Zur Geschichte des Rätoromanischen, kopiert aus dem historsichen Lexikon der Schweiz
Die Eroberung der alpinen Gebiete, die später die röm. Provinz Raetia bildeten, durch Drusus und Tiberius 15 v.Chr. kann als Anfangspunkt der Geschichte des R.en gelten. Obschon wir über die Zeit und die Modalitäten der Romanisierung Rätiens wenig wissen, war mit der Eingliederung der Alpen ins Röm. Reich die Voraussetzung für die spätere sprachl. Entwicklung gegeben. Über die Sprachverhältnisse, die die Römer im Alpenraum vorfanden, ist wenig bekannt. Wahrscheinlich gehörten die indoeurop. Kelten und wohl nicht-indoeurop. Räter zu den wichtigsten dort angesiedelten Völkern. Die Spuren dieser vorröm. Sprachen lassen sich im späteren R. fast ausschliesslich in der Toponomastik (die meisten Dorfnamen sind vorröm.) und im Wortschatz der alpinen Lebenswelt (Gelände, Fauna und Flora, Alpwirtschaft) erkennen.
Das R.e basiert im Wesentlichen auf dem Latein, das die einheim. Bevölkerung allmählich von den in Rätien tätigen Römern (Soldaten, Beamten), evtl. auch von romanisierten Kelten, die im 4. und 5. Jh. vor den Germanen in die rät. Berge flüchteten, übernahm. Sowohl unter der röm. Herrschaft (bis zum Untergang Westroms 476) und einer kurzen Phase unter den Ostgoten (bis 536/537) als auch unter der darauffolgenden Herrschaft der merowing. Franken genoss Rätien eine weitgehende polit. Selbstbestimmung, die der Entwicklung der einheim. Sprache förderlich war. Auch die Christianisierung, die mit der Eingliederung Rätiens in das Röm. Reich begonnen hatte (ein Bf. von Chur, Asinio, ist erstmals 451 bezeugt), trug zur Herausbildung des R.en bei.
Nach Abschluss der Romanisierung ging das lat. Sprachgebiet im Alpenraum weit über das Gebiet des heutigen Bündnerromanischen hinaus. Es umfasste ausser den heute rätorom. Gebieten Chur und Umgebung, die Bündner Herrschaft von Chur rheinabwärts bis zur Kantonsgrenze, den Walensee, das Glarner- und Sarganserland, das St. Galler Rheintal bis zum Bodensee, ferner Liechtenstein, Vorarlberg, Teile Bayerns und Tirols und den Vinschgau, der bis zum 16. Jh. die Brücke zwischen Bünderromanisch und Dolomitenladinisch bildete.
Karl der Grosse beendete um 800 die Periode der weitgehenden Selbstständigkeit Churrätiens, in der geistl. und weltl. Macht oft in einer Fam. oder sogar in einer Person (in der Dynastie der einheim. Zacconen/Viktoriden) vereinigt gewesen war, indem er mit der Grafschaftsverfassung von 806 die beiden Bereiche voneinander trennte. Diese Neuerung war folgenschwer für das Schicksal des R.en: Der Graf war von da an ein Deutschsprachiger, und mit ihm kamen Gefolgsleute ins Land, die ebenfalls Deutsch sprachen. Die "Wende nach Norden" wurde noch verstärkt durch weitere Reorganisationen in der Mitte des 9. Jh. Im Vertrag von Verdun 843 wurde Rätien dem ostfränk. Reich Ludwigs des Deutschen zugeteilt. Gleichzeitig wurde das Bistum Chur von der Kirchenprovinz Mailand abgelöst und in die Kirchenprovinz Mainz eingegliedert. Von da an sassen fast ausschliesslich Deutschsprachige auf dem Churer Bischofsstuhl. Diese Vorgänge sind mindestens teilweise dafür verantwortlich, dass sich im rätischen MA kein kulturelles Zentrum rätorom. Prägung bilden konnte. Chur, das für diese Rolle prädestiniert gewesen wäre, war in seiner Oberschicht weitgehend germanisiert, obschon R. bis zum Stadtbrand von 1464 die allg. Umgangssprache war.
Neben dieser Germanisierung von innen wirkte schon ab der Spätantike eine Germanisierungswelle von aussen auf das rätorom. Territorium: Vom ausgehenden 5. Jh. an rückten die Alemannen stetig das Rheintal aufwärts vor. Die Ortsnamenforschung zeigt im Gebiet nördlich von Chur eine lange Phase der Zweisprachigkeit, die erst im 12. Jh. mit dem Sprachwechsel zum Deutschen endete. Ein weiterer Germanisierungsschub ging von den Walsern aus, die ab dem Ende des 13. Jh. auf Einladung einheim. Feudalherren in Graubünden siedelten. Zwischen dem 14. und dem 16. Jh. wurden Davos, das Schanfigg und das Prättigau germanisiert.
Im 15. Jh. herrschte auf der Ebene der Mündlichkeit im grössten Teil der Drei Bünde (mit Ausnahme des Rheintals nördlich von Chur, der Hauptstadt Chur und den Walsergebieten) R. vor. Im schriftl. Gebrauch löste jedoch Deutsch das Lateinische als Amts- und Verwaltungssprache ab. Im Oberengadin und in den italienischsprachigen Südtälern blieb die Notariatssprache bis in die Neuzeit hinein lateinisch.
In den ersten zwei Jahrzehnten des 16. Jh. werden die Anfänge einer rätorom. Schrifttradition fassbar: mit dem "Stattüt e trastütt da queus d'Engadinna d'suott", einem Strafgesetz für das Unterengadin von 1519 (nach einer nicht mehr auffindbaren Vorlage von 1508), und dem Vertrag "Contrat da l'an 1519" zwischen Ks. Maximilian, dem Gf. von Tirol und dem Churer Bf. Paul Ziegler. Zuerst im Engadin, später in der Sutselva und der Surselva entstand im Zusammenhang mit der Reformation und der Kath. Reform im 16. und 17. Jh. ein beachtl. Schrifttum in einheim. Sprache (Rätoromanische Literatur). Dass diese Tradition von Anfang an in Oberengadinisch, Unterengadinisch, Sutselvisch und Surselvisch gespalten ist, hängt einerseits mit den konfessionellen Gegensätzen zusammen, andererseits mit dem Fehlen eines Zentrums im rätorom. Raum, was auch die Spärlichkeit von rätorom. Schriftzeugnissen aus dem MA erklärt.
Obschon im Freistaat der Drei Bünde ab 1794 und dann ab 1803 im Kt. Graubünden offiziell das Prinzip der Dreisprachigkeit galt, verlor R. als Schriftsprache zusehends an Prestige. Im mündl. Gebrauch setzte im 19. Jh. mit Tourismus und Industrialisierung der bis heute andauernde Schwund des R.en ein. Im Gegenzug begannen Intellektuelle und Schriftsteller, die Rätoromanen für die Gefährdung ihrer Sprache zu sensibilisieren. In den 1830er und 40er Jahren erschienen die ersten rätorom. Schulbücher. Im ausgehenden 19. und zu Beginn des 20. Jh. wurden versch. Sprach- und Kulturvereine gegründet, die sich der Pflege des R.en widmen: 1885 die Societad Retorumantscha, welche die Annalas und den Dicziunari Rumantsch Grischun herausgibt, und 1919 die Lia Rumantscha als Dachorganisation aller rätorom. Regionalverbände.
3 - Dialekte und Schriftsprachen zu Beginn des 21. Jahrhunderts
Das Bündnerromanische zerfällt in fünf Dialektgebiete, die jeweils eine eigene Schriftsprache besitzen, welche die oft stark divergierenden Ortsdialekte überdacht. Diese fünf Einheiten werden geläufig als Idiome bezeichnet. Von Westen nach Osten sind dies: das Surselvische (sursilvan) im Vorderrheintal und Lugnez, das Sutselvische (sutsilvan) in Teilen des Einzugsgebiets des Hinterrheins (Schams, Domleschg), das Surmeirische (surmiran) im Albulatal (Sutsés) und Oberhalbstein (Sursés), das Oberengadinische (puter) und das Unterengadinische (vallader, einschliesslich Münstertal).
Die linguist. Unterschiede zwischen den Dialektgebieten auf lautl., grammatikal. und lexikal. Ebene sind beträchtlich. Eine Verständigung zwischen einem Münstertaler und einem Surselver ist nicht unmittelbar gegeben. Dialektologisch besteht im Gesamtgebiet ein differenziertes Kontinuum, in dem benachbarte, zum Teil aber auch getrennte Teilgebiete durch gemeinsame Züge verbunden sind. Das Surselvische, das oft sprachgeschichtlich ältere Zustände bewahrt, ist andererseits besonders stark vom Deutschen beeinflusst. Das Engadin (zum Teil auch das Surmeir) weist eine stärkere Prägung durch die ital. Nachbarschaft auf.
Die 1982 vom Zürcher Romanisten Heinrich Schmid konzipierte einheitl. Schriftsprache Rumantsch Grischun (RG), die seither kontinuierlich ausgebaut wird, dient Bund und Kt. Graubünden seit 1997 als offizielle Sprache in der Kommunikation mit den Rätoromanen. Sie versteht sich als eine Kompromisssprache, die auf dem grössten gemeinsamen Nenner zwischen den drei wichtigsten Schriftidiomen Surselvisch, Surmeirisch und Engadinisch beruht, ohne indes die kleineren Idiome (puter und sutsilvan) ausser Acht zu lassen. Angestrebt wurde Vereinfachung und Verständlichkeit von allen Einzelidiomen her. Zudem sollte jede Region möglichst wenig von ihren Eigenheiten opfern müssen. Diese Prinzipien führten zur Eliminierung aller dialektal auffälligen Züge, so z.B. der für das Engadinische charakterist. Laute ü und ö (engadin. ün - RG wie surselv. in für "ein"; engadin. ögl - RG wie surselv. egl für "Auge") oder der im Surselvischen geltenden Alternanzen vom Typus iev/ovs (RG ov/ovs für "Ei/Eier"). In der Orthografie wurde versucht, möglichst viel vom vertrauten Schriftbild zu bewahren. Daher die Kompromissregelung: ch (Schreibung des Engadins) am Wortanfang, tg (Schreibung der Surselva und Mittelbündens) im Wortinnern und im Auslaut (chaval für "Pferd", spetgar für "warten", notg für "Nacht").
Im Sommer 2003 beschloss der Gr. Rat des Kt. Graubünden, rätorom. Lehrmittel ab 2005 nur noch auf Rumantsch Grischun herauszugeben. Damit war der Kurs vorgegeben, die neue Standardsprache als einzige Schriftsprache in den Schulen einzuführen, was heftige Reaktionen auslöste. Drei Gruppen von Gem. (im Münstertal, in Mittelbünden und in der unteren und mittleren Surselva) führten im Spätsommer 2007 Rumantsch Grischun als Schulsprache ein.
Quelle:
Rätoromanisch, 1 - Verbreitung