gerhard Ritter angesichts seiner Biographie verstehen, halte sie persönlich allerdings für falsch. Warum, habe ich im anderen Thread begründet-Für mich verliert jede Wissenschaft, die das reine Bemühen um objektive Erkenntnis aufgibt oder dieses Bemühen unbedingt um eine ständige Zensiererei an ihrem Gegenstand glaubt ergänzen zu müssen, ihren Anspruch, wirklich Wissenschaft zu sein.
 
Das berühmtes Wort Rankes sei "hartnäckig mißverstanden" worden (S. 248). Es gehe ihm nicht in erster Linie um die Tatsachen, sondern um den darin verborgenen Zusammenhang, nicht um eine "vermeintlich voraussetzungslose Empirie", sondern um "die Konstruktion des Historikers im empirischen Material" - es sei durchaus kein Zufall, dass Ranke nicht das Wirkliche, sondern eben das Eigentliche angesprochen habe. Das Eigentliche aber können nur die hinter allem Geschehen stehenden "(göttlichen) Ideen [sein], die sich in der Geschichte offenbaren.

So schwerwiegend ist das Missverständnis in meinen Augen nicht. Halten wir uns Rankes Aussage vor Augen:
"Man hat der Historie das Amt, die Vergangenheit zu richten, die Mitwelt zum Nutzen zukünftiger Jahre zu belehren, beigemessen: so hoher Aemter unterwindet sich gegenwärtiger Versuch nicht: er will blos zeigen, wie es eigentlich gewesen ist."
Ranke distanziert sich sowohl von der moralischen Beurteilung historischer Begebenheiten und als auch vom Bestreben, nützliche Lehren aus der Geschichte zu ziehen ("Historia, Magistra Vitae"). Was bleibt dann noch übrig? Die reine Eruierung der Tatsachen. Das Wörtchen "eigentlich" scheint mir an dieser Stelle lediglich die Suche nach den Tatsachen von der "Verwertung" der Geschichte in moralisierender oder didaktischer Absicht abzugrenzen. Wenn Süssmann es für bedeutungsvoll hält, dass Ranke nicht den Ausdruck "wirklich", sondern "eigentlich" verwendet, so müsste er doch zeigen, dass Rankes Sprachgebrauch den Begriff "das Wirkliche" stets auf den Bereich der Empirie, "das Eigentliche" dagegen auf das hinter der Empirie wirkende Geistige bezieht. Tut er das nicht, so wirkt sene Interpretation des "eigentlich" etwas stark gepresst. Damit ist allerdings nicht gesagt, dass Ranke nicht zugleich an die "göttlichen Ideen" gedacht hat, als er seinen Satz abfasste; Individuelles und Allgemeines sind nach seinem Credo wohl auch kaum zu trennen. Ein ernstes Missverständnis sehe ich hier aber eigentlich nicht.

Interessanter ist wohl die Frage nach den Werurteilen. Ranke lehnt solche ab, weil jede Epoche "unmittelbar zu Gott" ist und vertritt folglich einen Wertrelativismus. Ein ultimatives und weitreichendes Werturteil fällt er aber doch: Wenn alle historischen Begebenheiten ein Ausdruck der Fülle Gottes sind, dann ist die Weltgeschichte auch gerecht. Insofern bedeutet die "Rechtfertigung des Geschehenen und Mächtigen" nicht einfach nur Verzicht auf Kritik, sondern auch eine moralische Legitimierung. Wenn wir uns in der Geschichtswissenschaft heute mit Werturteile zurückhalten wollen, dann vielleicht auch aus moralischem Relativismus, aber wohl kaum auf der Ranke'schen Basis einer gerechten Gottheit, der die Weltgeschichte zu verdanken ist.

Rankes Position ist nur als Gegenposition zu Hegel richtig zu verstehen. Er lehnte Hegels Aiffassung ab, man könne Geschichte als die Geschichte vom Aufstieg und der Entwicklung des Menschen von der niedrigeren zur höheren Position verstehen. Daher Rankes berühmte Formulierung:

"Jede Epoche ist unmittelbar zu Gott, und ihr Wert beruht gar nicht auf dem, was aus ihr hervorgeht, sondern in ihrer Existenz selbst."

Interessanterweise spiegelt die geschichtsphilosophische Polarisierung zwischen Hegel und Ranke eine ähnliche Konstellation des späten 18. Jahrhunderts wider: Da vertrat Kant die Idee eines Fortschritts der Menschheit zu größerer Vollkommenheit, während Herder diese Auffassung verwarf, weil er die früheren Menschen nicht als Mittel zum Zweck (Vollkommenheit späterer Menschen) herabgewürdigt sehen wollte bzw. der Gottheit so eine Ungerechtigkeit nicht zutraute. Tatsächlich geriet Kant mit seiner Theorie dem von ihm selbst aufgestellten Kategorischen Imperativ ins Gehege, anders gesagt: Der von Kant skizzierte Fortschrittsprozess war aus Sicht der Kant'ischen Moralphilosophie eine unmoralische Angelegenheit, was er auch selbst einräumte:
"Befremdend bleibt es immer hiebei: daß die ältern Generationen nur scheinen um der späteren Willen ihr mühseliges Geschäfte zu treiben, um nämlich diesen eine Stufe zu bereiten, von der diese das Bauwerk, welches die Natur zur Absicht hat, höher bringen zu können; und daß doch nur die spätesten das Glück haben sollen, in dem Gebäude zu wohnen, woran eine lange Reihe ihrer Vorfahren (...) gearbeitet hatten, ohne doch selbst an dem Glück, das sie vorbereiteten, Antheil nehmen zu können. Allein so räthselhaft dieses auch ist, so nothwendig ist es doch zugleich, wenn man einmal annimmt: eine Thiergattung soll Vernunft haben und als Klasse vernünftiger Wesen, die insgesamt sterben, deren Gattung aber unsterblich ist, dennoch zu einer Vollständigkeit der Entwicklung ihrer Anlagen gelangen." (Kant, Allgemeine Idee zu einer Geschichte in weltbürgerlicher Absicht, 3. Satz, Ende)
Damit wollte sich Herder jedoch nicht abfinden, ebensowenig wie später Ranke. Dessen Ausführungen gegen Hegel hätten, unter Berufung auf den Kategorischen Imperativ (Stichwort "Mediatisierung", von Herder wörtlich gegen Kant vorgebracht werden können:
"Es wäre eine der Gottheit nicht entsprechende Idee, die Fülle der Dinge an das Ende der Zeiten zu setzen. Der Gedanke, daß jede vorhergehende Generation im allgemeinen von der folgenden übertroffen werde, mithin die letzte bevorzugte, die vorhergehenden aber nur die Träger der folgenden seien, würde fast eine Ungerechtigkeit der Gottheit sein. Die Generationen würden nur insofern etwas bedeuten, als sie die Stufen zu den folgenden sind; sie würden, wenn ich mich dieses Ausdrucks bedienen darf, gleichsam mediatisiert werden." (Ranke, Idee der Universalhistorie, Stelle habe ich nicht zur Hand, nur das Zitat)
Für mich verliert jede Wissenschaft, die das reine Bemühen um objektive Erkenntnis aufgibt oder dieses Bemühen unbedingt um eine ständige Zensiererei an ihrem Gegenstand glaubt ergänzen zu müssen, ihren Anspruch, wirklich Wissenschaft zu sein.

Da würde ich dir trotz meiner Äußerungen im anderen Thread nicht widersprechen. Die Annahme einer "ewigen Gerechtigkeit" schließt ja auch nicht aus, dass man sich in der wissenschaftlichen Tätigkeit praktischerweise mit moralischen Wertungen zurückhalt und, wenn doch moralisch gewertet wird, einen "methodischen Relativismus" anwendet (so wie Descartes kein Skeptiker war und trotzdem mit "methodischer Skepsis" an die Sache herangegangen ist), um den Moralvorstellungen der jeweiligen Zeit gerecht zu werden.
 
Zuletzt bearbeitet:
... Ausdruck der Erkenntnis, dass absolute Objektivität dem einzelnen Historiker unmöglich ist. Anders kann man den Satz [...] gar nicht verstehen.
Ich versichere Dir: Man kann, man hat es getan und wird es weiter tun!

Damit aber nicht der Eindruck entsteht, dass ich mich zanken will (wäre schade ums Thema!), stelle ich diesen Aspekt mal zurück.:winke:

Rankes Position ist nur als Gegenposition zu Hegel richtig zu verstehen.
Danke für den Hinweis! Der Sachverhalt ist mir bekannt, ich hatte ihn nur aus "Sparsamkeitsgründen" nicht vorangestellt; das gleiche gilt auch für Beetlebums Rekurs auf Herder und Kant; auch Humboldt wird in diesem Kontakt häufig erwähnt bzw. neben Ranke gestellt (siehe statt vieler Wiersing, Geschichte des historischen Denkens, 2007, S. 246 ff., 314 ff., zum Historismus insbesondere S. 369 ff.).

... das reine Bemühen um objektive Erkenntnis...
... Die reine Eruierung der Tatsachen
Der Versuchung zum Kalauern nur knapp erliegend ("Dem Reinen ist alles rein"), kann ich mich dem Gemeinten gern anschließen: Zwar ist die Objektivitätsforderung schlechterdings, wie auch Ranke wusste, nicht vollständig erfüllbar, behält aber ihren Wert zumindest als Meßlatte - vorausgesetzt, man kann einigermaßen bestimmen, was "das Objektive" bzw. "die Tatsachen" sind.

-----------------

Exkurs zur Rationalität: Das Problem betrifft bekanntlich alle Arten von Wissenschaft wie auch von "rationalem" Verhalten. Ich nehme mal das Beispiel des in der Organisationstheorie allgemein akzeptierten Konstrukts der "beschränken Rationalität" (bounded rationality) in der Darstellung von Herbert A. Simon (Entscheidungsverhalten in Organisationen, 1981, S. 116):
(1) Rationalität erfordert ein vollständiges Wissen und vollständige Antizipation der Ergebnisse, die sich aus jeder Wahl ergeben. Tatsächlich ist die Kenntnis der Ergebnisse immer bruchstückhaft.
(2) Weil diese Ergebnisse in der Zukunft liegen, muß die Vorstellungskraft die Lücke mangelnder Bewertung schließen. Aber Werte können nur unvollständig antizipiert werden.
(3) Rationalität erfordert eine Auswahl aus allen möglichen Verhaltensalternativen. Im tatsächlichen Verhalten kommen nur sehr wenige all dieser möglichen Alternativen je zu Bewußtsein.
Das Problem liegt, anders ausgedrückt, in den Beschränkungen, die der menschlichen Informationsbeschaffung und -verarbeitung auferlegt sind; Wikipedia usw. ändern hieran grundsätzlich nichts. Der Forschende/Entscheidende muss irgendwann seine Suche abbrechen, um überhaupt zu Potte zu kommen, und er kann nicht sicher sein, bis zu diesem Punkt alles "objektiv Bedeutsame" in sein Portfolio aufgenommen zu haben.

-----------------

Zurück zur historischen Argumentation, zu der ich drei Annahmen von Jürgen Kocka anführe (Angemessenheitskriterien historischer Argumente, in: Objektivität und Parteilichkeit, Hg. Koselleck, Mommsen, Rüsen [= Theorie der Geschichte 1], 1977, S. 469-475 [470 f.]), die sich auf die Beziehung von wissenschaftlichen zu außerwissenschaftlichen Argumentationen beziehen:

  1. Jede historische Aussage oder Argumentation ist hinsichtlich ihres Gegenstandes selektiv, d. h. die Merkmale der Beschreibung, Erklärung und Deutung sind immer nur eine Auswahl, nie eine volle Abbildung der Merkmale der vorgegebenen, zu untersuchenden Gegenstandes. Aufgrund der selektiven Relation zwischen zwischen historischer Argumentation und historischem Gegenstand sind immer mehrere historische Argumentationen hinsichtlich ein und desselben Gegenstandes möglich.
  2. Die meisten komplexen historischen Argumentationen sind in Entstehung und Resultat durch und durch von ihrem, wenn auch häufig indirektem Bezug auf außerwissenschaftliche Gesichtspunkte und Faktoren mitgeprägt, die ihrerseits von der Auffassung abhängig sind, die der Forscher in seinem Referenzsystem von seiner Gegenwart und der Art ihrer wahrscheinlichen und wünschenswerten Fortentwicklung hat. Geschichtswissenschaftliche Aussagen und Argumentationen sind von gesellschaftlichen Dimensionen wie Praxis, Interessen und Werten nicht unabhängig. [...]
  3. Historisches Wissen wird für verschiedene außerwissenschaftliche, politische Zwecke benutzt. Der historische Erkenntniszusammenhang und seine Resultate dominieren das Ziel und den Zweck ihrer Verwendung und Verwertung nicht hinreichend.
Ich lese kwschaefer und Beetlebum (und viele andere in diesem Forum) so, dass sie hiermit grundsätzlich übereinstimmen. Wir könnten dann die Diskussion von einer konsensualen Grundlage aus fortsetzen.
 
Ein praktisches Experiment:

Zwei Autos fahren gegeneinander (ein fingierter Unfall), der Fahrer der den Unfall "verschuldet" steigt kurz aus, der "Unschuldige" fährt darauf hin davon. Der Fahrer steigt wieder ein und fährt auch davon.

Nun wurden Zeugen befragt die diesen Vorgang soeben selbst gesehen haben.

In den meisten Fällen stimmten die Aussagen nicht mit der Wirklichkeit überein. Die Farben der Wägen wurden falsch angegeben, wer ausgestiegen ist wurde falsch angegeben, der Wagentyp wurde falsch angegeben, wer von beiden Schuld hat wurde falsch zugeordnet.

Baute man nun Personen ein die als Scheinzeugen vehement eine definitiv falsche Meinung verbreiteten, schlossen sich andere Zeugen an bis sich eine Mehrheit fand.

Immer wenn sich eine Mehrheit für eine bestimmte Meinung fand schlossen sich die in der Minderheit befindlichen dieser Meinung auch wenn diese falsch war.

Der Wahrheitsgehalt von Augenzeugen ! berichten selbst bei einem so einfachen Beispiel war oft extrem gering. Manchmal stimmte was ausgesagt wurde, manchmal stimmte es nicht im geringsten.

Und dies alles ohne das die Leute sich überhaupt bewusst waren das ihre Aussagen falsch waren, im Gegenteil glaubten sie selbst als Augenzeugen doch eine Objektive Wahrheit zu nennen.

Aus mangel an Wissen habe ich selbst hier im Geschichtsforum schon öfters schlicht und einfach falsche Dinge behauptet die sich dann durchaus trotzdem so durchsetzen konnten (manchmal auch nicht) und sich nun im weiteren so auf anderen Internetseiten oder gar in Wikipedia und anderswo wiederfinden lassen.

Es gibt viele wirkliche Geschichtswissenschaftler die überwiegend abschreiben was schon andere vor ihnen geschrieben haben und so weiter bis man irgendwann bei den Primärquellen ist.

Aber selbst wenn eine Primärquelle aus der Zeit selbst, gar ein Augenzeugenbericht versucht ist noch so objektiv zu berichten, wie glaubwürdig kann überhaupt irgendeine Quelle sein, wenn doch nicht einmal zwei Autos richtig beschrieben werden konnten?

Nun haben wir zusätzlich die Archäologie. Aber ich habe immer wieder und vermehrt festgestellt, daß drei oder mehr Archäologen entsprechend drei oder mehr Meinungen produzieren. Zwar gilt auch hier das man sich der Mehrheit, dem "Mainstream" anpasst, aber viele Dinge die mir Archäologen erzählt haben waren wenn man es mal hinterfragt von ebenso viel Phantasie und Wunschdenken geprägt wie von wirlichen Fakten.

Ist die Geschichts"wissenschaft" eigentilch wirklich eine Wissenschaft??

Genügt sie wirklich Wissenschaftlichen Ansprüchen?

Meiner Ansicht nach in Teilen ja, aber in weiten Teilen nicht. Das was wir wirklich wissen ist meiner Meinung nach sehr sehr viel weniger als das was an Wissen behauptet wird.

Da findet man ein Pfostenloch und sogleich wird ein Schilfdach postuliert weil ja in der Nähe ein Fluss liegt wo es folglich Schilf gab....

War der Fluss aber auch damals überhaupt da? Gab es da damals Schilf? War das Dach so steil und in dieser Form und mit Schilf gedeckt? Wäre nicht auch Rinde denkbar?

Schlußendlich haben wir eigentlich nur ein Pfostenloch...

Ist es wissenschaftlich was uns von den Geschichtswissenschaftlern vorgesetzt wird?

http://www.geschichtsforum.de/f54/wie-forscht-man-wissenschaftlich-16854/index2.html

Genügt das was wir wirklich wissen eigentlich um in vielen Epochen der Menschheitsgeschichte überhaupt so weitgehende Aussagen zu treffen wie sie von Geschichtswissenschaftlern getroffen werden?

http://www.geschichtsforum.de/f7/google-wikipedia-und-der-irrglaube-etwas-zu-wissen-8479/

Wie Vertrauenswürdig sind eigentlich grundsätzlich Primärquellen, noch abgesehen von der Quellenkritik an sich insbesondere in Bezug auf die Frage der menschlichen Wahrnehmung?

Ist die Geschichtswissenschaft wirklich eine Wissenschaft?
 
Ist die Geschichtswissenschaft wirklich eine Wissenschaft?

Ja, ist sie. Weil sie eben nicht nur ein Pfostenloch hat, um das sich dann Geschichten um Schilfdächer ranken, sondern sie mit wissenschaftlichen Methoden, wozu überlieferte Quellen, Artefakte, vergleichende Funde usw., aber auch die Forschungsergebnisse anderer Wissenschaften gehören, sich ein Bild ergibt, daß wie ein Puzzle zwar unvollständig, aber mit jedem Tag ein etwas vollständigeres Bild ergibt.
Und das über die noch nicht eingebauten Puzzlestücke auch mal etwas fabuliert wird, liegt in der Natur der Sache, was aber bei passendem Fund des fehlenden Teils schnell selbst zur Geschichte wird.
 
Sind die Methoden wirklich wissenschaftlich? Ist es Wissenschaftlich von anderen abzuschreiben die wiederum von anderen abgeschrieben haben usw bis dahin das sich schon die ersten geirrt haben?

Ein Beispiel:

Da gibt es in Bezug auf Karthago zwei Wissenschaftler, Huß und Ameling. Beide kommen zu gänzlich verschiedenen Aussagen über Karthago. Persönlich neige ich mehr Ameling zu, warum aber? Welche der beiden "wissenschaftlichen" Aussagen ist nun wahr?

wissenschaftlichen Methoden, wozu überlieferte Quellen, Artefakte, vergleichende Funde usw., aber auch die Forschungsergebnisse anderer Wissenschaften gehören, sich ein Bild ergibt, daß wie ein Puzzle zwar unvollständig, aber mit jedem Tag ein etwas vollständigeres Bild ergibt.

Die Methoden sind zu oft pseudowissenschaftlich. Es wird meiner Ansicht nach zu wenig hinterfragt und zwar nicht im Sinne der Quellenkritik wie sie ja schon betrieben wird sondern allgemein in Bezug auf den Menschen. Die fehlerhafte Wahrnehmung des Menschen im allgemeinen wird zu wenig berücksichtigt, dies gilt sowohl für Quellen als auch für Funde.

Artefakte und vergleichende Funde nun sind in Wahrheit sehr oft viel zu spärlich als das man aufgrund ihrer überhaupt zu ernsthaften Aussagen über eine Epoche kommen kann. Zu viel wird interpretiert wobei diese Interpretation oft mehr über die Zeit und Kultur aussagt in der die Archäologen selbst sozialiert wurden als über die Vergangenheit.

Ergibt sich so überhaupt ein Bild?

Genau das ist Punkt den ich meine, daß wir von dem Puzzle in vielen Fällen so wenig Teile haben (von zusammengesetzt kann noch keine Rede sein), daß in Wahrheit noch gar kein Bild zu sehen ist. Dennoch wird von sehr angesehen "Wissenschaftlern" gerade eben ein Bild propagiert wo doch die Wahrheit ist, daß ein solches noch gar nicht sichtbar ist.

Wir wissen meiner Ansicht sehr viel weniger als von den Geschichtswissenschaftlern behauptet wird.

Zu viel was in der Geschichtserforschung als Wissenschaftliche Erkenntnis verkauft wird, gar als Wahrheit hält eigentlich einer wirklich wissenschaftlichen Überprüfung nicht stand.
 
Sind die Methoden wirklich wissenschaftlich? Ist es Wissenschaftlich von anderen abzuschreiben die wiederum von anderen abgeschrieben haben usw bis dahin das sich schon die ersten geirrt haben?

Ein Beispiel:

Da gibt es in Bezug auf Karthago zwei Wissenschaftler, Huß und Ameling. Beide kommen zu gänzlich verschiedenen Aussagen über Karthago. Persönlich neige ich mehr Ameling zu, warum aber? Welche der beiden "wissenschaftlichen" Aussagen ist nun wahr?

Keine Ahnung. Aber nur, weil zwei Wissenschaftler zu zwei sehr unterschiedlichen Meinungen kommen, kann man ihnen nicht absprechen wissenschaftlich zu arbeiten. Gerade in Bezug auf so frühe Zeiten ist angesichts der Quellenlage so viel unsicher und unbekannt, dass es keine große Überraschung ist, wenn man zu sehr unterschiedlichen Ergebnissen kommt.

Wenn du wissenschaftlich im Sinne von exakter Wissenschaft wie in der Naturwissenschaft definierst, dann ist Geschichtswissenschaft natürlich keine Wissenschaft, weil sie eben nicht exakt ist, nicht exakt wie Naturwissenschaft sein kann.
Die Methoden sind zu oft pseudowissenschaftlich. Es wird meiner Ansicht nach zu wenig hinterfragt und zwar nicht im Sinne der Quellenkritik wie sie ja schon betrieben wird sondern allgemein in Bezug auf den Menschen. Die fehlerhafte Wahrnehmung des Menschen im allgemeinen wird zu wenig berücksichtigt, dies gilt sowohl für Quellen als auch für Funde.

Dann liest du die falschen Bücher. Es ist den Geschichtswissenschaftlern durchaus bewußt, dass Wahrnehmung des Menschen ein Problem darstellt. Ein Bemühen der Geschichtswissenschaft ist ja, trotz dieses Problems zu Erkenntnissen kommen zu können.
Artefakte und vergleichende Funde nun sind in Wahrheit sehr oft viel zu spärlich als das man aufgrund ihrer überhaupt zu ernsthaften Aussagen über eine Epoche kommen kann. Zu viel wird interpretiert wobei diese Interpretation oft mehr über die Zeit und Kultur aussagt in der die Archäologen selbst sozialiert wurden als über die Vergangenheit.

Manchmal ja, aber so pauschal ist das sicher auch wieder falsch.
Ergibt sich so überhaupt ein Bild?

Klar.
Genau das ist Punkt den ich meine, daß wir von dem Puzzle in vielen Fällen so wenig Teile haben (von zusammengesetzt kann noch keine Rede sein), daß in Wahrheit noch gar kein Bild zu sehen ist. Dennoch wird von sehr angesehen "Wissenschaftlern" gerade eben ein Bild propagiert wo doch die Wahrheit ist, daß ein solches noch gar nicht sichtbar ist.

Wir wissen meiner Ansicht sehr viel weniger als von den Geschichtswissenschaftlern behauptet wird.

Wir wissen verdamt viel, nur wissen wir auch, dass bei sehr vielem immer auch ein Fragezeichen mit dabei ist, eine gewisse Unsicherheit vorhanden ist. Wenn überhaupt, dann kann man der Geschichtswissenschaft vorwerfen, dass sie dieses Fragezeichen nicht immer so deutlich ausspricht. Aber es ist durchaus vorhanden, und man weiß auch, dass es vorhanden ist.

Zu viel was in der Geschichtserforschung als Wissenschaftliche Erkenntnis verkauft wird, gar als Wahrheit hält eigentlich einer wirklich wissenschaftlichen Überprüfung nicht stand.

Was ist eine wirkliche wissenschaftliche Überprüfung?
 
Sind die Methoden wirklich wissenschaftlich? Ist es Wissenschaftlich von anderen abzuschreiben die wiederum von anderen abgeschrieben haben usw bis dahin das sich schon die ersten geirrt haben?

Ein Beispiel:

Da gibt es in Bezug auf Karthago zwei Wissenschaftler, Huß und Ameling. Beide kommen zu gänzlich verschiedenen Aussagen über Karthago. Persönlich neige ich mehr Ameling zu, warum aber? Welche der beiden "wissenschaftlichen" Aussagen ist nun wahr?

Da sind wir wieder bei dem Puzzle und seinen noch nicht eingepaßten Teilen in das Gesamtbild. Natürlich diskutiert man verschiedene Ansichten über das, was noch nicht zu 100% geklärt ist. Ist doch ein normaler Vorgang, der am sichtbarsten in der Astronomie, aber auch in anderen Wissenschaften ist.

Kann es sein, daß du unmögich vorhandenes Wissen von Wissenschaftlern verlangst, daß es erst in mühevoller Kleinarbeit geben kann? Wenn überhaupt. Und das, umso mehr Puzzleteile verlorengegangen sind, umso früher man in der Menschheitsgeschichte vorrückt.
 
Die von Quintus Fabius aufgeworfenen Fragen erinnern mich an Delbrück. Ich habe jüngst seine Darstellung zu verschiedenen Schlachten gelesen, die sich im Früh- und Hochmittelalter abspielten. Dabei zeichnete er deutlich nach, dass es diese oder jene Vorstellungen in der Vergangenheit gab und stellt diese auch nebeneinander dar. Dann konstruierte er daraus bsw. die Lokalisierung der Schlacht, die ihm am plausibelsten erschien. Das Ergebnis stellte er aber eher selten als einzig denkbare Lösung dar.

Auch gab er bisweilen zu, wenn sich die Primärquellen allzu oft gegenseitig widersprachen, dass man über den Verlauf von dieser oder jener Schlacht kaum bis garnichts sagen könne, da dafür die Quellenlage nicht genüge.

Auch wenn Delbrücks Werk zur Kriegsgeschichte recht alt ist, schenkt es doch dem Leser oft eher klaren Wein ein, als andere, die meinen ganz präzise die Abläufe von diesen oder jenen Ereignissen zu kennen, wobei diese weniger guten Darstellungen nur auf einer einzigen Primärquelle beruhen können.


Ich würde durchaus sagen, dass die Geschichtswissenschaft eine Wissenschaft ist. Dass die Naturwissenschaften eher Wissenschaften sind, empfinde ich eher als durch subjektives Empfinden geprägt. Macht denn die Möglichkeit, dass die Geschichtswissenschaft nicht wahrheitsgetreu die Geschichte wiedergeben kann dazu, dass man sie als unwissenschaftlich abtun muss? Ich denke nämlich, darin ähnelt sie doch den Naturwissenschaften durchaus! Wie oft haben sich naturwissenschaftliche Erkenntnisse nicht als fehlerhaft oder gar falsch heraus gestellt? Auch bei den Naturwissenschaften wird doch zu einem Teil von Annahmen ausgegangen.
 
Quintus Fabius stellt die Frage, ob Geschichtswissenschaft wissenschaftlichen Ansprüchen genügen würde. Dann möchte ich gern wissen, was genau denn wissenschaftliche Ansprüche sind?

Die Geschichtswissenschaft ist meiner Meinung nach eine Wissenschaft; der Historiker arbeitet mit wissenschaftlichen Methoden und erstellt ein Geschichtsbild, das kritisch, nachprüfbar und auf Quellen, die kritisch analysiert werden, basiert.
Ich verstehe das Problem, wenn Quintus Fabius darauf hinweist, dass eine Reihe von Abschreibern entsteht, die am Ende doch nicht überprüfbar sind.
Deshalb aber arbeiten wir schließlich mit Quellen und geben diese an. Sicherlich ist es fragwürdig sich auf einen Historiker von Anno 1910 zu beziehen und seine Aussagen unkritisch zu übernehmen. Die Anforderungen der Geschichtswissenschaft haben sich gewandelt und gerade wegen dem angesprochenem Problem gibt es Forschungen, die die Geschichtswissenschaft und ihre Methoden selbst untersuchen.
In der Mediävistik bin ich auf eine Forschungsdiskussion gestoßen, deren erstes Ergebnis zu sein scheint: Man kann (fast) keine Ergebnisse zum untersuchten Gegenstand aus der Forschung bis zum Jahre 1990 beziehen, da sie und die Methoden ihrer Erarbeitung nicht den heutigen kritischen Ansprüchen der Wissenschaft entsprechen. Also back to the Quellen. ;) Das wir diesen auch nicht blind glauben dürfen ist klar.
Immer mehr wird auch über die Relativität von historischen Ergebnissen und Geschichtsbildern diskutiert.
Da der Thread ja die Objektivität anspricht, kann ich noch darauf verweisen, dass man zum Beispiel im Studium darüber diskutiert und festhält, dass der Historiker möglichst objektiv arbeiten soll. Völlig objektiv kann der Historiker meiner Meinung nach aber nicht arbeiten, da er immer das Kind seiner Zeit und somit auch immer zu einem gewissen Grade in den Denkmustern gefangen bleibt. Damit dies aber eine immer geringere Rolle spielt, legt man sehr viel Wert auf die Methoden und rückt die Geschichtswissenschaft und ihre Methoden selbst in den Mittelpunkt von Diskussionen, so dass jene transparenter, nachvollziehbarer und überprüfbar werden.

In einer Seminararbeit, für die nur populärwissenschaftliche Diskussionsbeiträge aufzufinden waren und für die ich nur wenige Quellen zur Hand hatte, wurde gerade das methodische Problem bei der Erarbeitung meiner Fragestellung in den Mittelpunkt gerückt.

Vielleicht sollte man klären, was der Historiker untersucht und welchen Zweck dies erfüllt.
Hans-Werner Goetz folgend sage ich, dass der vom Historiker untersuchte Gegenstand der "Mensch[] in der Zeit"1 ist. Es geht darum Geschichte (Vergangenheit), aber auch Geschichtsbilder (zum Beispiel gegenwärtige Geschichtsbilder) zu erforschen.
Die Ergebnisse sollen an die Gesellschaft, an die Öffentlichkeit getragen werden, zur Formung eines zwar konstruierten Geschichtsbildes, das jedoch wissenschaftlich erarbeitet wurde.
Der Historiker soll das gegenwärtige Geschichtsbild der Öffentlichkeit kontrollieren und ggf. versuchen es auf den richtigen Kurs zu bringen. (Plattes Beispiel: Hexenverbrennungen = Mittelalter)
Das Geschichtsbild, das man hat, ist bewusstseinsstiftend und teil unserer Identität.2

Die Geschichtswissenschaft selbst macht die Vergangenheit in vielen ihrer Facetten fassbar und macht somit auch die Gegenwart verstehbar. Entweder man untersucht die Entwicklung der Geschichte (von damals bis heute) oder man lernt die Gegenwart besser verstehen, indem man sie von der Vergangenheit abgrenzt.3
Das ist auch ein sehr wichtiger Bestandteil der Geschichtsforschung: Dadurch, dass wir erkennen müssen, dass man in der Vergangenheit anders gelebt, gedacht oder gar gefühlt hat, müssen wir unser eigenes Bewusstsein von der Gegenwart hinterfragen.


1 Goetz, Hans-Werner: Proseminar Geschichte: Mittelalter, Stuttgart 20063, S. 24.

2 Vgl. ebd, S. 20-27.

3 Vgl. ebd, S. 27 f.


Das Kapitel 1 dieses Buches ist empfehlenswert, wenn man sich zur Geschichtstheorie und Geschichtswissenschaft informieren möchte.
 
Zuletzt bearbeitet:
Das ist auch ein sehr wichtiger Bestandteil der Geschichtsforschung: Dadurch, dass wir erkennen müssen, dass man in der Vergangenheit anders gelebt, gedacht oder gar gefühlt hat, müssen wir unser eigenes Bewusstsein von der Gegenwart hinterfragen.
Eben das klingt wiederum, als sei die Geschichtswissenschaft stark mit der Philosophie verknüpft und in der Tat finden wir in der Geschichte der Geschichtswissenschaft viele Historiker, die zugleich Philosophen waren.
Nicht umsonst heißt es aber auch bei Wikipedia:
Dr. phil. (philosophiae): Doktor der Philosophie. Umfasst die ganze Breite der alten Philosophischen Fakultäten, insbesondere alle Philologien, aber auch Soziologie, Politikwissenschaft, Geschichte, Psychologie, Pädagogik, zuweilen auch noch Mathematik, Natur- und Wirtschaftswissenschaften
(aus: http://de.wikipedia.org/wiki/Doktor )
Wissenschaft und Philosophie schließen sich demnach offensichtlich nicht aus. Ich denke, das ist ein springender Punkt hier in der Diskussion.

Philosophie hingegen hat allerdings einen Geruch von Subjektivität. Das hieße allerdings möglicherweise, dass nichteinmal Subejktivität und Wissenschaftlichkeit einander ausschließen müssten.
 
Zuletzt bearbeitet:
Das ist ein schwieriges Thema. Zwischen den Naturwissenschaften und Geschichtswissenschaften besteht aber ein großer Unterschied bzw. die Beweislage ist unterschiedlich.

In der Naturwissenschaft existieren bestimmte Gesetzmässigekeiten, die eindeutig sind und nicht so oder anders interpretiert werden können. Medizinische und biologische Studien bringen ein-eindeutige Ergebnisse, die man nur dann subjektiv interpretieren kann, wenn man die Auswertungen bzw. Dokumentationen zuvor fälscht, sprich manipuliert.

Die Geschichtswissenschaft stützt sich zwar auch auf Belege, aber sind diese immer und in jedem Fall eindeutig? Geben Protokolle, auch Gerichtsprotokolle, immer die vollständige Wahrheit wieder? Oder zeigen sie nicht Auszüge von Gesprochenem, die nur das Erwünschte widergeben, also vielleicht auch manipuliert wurden?

Wenn jemand schrieb, ein Schiff wäre 120m lang gewesen, darf ich dann davon ausgehen, dass das ausgemessen war, oder handelte es sich etwa nur um Hörensagen?

Selbst Briefe geben ja nur die Ansicht des Schreibers wieder, und es ist nicht ausgeschlossen, dass ein und derselbe Briefschreiber die Tatsachen bzw. eine erlebte Geschichte verändert, je nachdem Wer der Empfänger ist und was die Wiedergabe bewirken soll.

Ein König der als despotisch beschrieben wird, wollte seine Wünsche auf Teufel komm raus durchsetzen, klar, aber wissen wir welche Zweifel ihn plagten, ob er leichtfertig Köpfe rollen liess? War ein "netter und guter" König in den Augen seiner Zeitzeugen und auch macher Historiker nicht eher einer, der sich von den Beratern beeinflussen liess? Der Unterschied zu einem "schwachen" König war wohl nur, dass der Schwache den falschen Beratern zuhörte und folgte.

Eigentlich hatte doch jeder Fürst seine "Leichen im Keller" und was man sich bei der Betrachtung fragen sollte ist, hätte Er anders handeln können, und wie hätte man selbst in der gleichen Situation gehandelt. Wäre man wirklich ein "besserer" Mensch, Fürst oder König gewesen?
 
Zuletzt bearbeitet:
Aber gerade diese Fragen zu beantworten ist ja der Sinn der Geschichtswissenschaft, weshalb man diese Probleme mit wissenschaftlicher Methodik zu erforschen trachtet. ;)
 
Deshalb ist man in der Wissenschaft auch vom Postulat "alles so wiederzugeben, wie es wirklich war" abgerückt. Es geht heutzutage viel mehr darum Zusammenhänge, Strukturen und langfristige Entwicklungen zu analysieren. Mithilfe außerdisziplinärer Theorien und Forschungsergebnisse kann man das Interpretieren der Quellen stützen.
Ich halte es da mit Braudel: "Geschichte ist die Befragung der Vergangenheit im Lichte der Gegenwart." (Geschichte des Mittelmeerraums) Natürlich muss man um brauchbare Ergebnisse zu erzielen möglichst sauber arbeiten und sich immer bewusst sein, dass alles Forschungsergebnisse angezweifelt werden können. Jede Aussage einer Quelle auf die Goldwaage zu legen ist aber tatsächlich sinnlos.
 
Deshalb ist man in der Wissenschaft auch vom Postulat "alles so wiederzugeben, wie es wirklich war" abgerückt. Es geht heutzutage viel mehr darum Zusammenhänge, Strukturen und langfristige Entwicklungen zu analysieren. Mithilfe außerdisziplinärer Theorien und Forschungsergebnisse kann man das Interpretieren der Quellen stützen.
Dann habe ich ja die Geschichtswissenschaft doch richtig verstanden (inhaltlich begriffen).:O
 
Ein König der als despotisch beschrieben wird, wollte seine Wünsche auf Teufel komm raus durchsetzen, klar, aber wissen wir welche Zweifel ihn plagten, ob er leichtfertig Köpfe rollen liess? War ein "netter und guter" König in den Augen seiner Zeitzeugen und auch macher Historiker nicht eher einer, der sich von den Beratern beeinflussen liess? Der Unterschied zu einem "schwachen" König war wohl nur, dass der Schwache den falschen Beratern zuhörte und folgte.

Eigentlich hatte doch jeder Fürst seine "Leichen im Keller" und was man sich bei der Betrachtung fragen sollte ist, hätte Er anders handeln können, und wie hätte man selbst in der gleichen Situation gehandelt. Wäre man wirklich ein "besserer" Mensch, Fürst oder König gewesen?
Eben das kann nicht das Ziel der Geschichtswissenschaft sein. Das "Hineinversetzen" in die "großen Männer" war lange die Standartmethode. Allerdings bewegt man sich dabei immer im spekulativem Rahmen. Stattdessen schaut man sich viel mehr Rahmenbedingungen an und die letztendlichen Ergebnisse an, anstatt die Motivation. Sodass man von den Rahmenbedingungen auf das Verhalten schließen und gegebenenfalls überprüfen kann, indem man das Verhalten verschiedener Individuen in ähnlichen Rahmen vergleicht. Dem liegt die Prämisse zugrunde dass es die Umwelteinflüsse sind, die das menschliche Verhalten maßgeblich beeinflußen. Hier allerdings greift man dann zu außerdisziplinären Forschungsergebnissen.
In der Wirtschaftsgeschichte ist es (manchmal) z.B. so, das Datenlücken überbrückt werden bzw. die Quellen interpretiert werden, indem man sich der Soziobiologie bedient. Und so einen theoretischen Rahmen erarbeitet.
 
Zurück
Oben